Neapel und die Camorra


Alessio war 16 Jahre alt, als Carmine Sarno ihn entdeckte, damals sang der Junge „Vola cardillo“, die Hymne der Camorra- Häftlinge an die Freiheit.

Heute ist Alessio Sarnos Star. Zehntausende feiern ihn bei seinen Konzerten – aber er darf sich auch nicht zu schade sein, auf Familienfeiern und in Diskotheken aufzutreten. 40 Minuten Alessio kosten 1500 Euro, manchmal schafft er fünf Auftritte in einer Nacht.

Man habe ihm für den Sänger eine Ablösesumme von 700 000 Euro geboten – die er jedoch abgelehnt habe, sagt Sarno: „Alessio wurde durch mich geboren, und er wird mit mir sterben.“ An diesem Abend fährt der Agent in seinem silbernen Mercedes der Truppe voraus, Alessio folgt im Lieferwagen.

Vorher hat Carmine die heilige Muttergottes an Musiker und Techniker verteilt:
Schlüsselanhänger, die seine Frau aus Lourdes mitgebracht hat.

Sarno rast mit 200 Stundenkilometern durch die Nacht und ist zu Geständnissen aufgelegt. Darüber, dass er früher ein Spieler gewesen sei, aber diese Sucht überwunden habe. Dass er neben seinen vier ehelichen Kindern noch zwei uneheliche habe. Dass es im Clan nur einen Abtrünnigen gegeben habe – einen Ruchlosen, der jedoch kein Blutsverwandter sei.

Und dass sein Bruder Ciro im Gefängnis fünf Diplome erlangt habe und jetzt die Geschichte seines Lebens aufschreibe:

„Wenn du ihn siehst, hältst du ihn für einen Professor.“ In dieser Nacht hat Alessio seinen ersten Auftritt als Stargast auf der Kommunionfeier von Anna Chiara; die Kinder haben sich schon in einen Cola- Rausch getrunken, als der Sänger den Saal betritt. Er ist 23 Jahre alt, trägt eine Rolex und eine auf antik getrimmte Lederjacke und sagt: „Meine Lieder kommen aus meinem Herzen.“ Das Kommunionkind Anna Chiara wiegt schätzungsweise 80 Kilo und weint beim Anblick des Stars in die Serviette. Als er zu singen beginnt, kreischen im Saal alle Frauen zwischen acht und 80, als sei ihnen der Messias erschienen. Die Mutter des Kommunionkindes schreit: „Nimm ihn, nimm ihn!“, bis die Tochter Alessio endlich mit ihren kurzen, dicken Armen umfasst und ihn errötend auf die Wangen küsst. Am Ende des Konzerts applaudiert auch Carmine, der Höflichkeit halber.

Es ist bereits Mitternacht, als ein Sicherheitsmann vor der Bingohalle von Teverola Sperrgitter für den nächsten Auftritt aufstellt. Der Mann hat getuschte Wimpern und Oberarme wie Eichenstämme und antwortet nicht, wenn die Mädchen ihn fragen, ob Alessio schon da sei. Die riesige Halle ist bis auf den letzten Platz besetzt. Dicke Frauen, deren Leiber weichen Gebirgen gleich über die Sessel quellen, rauchen Kette und flüstern mit den Geldverleihern, die wie streunende Hunde zwischen den Tischen der Spieler umherlaufen.

Bingohallen sind Geldwaschanlagen der Camorra, was Sarno aber nie so sagen würde, im Gegenteil, er bemitleidet die Leute hier, schließlich war er ja selbst einmal ein Spieler, und viele von denen, die hier etwas gewinnen, werden nach dem Verlassen der Bingohalle ausgeraubt.

Dann kommt Alessio, und ein Orkan fegt durch die Reihen, eine Welle aus weinenden Mädchen presst sich gegen die Absperrgitter, und der Sicherheitsmann mit den getuschten Wimpern hat alle Mühe, sich nicht niederdrücken zu lassen.

„Sei bellissimo“, schreien die Mädchen, du bist wunderschön, und Carmine blickt auf die Uhr.

Zuletzt wird in Ponticelli, zu Ehren des verunglückten Jungen Francesco Paolillo, der Sportplatz eingeweiht. Es ist der Morgen nach dem Konzert, Carmine Sarno schläft noch. Man hat den Sportplatz mit grünem Kunstrasen ausgelegt und mit hohen Gittern umzäunt.

In diesem Käfig hält die Schwester des toten Kindes eine Rede. „Francesco, wir werden dich nie vergessen“, sagt sie, ihre Mutter beißt in ihr Taschentuch.

Ein einziger Lokalpolitiker hat sich hierher verirrt. Er schafft es, in seiner Rede kein einziges Mal das Wort Camorra zu benutzen; er hat keine Nachricht von Kampaniens Regionalpräsidenten und überbringt kein Wort von Neapels Bürgermeisterin.

Alessandro, das blonde, arbeitslose Kind, blickt teilnahmslos auf die Straße.

Dann wendet er sich ab und sagt: „Sie sind wieder nicht gekommen. Sie werden nie kommen.“

Es kann so friedlich aussehen in Neapel . . . Rituale bedeuten den Neapolitanern viel, und keines ist ihnen so wichtig wie die Hochzeit.

Professionelle Kameraleute und Fotografen setzen solche Feste in Szene.

Im Sommer haben sie manchmal drei Hochzeiten am Tag zu absolvieren.

Illegales Vergnügen: Von nachmittags um drei bis abends um acht Uhr verwandelt sich diese Küche in der Altstadt in einen Spielclub für die Frauen des Viertels.

Fünf bis zehn Euro pro Runde gibt jede von ihnen der Gastgeberin – für diese das einzige Einkommen.

Neapolitanische Spezialitäten:
Pansen, Schweinsfüße, Würste. Ob kleine Metzgereien oder Luxusboutiquen – fast immer verdient die Camorra mit: Rund 80 Prozent der Ladenbesitzer in Neapel zahlen Schutzgeld an die Herren der Stadt

Gedenken: Geliebte Mutter! Geliebter Neffe! Carmine Sarno, Musikmanager aus einer Camorra- Familie, trägt die Porträts der beiden Toten stets bei sich. Die Sarnos liegen im Clinch mit den Panicos. Carmines Neffe wurde Opfer dieses Bandenkrieges

Das Gesetz des Verschweigens: Beim Wort »Camorra« gefrieren die Mienen der Signori im exklusiven Jachtclub »Circolo Italia«.

Schließlich bemerkt einer genervt: »Ach, wissen Sie, das ist ein Problem der Peripherie, die Neapel überrennt«

Sozialhilfe: »Bassi« heißen diese Erdgeschossbehausungen. Jeder dritte Neapolitaner hat keine reguläre Arbeit. Die Clans helfen vielen mit kleinen Jobs weiter – sodass sogar Politiker bisweilen die Camorra als »sozialen Stoßdämpfer« rechtfertigen

Der Halbgott: Lange ist es her, dass Diego Maradona den SSC Neapel zur italienischen Meisterschaft schoss – 1987 und 1990. Dennoch ist der Argentinier unvergessen: Die Neapolitaner ehren ihn mit Graffiti und sogar mit Altären

Das Prinzip Selbstorganisation:

Einst ein Kloster, dann ein Frauengefängnis, wird dieses Mietshaus in der Via Santa Maria ad Agnona inzwischen von 42 Familien bewohnt. Für das Parken im Innenhof gilt: Wer morgens als Erster aufbrechen will, muss sein Auto als Letzter abstellen

Stadt des Todes: Durchschnittlich alle drei Tage geschieht in Neapel ein Mord, häufig bei Bandenkriegen. Allein 50 Menschen wurden brutal hingerichtet, als Nachwuchskräfte des Di-Lauro-Clans im Jahr 2004 eine Rebellion gegen ihren Boss begannen

Schönheitspflege: Dieser Frisör betreibt über seinem Laden ein kleines Solarium, in dem auch er selbst sich zuweilen bestrahlen lässt. Ein gebräunter Teint gehört zum angestrebten Erscheinungsbild des neapolitanischen Machos

Machtbasis: Die Sarnos beherrschen den Osten Neapels, vor allem den Stadtteil Ponticelli. Kein Lufthauch rührt sich hier ohne ihre Zustimmung, Wächter melden jeden Verdächtigen. Zahlreiche Bauruinen erinnern an ebenso viele Bauskandale

Der Chef: Carmine Sarno überwacht ein Konzert von Alessio, seinem erfolgreichsten Schützling. 700 000 Euro Ablösesumme habe man ihm für den Sänger geboten. Sarno lehnte ab: »Alessio wurde durch mich geboren, und er wird mit mir sterben«

Luxuskulisse: Wie für einen Filmset gebaut wirkt das »Grand Hotel La Sonrisa« bei Pompeji, eine Villenanlage im Stil des venezianischen Barock. Hier, fern vom Smog und Müll der Stadt, feiern die wohlhabenden Neapolitaner ihre Familienfeste

Erbe der Monarchie: Am liebsten heiraten Paare in der Basilika San Francesco di Paola. Vorbild für die Kirche war das Pantheon in Rom – König Ferdinand IV. sah jedoch darauf, dass die Kuppel das Original an Höhe übertraf

Stolz: Enzo di Domenico, populärer Komponist und Sänger vieler Lieder zum Lobe Neapels. Der kleine Guglielmo hat zur Taufe eine Platinkette mit diamantbesetztem Kruzifix erhalten, ganz im Stile seiner Verwandtschaft

Müll-Terror: Sogar am Abfall verdient die Camorra, selbst giftige Rückstände lässt sie irgendwo verscharren und verseucht so ganze Landstriche. Nun laufen die Deponien über. Meterhoch türmte sich der Müll Anfang 2008 in den Straßen

Gefährlicher Widerstand: Der Rechtsanwalt Gerardo Marotta und der Schriftsteller Roberto Saviano prangern die Verbrechen der Camorra an. Savianos Enthüllungsbuch »Gomorrha« ist ein internationaler Bestseller. Der Autor steht unter Polizeischutz

Durchatmen: Rund eine Million Einwohner auf engem Raum – Neapel ist eine der am dichtesten besiedelten Städte Europas.

Wer Ruhe sucht, muss Hafenmolen erklettern oder sich um die Siesta- Zeit zur weiten Piazza del Plebiscito begeben

GEO-Autorin Petra Reski lebt seit vielen Jahren in Venedig. Sie schreibt häufig über das organisierte Verbrechen und seine Verbindung mit der italienischen Politik. Im Herbst wird bei Droemer ihr Buch „Mafia“ erscheinen. Der italienische Fotograf Mauro D`Agati, 39, ist unter anderem durch eine Reportage über italienische Gefängnisse bekannt geworden.

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