Josefs Goldhochzeit

Josefs Goldhochzeit

Längst sind fast alle Mitglieder der Familie Reski aus ihrem polnischen Heimatdorf nach Deutschland gezogen. Nur Monika und Josef Reski haben ausgeharrt. Nun feiern sie ihre Goldene Hochzeit – Anlass für ihre Kinder und Kindeskinder gemeinsam nach Wrzesina im einstigen Ostpreußen zu reisen. Ene deutsch-polnische Familiengeschichte von Vertreibung, Neuanfang und Heimweh.

foto-josefs-goldhochzeit

Du sitzt? Wirst noch den Rock verknittern! Schuldbewusst steht meine Tante wieder auf. Natürlich sind alle viel zu früh fertig. Obwohl die Messe erst in einer halben Stunde beginnt, steht schon die ganze Familie im Flur bereit. In Garnitur, wie man hier sagt. Die fünf Söhne sehr würdevoll in dunklen Anzügen. Die einzige Tochter im grauen Kostüm mit sorgfältig gebundenem Seidenschal. Es riecht nach Rasierwasser und Haarspray, nach Lavendel und Kirchgang, und der einzige, der sich zu setzen wagt, ist mein Onkel Josef, dessen weiße Haare im Halbdunkel des Flurs leuchten. Bist ejin scheener Mann, Seppchen, sagt meine Tante Monika und streicht ihm zärtlich über die Wange.

Heute vor fünfzig Jahren hat sie ihn geheiratet, mit Totenblumen in der Hand, weißen Chrysanthemen, und einem Myrtenkranz auf dem Kopf, in einem Kleid aus billigem Stoff und einem Schleier, den ihr Verwandte aus Deutschland geschickt hatten. So war das früher.

Frieher, wie meine Tante sagen würde. Denn in diesem Flur wird Ostpreußisch gesprochen. Hier wird das R gerollt, hier sagt man wejisst statt weißt du, ieberr anstelle von über und scheen statt schön. Es ist die Sprache meiner Kindheit, mit der ich im Ruhrgebiet der 60er Jahre aufgewachsen bin. Hier in diesem engen Flur verschmelzen polnische Gegenwart und deutsche Vergangenheit. Und hier wird man nicht rührselig. Auch nicht, wenn die sechs Kinder zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder alle zusammen aus Deutschland nach Hause nach Polen gereist sind. Auch nicht, wenn man Goldene Hochzeit feiert. In zwanzig Minuten.

Monika schluckt nur kurz, rückt die Brille auf dem Nasenrücken zurecht und tastet mit der rechten Hand nach ihren frischen Locken – zur Feier des Tages hat sie sich eine Dauerwelle legen lassen, von der Briefträgerin, die in einem anderen Leben mal Friseuse war. Allerdings sind Monikas Haare über den Ohren etwas grünlich geraten, da muss der Brillenbügel oxidiert sein. Ich mal dich an, sagt Josef, und seine Söhne lachen wie Kinder.

Zu Hause, das ist Polen für die Jungen und Ostpreußen für die Alten. Zu Hause, das ist ein Dorf, das zwischen dem Einst und dem Jetzt schwebt: Wrzesina, einst Alt-Schöneberg. Es liegt unweit von Olsztyn, dem ehemaligen Allenstein, im Norden Polens. Im einstigen Ermland, dem katholischen Teil Ostpreußens, und heutiger Woiwodschaft Warmia i Mazury.

Es ist ein Land endloser Horizonte, mit einem Himmel wie von einem Kirchenmaler geschaffen, mit Regenbogen, die man anfassen will und Wolkengebirgen, durch die an manchen Stellen ein Blau dringt, das leuchtet wie das Auge der Heiligen Dreifaltigkeit. Es ist eine ewige Kindheitslandschaft  von Menschen, die der Krieg von hier vertrieb und die Mangelwirtschaft. Geblieben sind nur die Alten und die Schwachen, die mit der Bierflasche in der Hand darauf warten, dass ihr Leben endlich vergeht. Alle anderen sind weggegangen. Nach Deutschland und neuerdings auch nach England und Irland. Von Danzig aus gehen täglich Flüge nach Dortmund und Köln, nach Dublin, London, Edinburgh und Liverpool.

Vielleicht ist das der Grund dafür, dass dieses Dorf wirkt, als wollte es nicht erwachsen werden, als wollte es daliegen wie ein Kindheitstraum von der Welt, wie damals, als es verlassen wurde, mit einem Löschteich und einem Storchennest auf dem Feuerwehrturm, mit zwei Läden, in denen außer Wurst und Käse dreißig verschiedene Wodkasorten angeboten werden, mit einem Wald, der ins Dorf drängt und mit einer gotischen Backsteinkirche in der Dorfmitte. Unter der sich das kleine weiße Haus von Josef Reski befindet.

Josef Reski ist der Cousin meines Vaters. Wie mein Vater stammt er aus einem Dorf unweit von Allenstein, dem heutigen Olsztyn, dort, wo noch heute der Bauernhof meines Urgroßvaters steht. Ein Mal haben wir ihn gemeinsam besucht, heute lebt dort Wazek, ein aus Litauen vertriebener Pole, wir saßen im Garten und aßen Erdbeeren, und Josef trank mit Wazek Wodka, Betäubungsmittel, wie er es nannte. Wir wollten Wazek auch dieses Mal besuchen, Wazek aber sei seltsam ausweichend gewesen am Telefon, sagt Josef, seiner Tochter sei es nicht recht, wenn wir kämen, hieß es, und Josef sagt bedauernd: Die denkt, dass wir den Hof wiederhaben wollen.

Obwohl die Moral der Kaczinskis hier weit weg ist, fühlen wir uns plötzlich, als hätte uns jener nationalistische Hauch aus Warschau gestreift, mitsamt seiner Erika-Steinbach-Hysterie und dem ewig beschworenen Gespenst des deutschen Revisionismus. Josef zuckt mit den Schultern und sagt: Kann man nichts machen.

Sein Gesicht ist wie immer von der Gartenarbeit etwas gebräunt und verströmt einen Glanz festlicher Zufriedenheit, wenn er auf seine Kinder blickt. Wie ein Bildhauer im Angesicht seiner soeben enthüllten Skulptur. Oder wie ein Dichter, der für sein Gesamtwerk gefeiert wird. Und der darüber etwas behäbig geworden ist, sagen wir: vollschlank. Der Preis eines Lebens an der Seite einer Köchin. Der Ehering passt ihm nur noch auf den kleinen Finger.

Am schrecklichsten sind die letzten Momente, sagt Monika und blickt vorwurfsvoll auf die Uhr, die sie zur Untätigkeit verdammt. Normalerweise stünde sie jetzt am Herd, das Mittagessen für alle vorbereiten, Hühnersuppe, mit selbst gemachten Nudeln. Bis gestern Nacht hat sie hier in dieser Küche vier Buttercremetorten dekoriert, sie hat Sahne für die Kirschsahnetorte geschlagen, eine Quarktorte und eine Apfeltorte gebacken, sie hat Teig für einen Schokoladenstreuselkuchen, einen Napfkuchen und einen Käsekuchen gerührt, ferner ein Kilo leichtes Spritzgebäck gebacken, um zu verhindern, dass es während dieser Goldenen Hochzeit am Ende an Kuchen fehlen sollte.

Am liebsten würde sie jetzt noch schnell ein paar frisch gewaschene Plastiktüten falten, wie sie es immer tut, denn bei meiner Tante verwandelt sich alles in einen Bestandteil des ewigen Kreislaufs des Lebens. Plastiktüten werden gewaschen und auf die Leine zum Trocknen gehängt, auf der Fensterbank liegen Peperonikerne zum Trocknen, Eierschalen werden in einem Karton gesammelt, damit die Hühner im Winter etwas zum Picken haben, Essenreste frisst der Hund, alte Brotscheiben trocknen auf der Heizung und werden an die Kaninchen verfüttert. Der Rest kommt in die Gefriertruhe. Die so groß ist, dass man darin Lenin aufbewahren könnte. Sagen die Söhne.

Hier sind sie aufgewachsen, unter den Rehgeweihen im Flur und der Muttergottes im Wohnzimmer, die Josef bei Kriegsende aus dem Haus seiner nach Deutschland geflüchteten Tante gerettet hat. Erika und ihre fünf Brüder. Andreas, Arnold, Heinrich, Hubert, Waldemar. Breitbeinige Sicherheit und in den Augen gefrorenes Blau. Der älteste ist 47 Jahre alt, der jüngste 36. Josef hat ihnen seine großen Arbeiterhände vererbt. Die tief liegenden, blauen Augen und den lachenden Mund.

Im Flur stehend werfen sich Josefs Söhne Anspielungen zu, Halbsätze voll Erinnerung. War es gestern, als sie bei Bauer Zerta Mähdrescher fuhren, Rüben zogen und Seile drehten, für ein paar Groschen und einen heißen Kakao? Wenn sie die Augen schließen, haben sie den Geschmack ihrer Kindheit wieder auf der Zunge, ihrer Lupo-Limonaden-Kindheit, bläulichrot, mit dem Geschmack aufgelöster Dauerlutscher. Die Limonade wird noch heute im Dorfladen verkauft, jeder Schluck ein Stück Erinnerung.

Arnold fällt das ewige Glockenläuten ein, morgens, mittags abends, und wie sie bei Beerdigungen schlagartig aufhörten zu läuten, wenn sie vom Kirchturm aus sahen, dass der Trauerzug endlich am Friedhof angekommen war. Hubert verflucht jene Momente, als er bei minus dreißig Grad an der Bushaltestelle stand, mit Eis bis auf die Seele. Andreas denkt an das Angeln im See, was ihm so lange verboten blieb, bis seine Mutter eines Tages sagte: Nu, denn geh‘ und ersauf! Heinrich entsinnt sich seines zehnjährigen Daseins als Ministrant und wundert sich bis heute darüber, dass Gott ihm ungeachtet seiner Inbrunst nie ein ‚Folge mir!‘ zurief. Neji, sagt er, ich habe kejine innere Stimme geheert. Und das, obwohl sie mit dem Pfarrer sogar Ausflüge machten, nach Krakau und nach Zakopane. Und wenn sie den Pfarrer unterwegs ‚Herr Pfarrer‘ nannten, mussten die Kinder einen Zloty Strafe zahlen. Weil damals schon ein Ausflug mit dem Pfarrer als Akt der Auflehnung galt.

In der Hand hält Heinrich einen alten Schal wie eine Reliquie. Gestern Abend hat er in einem Schrank seinen Reservistenschal wieder gefunden. Den er, wie es 1985 üblich war, selbst bemalt hat. Mit einem Adler, der über eine Mauer fliegt.

Noch sieben Minuten, sagt Monika. Es macht mich verrickt. Josef nimmt mich beiseite und zieht mich ins Wohnzimmer, neben den Nussbaumschrank, in dem selten benutzte Kristallgläser stehen und Fotos von den Enkelkindern, kleine Mädchen mit riesigen, roten Schleifen im Haar, junge Männer in Muscleshirts neben demütig blickenden Schuljungen. Ein Empfänger für die Satellitenantenne zeugt vom Anschluss an die Moderne und auf dem Wohnzimmertisch liegt zur Feier des Tages eine Damasttischdecke, steif gestärkt und mit bourbonischen Lilien.

Schau hier, sagt Josef und zeigt mir ein Foto seines Vaters, eines, das ihm nach langer Zeit wieder in die Hände gefallen ist, wie ein sepiafarbenes Beweismittel seiner Existenz. Josefs Vater kam irgendwo bei Königsberg ums Leben, seine Leiche wurde nie gefunden. Vielleicht ist das der Grund, weshalb Josef das Grab des deutschen Soldaten in seinem Gemüsegarten nie beseitigt hat – jenes jungen Soldaten, den man enthauptet in der Jauchegrube gefunden hat. Ein Grab, das Josef so liebevoll pflegt wie das eines Verwandten. Im Sommer bepflanzt er es mit Immergrün, im Winter bedeckt er es mit Tannenzweigen, und zu Allerseelen entzündet er ein Grablicht.

Anders als die Familie meines Vaters, die bei Kriegsende flüchtete, blieb Josef Reski mit seiner Mutter und seiner Schwester in Ostpreussen zurück. In jenem Winter 1945, als meine schwangere Großmutter mit ihren Kindern über das Eis des Frischen Haffs flüchtete, machte sich auch der elfjährige Josef Reski mit seiner Mutter und seiner Schwester auf den Weg Richtung Haff. Sie flüchteten zusammen mit dem ganzen Dorf Stenkienen, aber als die Flüchtlinge zu Fuß ankamen, war es zu spät. Das Eis hielt nicht mehr. Wir wären doch versoffen!, sagt Josef jedes Mal, wenn er daran denkt. Die Wagens brachen ejin im Ejis, die Pferrde, die Dejichsels hoch!, und es klingt wie bei meiner Familie: Als sei die Flucht erst gestern gewesen.

Seine Söhne sind immer ganz still, wenn Josef von der Flucht erzählt; so still, wie ich es war, ein Kind, das dachte: Die Flucht, die Flucht, immer nur die Flucht! Flüsternd erzählt er die gleichen Geschichten, die auch mein Großvater flüsternd erzählt hat: von den Brüdern Reski, die in der Nazizeit alle ihren polnisch klingenden Namen Reski zu Reder germanisierten, bis auf meinen Großvater und Josefs Vater. Von dem Bruder Anton, der doch ein Parteibonze gewesen sei, und von dem niemand weiß, wie er beim Einmarsch der Russen zu Tode kam.

Josef spricht so leise, als dürften die Nachbarn nichts davon hören. Sein Leben lang hat er versucht, sich anzupassen, sich einzufügen in seine alte, neue Heimat, in der seine Sprache verboten war. Und wenn sie sich vergaßen und auf einem Fest Deutsch sangen – denn gab’s Klopperreji, sagt Josef. Aber schrrejib das bloß nicht! Die Geschichte hat ihn gelehrt, vorsichtig zu sein. Nur so gelang es ihm, den Kommunismus mitsamt seiner verschiedenen Wetterlagen zu überleben: das kurze Tauwetter unter Gomulka, als die Deutschen sogar Vereine bilden durften und die Eiszeiten, als die Deutschen als feindliche Elemente galten, als die Milizen an den Fenstern lauschten, ob in den Familien Deutsch gesprochen wurde und diejenigen verhafteten, die in der Kirche auf Deutsch gesungen hatten. So einen wie ihn könne die Kaczinskis nicht mehr überraschen.

Ach, ich verzage nicht, sagt Josef, man muss zufrieden sejin. Endlich läuten die Glocken. Monika klatscht in die Hände, die Dämonen und den Krieg verscheuchend, ruft Bittescheen, zieht noch ein bisschen an Josefs Krawatte, und dann setzt sich schließlich der Festzug in Gang. Monika und Josef vorneweg, Kinder, Enkelkinder, polnische Schwiegertöchter und sonstige Anverwandte folgend, deren Verwandtschaftsgrad unterwegs erläutert wird: Vom Bruder die Frau die Schwester!

Hand in Hand durchqueren Monika und Josef das Dorf, in dem niemand außer Josef mehr Hühner hält. Wer es zu Wohlstand gebracht hat, dank seiner Arbeit in Deutschland oder England, der lässt sein Dach mit dunkelblau glänzenden Ziegeln decken, pflastert seinen Hof mit Verbundsteinen und dekoriert ihn mit Gartenzwergen. Und Josef flüstert im Vorbeigehen: Mejine Hihnerr sind mir lieber als diese Zwerrge.

Der Himmel, der am Tag zuvor noch seinem Ruf als Sehnsuchtshimmel der Ostpreußen alle Ehre gemacht hat, hängt wie ein nasses, graues Laken über den Köpfen. Mit zusammengezogenen Schultern zieht der Festzug am Pfarrhaus vorbei und steigt die Stufen zur Kirche herauf, vorbei an der Kapelle, in der die Schutzpatronin thront, Maria Magdalena. Im Vorraum der Kirche lehnen Prozessionsfahnen an der Wand, die vom Heiligen Aloysius in verschossenem Gelb, die Marienfahne in Himmelblau. Darunter steht eine schwarze Totenbahre.

Früher arbeitete die ganze Familie in dieser Kirche, schon Monikas Vater war hier Küster. Meine Tante bügelte dem Priester die Messgewänder und füllte die Weihwasserbecken nach, zur Not mit einem Eimer Leitungswasser. Und wenn ihre Söhne protestierten, dann zuckte sie mit den Schultern und sagte: Ach was, das vermischt sich. 35 Jahre lang polierte sie die Messkännchen, wischte den Staub von den Heiligen und dekorierte den Altar mit Blumen. Das Ganze ohne Rentenanspruch, wie Josef spitz bemerkt: Die Pfarrers, die zahlen ja nicht!

Einige der Kirchenbänke tragen noch heute deutsche Namensschilder: Schulz, Hinzmann, Günter. Als die ersten deutschen Heimwehtouristen nach Alt-Schöneberg kamen, schlossen ihnen die Reski-Brüder in der Hoffnung auf ein Trinkgeld die Kirche auf und erklärten, dass die Orgel aus Königsberg stamme und die Glocke aus Breslau. Sind noch Ejinschusslecherr drin, vom Krieg, flüstert Arnold, bevor er von seiner Frau in die Kirchenbank geschubst wird.

Die Familie sitzt links, das Dorf rechts. In der Mitte vor dem Altar knien Josef und Monika auf einer kleinen Gebetbank, und von oben blickt der liebe Gott – mit langem, gelocktem Bart, über Wolken fliegend, die wie Pfützen aussehen. Links vom Altar hängt der Papst, der polnische, sehr naturalistisch anmutend mit rosaroten Wangen, rechts der polnische Widerstandskämpfer Kardinal Wyszynski. Als die Sakristeiglocke erklingt, stolpern zwei Ministranten über die Altarstufen. Steif stecken sie in ihren Spitzenüberwürfen, ganz so, als hätten sie sich Gardinen über ihre Sweatshirts gehängt. Der Pfarrer zelebriert die Messe mit halb geschlossenen Augen, gemessen bewegt er den Kopf. Obwohl er noch jung ist, sind seine Bewegungen so sparsam wie die eines Greises.

Die Predigt hält nicht der Pfarrer, sondern ein junger Priester, den noch niemand hier in der Kirche gesehen hat. Alle sind voller Neugier, wie er diese fünfzig Jahre würdigen wird. Die Ehe von zwei Ostpreußen, die bis heute Polnisch mit deutschem Akzent sprechen. Das Leben mit sechs Kindern, in einem polnischen Dorf, das selbst nach dem Krieg fast nur von Deutschen bewohnt wurde. Das Leben einer deutschstämmigen Familie, die der polnisch klingende Nachname in ‚Autochtone‘ verwandelte, die nicht zur deutschen Minderheit gezählt wurden und Gelegenheit bekamen, sich zur Volksrepublik Polen zu bekennen. Ein Bekenntnis, das nicht schwer fiel. Denn wer nicht als Pole anerkannt war, verlor sein Hab und Gut. Josefs Mutter verlor aber dennoch ihren kleinen Besitz, als sie 1973 mit ihrer Tochter nach Deutschland ausreiste: Da zwang sie ein Parteifunktionär dazu, eine Verzichtserklärung zu unterschreiben, bevor er ihren Ausreiseantrag unterzeichnete. Das Haus und einen kleinen Wald, keine zehn Hektar groß, musste Josefs Mutter dem polnischen Staat schenken.

Der Priester biegt das Mikrophon zu sich hin und räuspert sich. Ob er weiß, dass Josef neun Ausreiseanträge gestellt hat? Den letzten stellte Josef im Jahr 1973. Dann gab er auf. Er arbeitete als Schweißer, und seine Chefs weigerten sich, seinen Ausreiseantrag zu unterschreiben. Er solle erst mal mithelfen, Allenstein wieder aufzubauen, hieß es, danach könne er nach Deutschland ausreisen.

Füße scharren und Kirchenbänke knarren. Die trockene Luft macht hüsteln, Kleinkinder rutschen ungeduldig auf den Knien den Mittelgang entlang, und der Priester leitet seine Predigt mit einer summarischen Verteufelung des Materialismus ein. Sicher ahnt er nicht, dass Josef für einen seiner Amtsvorgänger sogar Geld geschmuggelt hat: Als Josef in den siebziger Jahren zum ersten Mal nach Deutschland reisen durfte, ins Ruhrgebiet, da hielt er 3000 Mark in den Taschen versteckt, die ihm der Pfarrer aus Polen mitgegeben hatte – auf dass Josef in Deutschland Farben und Material für die Reparatur der Orgel kaufen möge. Wenn sie mich errwischt hätten, an der Grenze, ojeji! So viel Geld hatte ich doch noch nie in mejinem Leben gesehen!, sagt Josef jedes Mal, wenn er daran denkt.

Josefs Kinder sitzen mit niedergeschlagenen Augen und gebeugten Häuptern da und lassen die Predigt an sich vorbeiziehen wie ein fernes Wetterleuchten. Andreas, der Älteste der fünf Brüder, hat die gleiche wuchtige Statur seines Vaters und hält das Gebetbuch fest in seinen großen Händen. Neben ihm sitzt sein Bruder Arnold, ein hagerer Tüftlertyp mit rundem Rücken. Der bedächtige Heinrich sieht aus wie ein Heiliger, der gerade aus dem Himmel gefallen ist, mit einem hellen Haarkranz, der wie ein Glorienschein leuchtet. Sein jüngerer Bruder Hubert hat dunkel verschattete Augen und trägt einen Hauch von Melancholie um den Mund. Und Waldemar, der Jüngste, sieht aus wie einer, der mit einem Siegerlächeln auf die Welt gekommen ist.

Untereinander sprechen sie mal Polnisch, mal Deutsch, je nachdem, ob ihre Ehefrauen dabei sind, oder nicht. Bis auf Andreas, den Ältesten, haben alle Reski-Brüder Polinnen geheiratet; ganz so, als hätten sie mit ihnen ein Stück Heimat nach Deutschland mitnehmen wollen. Oder, wie Monika sagt: Warren ejine gute Partie.

Sie sind Schreiner, Anstreicher, Dreher, Feinmechaniker – Männer, die wissen, wie man Hechte aus gefrorenen Seen zieht, Männer, die mit ihren eigenen Händen ein Haus bauen und einen Schrank zimmern können, Männer, die aussehen, als seien sie aus längst versunkenen Zeiten wieder aufgetaucht. Aus Zeiten, als die Welt noch nicht aus Klingeltönen bestand, sondern aus Dingen, die sich gehören, und Dingen, die sich nicht gehören.< /p>

Als erste hat Erika Polen verlassen, ist zusammen mit ihrem Mann und den Schwiegerelten ‚rausgefahren‘, wie man es hier nennt, wenn ein deutschstämmiger Pole nach Deutschland aussiedelt. Sie waren jung, hatten in Allenstein gerade eine eigene Wohnung gefunden und sich auf die Lieferungswarteliste für einen Fiat Polski eintragen lassen. Der Fiat Polski wäre der Höhepunkt ihres Lebens gewesen. Über Nacht stieg der Preis um 40 Prozent. Sie stellten einen Ausreiseantrag. 1981, im ersten Jahr des Kriegsrechts, bekamen sie überraschend eine Ausreisegenehmigung.

Ob es daran lag, dass man damals gerade Wohnungen brauchte? Mal regnete es Ausreisegenehmigungen, weil es hieß, dass aus Deutschland gerade einen Millionenkredit gekommen sei, mal hieß es, dass Polen endlich national homogen sein sollte, mal hieß es, dass Jaruzelski die feindlichen Elemente endlich loswerden wollte. Aber eigentlich war es Erika und ihrem Mann egal, warum man sie ziehen ließ. Monika sagte zu ihrer Tochter: Geht nur, geht nur, wir kommen bald nach. Und weinte. Wie eine Mutter eben weint, wenn auf den Straßen Panzer stehen, weil Kriegsrecht herrscht, und sie nicht weiß, ob sie ihre Tochter jemals wieder sehen wird.

In Deutschland zogen sie in die Nähe von Stuttgart. In den Jahren darauf folgten alle Brüder ihrer Schwester Erika – bis auf den Ältesten, Andreas, der heute zwischen Polen und Deutschland pendelt: Er lebt Nachbardorf und arbeitet in Deutschland für den polnischen Subunternehmer einer deutschen Baufirma.

Erika sitzt in der Bank neben ihren Brüdern, die sie immer im Blick hat. Sie ist die ewige große Schwester, eine, die sich Lippenstift nur an Feiertagen erlaubt, und die immer weiß, welchen ihrer Brüder sie daran erinnern muss, welcher Neffe und welche Schwägerin wann Geburtstag hat.

Der Priester ist inzwischen von der Verteufelung des Materialismus zu den Auswüchsen der Urbanisation gelangt. Die Frauen streichen sich ungeduldig ihre Röcke glatt, die Männer tasten nach ihren Krawattenknoten, und Monika ist froh, dass sie mit dem Rücken zur Gemeinde sitzt, und nur wenige sehen können, wie sie ihr Taschentuch knetet, weil die Vergangenheit plötzlich wieder so nah ist. Wer hätte gedacht, dass sie als einzige im Dorf zurückbleiben würden? Wir kommen nach, hatten sie immer gesagt, damals.

Kerzen flackern im Luftzug, man räuspert sich, und der Priester erinnert an die Seligsprechung von Papst Innozenz XI. vor fünfzig Jahren. Als er auch noch das Werk des Mikrobiologen Louis Pasteur würdigt, sinken die Köpfe der Zuhörer langsam auf die Brust herab. Und sie schrecken erst dann wieder hoch, als sich der Priester unvermittelt entsinnt, dass es hier letztlich ja darum geht, das Ehegelübde zwischen Josef und Monika Reski zu erneuern. Ein Aufatmen geht durch die Reihen des Kirchengestühls, taube Glieder werden bewegt, und ein Ministrant betätigt den Diaprojektor, mit dem der Liedtext an die Wand geworfen wird: Zum Altare sieh uns treten, Dich in Wahrheit anzubeten.

Noch auf den Kirchenstufen stehend werden Josef und Monika von ihren Kindern und ihren Nachbarn gedrückt und geküsst. Alle erinnern sich noch an die Zeit, als Monika Reski eine berühmte Hochzeitsköchin war, eine, die für das ganze Dorf kochte, Schweinskopfsülze und Hühnersuppe, mit Mayonnaise gefüllte Schinkenröllchen und Erbsen und Möhren. Für Hochzeiten und Kommunionfeiern, Goldene Hochzeiten und Firmungen. Und zehn Buttercremetorten auf einmal. Die ihr Sohn Arnold transportierte, im Fiatpolski, ganz behutsam, ohne sie zu zerdrücken.

Und jetzt steht Monika da, mit fünfzig roten Rosen im Arm. Erika hat eine rote Nase, Waldemar zittert das Kinn, Arnold schnauft in ein riesiges Taschentuch, Josef knetet seine Hände, und Monika putzt ihre Brille. Ganz Alt-Schöneberg gratuliert, mitsamt seiner letzten Ostpreußen, die dastehen wie Standbilder, in die manchmal unerwartet Bewegung gerät: Herr Freese von gegenüber und Bauer Zurawski, der in seinem schwarzen Trench mit schwarzem Lederhut aussieht wie ein Geheimagent, Monikas Freundin Ursel, die mit einem aus der Ukraine vertriebenen Polen verheiratet ist, und die Schwester von Bauer Zerta, bei dem sich die Reski-Kinder sich einst ihr Taschengeld verdienten.

Frau Zerta ist gerade von einer Reise nach Paderborn zurückgekehrt, wo ihre Schwester lebt. Siebzehn Stunden im Bus liegen hinter ihr und die Einsicht, dass es in Deutschland auch nicht glänzend sei: Die Deutschen, die jammerten doch immerfort. Und die Tirrken ieberrall, sagt sie, die haben doch kejinen Glauben.

Doch, wendet Monika ein, die haben ejinen Glauben, nur ejinen anderen. Und Frau Zerta blickt lange auf die Heilige Maria Magdalena in ihrer Kapelle, und sagt dann: Neji. Es gibt doch nur ejinen Gott. Der Wind zerrt etwas an Frau Zertas dünnem Haar und legt ihre Kopfhaut frei, als sie hinzufügt, dass die Polen, die jetzt mit ihr auf dem Hof lebten, auch nicht regelmäßig in die Kirche gingen. Sie sind ja nicht so, wie man sich winschen mecht!, beharrt sie, sind so zappzerrapp.

So ejin Quatsch, sagt Monika später, der kann man es auch nicht recht machen, sind gute, ordentliche Leute, die da bei ihr wohnen.

Mit Blumen und Geschenkekörben beladen bewegt sich der Festzug zurück zu Josefs Haus, über dessen Eingang inmitten von Blumenranken eine selbst gebastelte rote 50 hängt, unter der sich Josef und Monika für das Erinnerungsfoto küsst – mit spitzen Lippen, den Kopf tief in den Nacken gelegt.

Weil die ganze Familie nicht in das Wohnzimmer passt, findet die Feier in einem Saal bei einem Bauern statt, der Trakehner hält: Pferde, die von reichen Polen und reichen Deutschen geritten werden, wie Josef betont. Der Autokorso wird von Josefs Mercedes angeführt – ein 190er Diesel, der nun wie ein bronzemetallicfarbenes Menetekel des Westens von Josefs Hühnerhof rollt. Er ist ein Geschenk eines hochverehrten Familienfreundes, Klaus-Peter, was aber nichts daran ändert, dass dieser Mercedes Josef nicht ganz geheuer ist. Nicht nur, weil er zehn Mal mehr Sprit schluckt als sein Maluch, der Floh, wie man in Polen den Fiatpolski liebevoll nennt, den Josef jetzt für 1000 Zloty verschrubbert hat, wie er es nennt, rund 250 Euro. Der Maluch hatte zwar den Bremsweg einer Lokomotive, aber er passte besser zu Josefs Statur.

Mejine Fies sind nicht lang genug fierr den Merrcedes, sagt Josef. Weshalb er die Pedalen verlängern musste, wie er seinem Gönner entschuldigend erklärt.

Den Freund aus Deutschland lernte die Familie Reski zu Zeiten des Kriegsrechts kennen. Das deutsche Rote Kreuz hatte ihm ihre Adresse vermittelt. Er hatte Pakete geschickt und kam die Familie besuchen-  und seitdem gehört er dazu. Wie all jene, die hier geboren wurden und irgendwann weggegangen sind. Irgendwann kommen alle wieder zurück und stehen an Josefs Gartenzaun. Manchmal, wenn ich meinen Onkel im Sommer besuche, wenn sich der Himmel wie ein endloses Triptychon über das Land wölbt, und man ganz fromm wird, wenn man nach oben blickt, dann sagt Josef zu mir: Gut, dass mich noch hast, damit du kommen kannst, die Hejimat gucken. Ganz so, als sei auch ich hier geboren und nicht im Ruhrgebiet. Als sei ich als Polin aufgewachsen, mit PO-Nummer, die mich als deutschstämmig ausgewiesen und mir das Anrecht auf einen deutschen Pass garantiert hätte. Als hätte ich genau wie meine polnischen Cousins meine Jugend damit verbracht, Schlange zu stehen und nicht damit, traurige Lieder von Leonard Cohen vom Kassettenrekorder zu hören und zu grübeln, ob meine Jeans wirklich enger werden würden, wenn ich mich damit in heißes Badewasser legen würde.

Jedes Jahr hat Josef Sommergäste, meist alte Ostpreußen, auf der Suche nach ihrer Heimat und nach ihrer verlorenen Kindheit. Die Alten, die zieht es doch wieder zurick!, sagt er.

Manche bleiben einen Nachmittag und manche einen ganzen Sommer lang. So wie der Herr Ernst, der eigentlich aus einem Nachbardorf stammt und den Josef und Monika aufgenommen haben wie einen Heimatlosen – weil in seinem Dorf niemand mehr war, der ihn noch von früher kannte.

Der hat doch Sehnsucht!, sagt Josef, wenn er an die Nachmittage mit ihm denkt. Im Garten unter den Apfelbäumen erzählte Herr Ernst mit pfeifender Atemlosigkeit von früher. Von den Leichen, die er als Flakhelfer auf einem Schlitten vom gefrorenen Haff holen musste, von der toten Frau im Straßengraben, der man den Rock über den Kopf gezogen und einen Pfahl zwischen die Beine gerammt hatte. Und von dem Blutschwamm unter seinem Arm, den die Russen für eine SS-Blutgruppen-Tätowierung hielten, und ihn in russische Kriegsgefangenschaft schickten. Manchmal erzählte Josef dann noch die Geschichte von dem Globoschinski, der den besoffenen Russen eine Kuh wegnehmen wollte, Globoschinski, der doch Russisch konnte, und der zu Josef sagte: Jungchen, geh mal nach Hause! Globoschinski, der nicht mehr nach Hause kam, auch am nächsten Morgen nicht, weil die Russen ihm in den Kopf schossen, ihm und seinen Freunden, ihre Leichen warfen sie in den Fluss.

Am besten, gar nicht daran denken, sagte Josef am Ende dann immer. Und Monika rief zum Essen. So wie sie jetzt zum Essen ruft, an der langen Festtafel, auf der kleine goldene 50 wie Pailletten gestreut liegt. Krimsekt halbtrocken wird ausgeschenkt, und Wodka in gläsernen Fingerhüten. Die Jungen sitzen am einen Ende der Tafel, die Alten am anderen Ende. Im Kamin lodert ein Feuer, aber die Luft ist noch kalt, als die Hühnersuppe aufgetragen wird. Aus den Suppentellern steigt Dampf und aus den Schüsseln mit den Kartoffeln, Schnitzelberge dehnen sich aus und grenzen an Erbsen und Möhren, an eingelegte Gurken und Saucenterrinen mit sämiger Sauce. Platten mit Rinder- und Schweinebraten werden herumgereicht, und Josef redet über das Schlachten. Davon, dass ein Kalb erst die Vorderbeine steif macht, dann einknickt, bevor es stirbt, dass ein Pferd im Tod zur Seite fällt und Schafe weinen, wenn sie sterben. Davon, dass er als Lohn oft den Kopf und die Füße des Schweins mitnehmen konnte, und Monika Grützwurst daraus gemacht hat. Und Sülze, denn vom Schwein kann man alles gebrauchen, außer den Augen.

Jetzt ist aber Schluss!, ruft Monika, und Josef wendet ein, dass er jedenfalls überleben könne, falls sich die Zeiten wieder verschlechterten, und das Leben nicht mehr wie neuerdings aus EU und Obimärkten und deutschem Satellitenfernsehen bestehen sollte. Denn auch wenn Monika am liebsten ‚Reich und schön‘ sieht und Josef ‚Bauer sucht Frau‘ – dem Glück misstrauen hier alle an diesem Tisch.

Jedes Mal, wenn seine Tochter Erika in Polen ist, spielt sie im Geiste das Was-wäre-gewesen-wenn-Spiel durch: Es gestern, als sie einen Spaziergang machte, dachte sie daran. Erika ging mit ihrem Mann zu Bauer Zurawski, weil man ein Ziel haben muss, und weil hier niemand auf die Idee kommt, einfach nur spazierenzugehen. Man geht in die Pilze, höchstens, aber einfach so zum Vergnügen zu laufen, auf solche Ideen kommt nur Westbesuch. Zurawaskis Hof liegt auf dem Weg in ihre Kindheit – unweit jenes kleinen Sees, in dem Erika und ihre Brüder schwimmen lernten. Der sandige Boden verschluckte ihre Schritte, und nachdem sie sich durch hüfthohes Unkraut und Ried gekämpft hatte, stand sie vor einem winzigen Teich, eine Pfütze nur noch, ein Schatten seiner selbst.

Der Wald ist in den Jahren immer näher an das Dorf gewachsen. Da, wo früher Roggenfelder waren, wachsen heute Tannen in den Himmel. Erika ging mit ihrem Mann Hand in Hand, Feriengäste in ihrer einstigen Heimat, und dann sagte sie: Wie mecht‘ sich das Leben gestalten, wenn wir hier geblieben wären?

Das Haus, in dem sie in Allenstein wohnten, ist abgerissen worden, die Fleischerei, in der Erika arbeitete, gibt es nicht mehr.

Ich wärr arrbejitslos, sagte Erika. Und du auch. Und ihr Mann sagte nur: Seji still, seji still!

Als Erika nach Deutschland ging, nahm sie eine polnische Lampe als einzigen Besitz mit, und die Erinnerung, dass der Lehrer den deutschstämmigen Kindern vor der ganzen Klasse die Chance auf ein Abitur abgesprochen hatte. Wenn sie als Kinder in der Schule Deutsch sprachen, hieß es: Haut ab, ihr Schwaben. Und: Polnische Brote fresst ihr, aber Polnisch sprecht ihr nicht? In ihren polnischen Dokumenten hieß sie Irena, weil ihre Namen auf den polnischen Ämtern polonisiert worden waren. Aus Erika wurde Irena, aus Waldemar Waldek, aus Heinrich Henryk; und Heinrich ärgert es noch heute, dass er fünf Mark für die Namensänderung bezahlen musste, weil die Angestellte auf dem Einwohnermeldeamt von Eislingen nicht glauben wollte, dass ihn seine Eltern auf den Namen Heinrich getauft hatten.

Nachdem Erikas Mann den Ausreiseantrag gestellt hatte, bekam er keine Lohnerhöhung mehr. Du brauchst das Geld ja nicht mehr, du hast ja Familie in Deutschland, du fährst ja bald raus, hieß es.

Und ich sagte dann: Du bist doch selbst Aussiedler, du kommst doch aus der Ukraine, aus Litauen, aus Weißrussland, misstest mich doch verrstehen, sagt Erikas Mann und schüttelt verständnislos den Kopf.

Einen Herzschlag lang sind alle ganz still geworden an der Festtafel, so still, dass man die Gabeln gegen das Porzellan schlagen und die Holzscheite im Kamin knacken hört. Eigentlich sprechen sie selten darüber, wie es war, wegzugehen. Die Eltern allein zu lassen. Im Ungewissen neu anzufangen. Und mitten in die Stille bemerkt Arnold, dass es keine Krebse mehr gebe. Und wie eigenartig das sei, wo sie doch früher die Krebse kiloweise in Eimern nach Hause getragen hätten. Die Krebse seien verschwunden, weil man die Flüsse begradigt habe, bemerkt Josef. Und dann fügt er hinzu: In ejinem geraden Fluss kann sich der Krrebs nicht verstecken.

Schließlich gibt es Nachtisch, Eis mit heißen Kirschen, und Wodka zum Warmwerden. Und Bärenfang, jene ostpreussische Wunderwaffe aus Honig und 95prozentigem Alkohol. Josefs Söhne lösen mit schmerzverzerrten Gesichtern die Lippen von den Gläsern. Sie hüsteln, lockern sich die Krawatten und legen die Jacketts ab und lachen darüber, dass sie früher von den anderen Kindern als Hitlerowski geschmäht wurden. Als sie nach Deutschland kamen, waren sie plötzlich keine Deutschen mehr, sondern Polen, die einen Sprachkurs absolvieren mussten, bevor sie sich um Arbeit bewerben konnten. Zu Hause, in Eislingen, bewahrt Erika in einer Mappe alle Dokumente ihres Neuanfangs in Deutschland auf, von der PO-Nummer über den Ausreiseantrag bis zum Zeugnis am Ende des Sprachkurses, Dikat, Aufsatz, Grammatik, gut, mündlicher Ausdruck, gut, Allgemeinbildung, sehr gut. Beweise ihres neuen Lebens.

Alle fanden sofort Arbeit. Das war der Moment, in dem sie wirklich ankamen. Auch wenn der Arbeitskollege zu Arnold sagte: Was heißt hier deutschstämmig? Hattet ihr wohl einen deutschen Schäferhund?

Glück, das ist für Arnold sein Schrebergarten, für Erika ihre Eigentumswohnung mit dem großem Balkon. Manchmal angelt Arnold im Neckar oder in einem Baggersee und denkt an Polen. Hubert angelt in Deutschland nie, weil er dann traurig wird.

Bis heute sind ihre Freunde Italiener, Griechen, ehemalige Jugoslawen – Migranten wie sie selbst. Denen sie erklären, dass man keine zwei Heimaten haben kann. Dem italienischen Kollegen, der sich noch als Rentner vor Sehnsucht nach seiner Heimat verzehrt, sagte Erikas Mann: Gino, du musst dich endlich entscheiden! Deutschland oder Italien?

Während der Fußballweltmeisterschaft wehte in Erikas Straße nur von ihrem Balkon eine Deutschlandfahne. Und in Arnolds Straße hatte außer ihm nur noch ein Russlanddeutscher die deutsche Fahne gehisst.

Der einzige der Geschwister, der gerne wieder nach Polen zurückginge, ist Hubert. Der Gedanke lebt immer in mir, sagt er, den gebe ich nicht auf. Er stößt den Satz trotzig hervor. In Szebruk, Schönbrück, hat er ein Haus für später gekauft, direkt am Seeufer, und wenn er morgens sieht, wie der Dunst über den See kriecht, ist er glücklich.

Jeden Sommer verbringt hier, mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern. Es geht ihm gut, in Deutschland, ja. Er ist erfolgreich in seinem Beruf als Schreiner, ja. Aber in seinem Herzen ist er immer noch derjenige, der im Winter 1989 mit einer Tragetasche nach Deutschland ging. In der Tragetasche war ein Bügeleisen. Und eine Decke. Aus der Türkei. Eine Plastikdecke, sagt er.


Das ist der Moment, in dem die Musik zu spielen beginnt. Monika fängt an zu tanzen. Ganz allein dreht sie sich lachend auf der Tanzfläche vor dem Kamin, klatscht in die Hände und fordert alle zum Mittanzen auf, so wie sie es als Hochzeitsköchin auch immer gemacht hat. Zwei alte Damen tanzen zusammen Foxtrott, so wie ich das von meinen ostpreussischen Großtanten kenne, die auch keine Geduld hatten, abzuwarten, bis sie ein Mann aufforderte.

Polnische Gegenwart und deutsche Vergangenheit. Meine Zeitreise ist jetzt an jenem Moment angelangt, an dem ich wieder jener Teenager in geflickten Jeans bin, dem diese nicht enden wollenden Familienfeiern peinlich waren, auf denen zu allem Übel auch noch gesungen wurde. Nazilieder, dachte ich und schämte mich, wenn ich bei Schwarzbraun ist die Haselnuss mitsang. Gleich würde mich einer meiner Onkel zum Tanzen auffordern. Ich blicke auf den Boden. Zu spät. Monikas ukrainischer Nachbar, Herr Noga, steht vor mir und zerrt mich mit einer so herrischen Bewegung zur Tanzfläche, dass ich mich nicht zu widersetzen wage.

Erleichtert applaudiere ich nach dem Tanz, und Herr Noga drückt seine Lippen auf meinen Handrücken, wie es sich in Polen für Kavaliere gehört. Jetzt wird der Kuchen aufgetragen, die Tische biegen sich unter der Last der Verschwendung. Sahnekuchen, Buttercremetorten, Streuselzitronencremetorten – und Monika sagt: Wenn es viel ist, ist es gut.

Noch während des Kuchenessens wird der gefürchtete Rundgesang angestimmt, exakt jener, der mich durch meine ganze Jugend hindurch verfolgt hat: Nun liebe Petra, sing eijn Lied! Nie fiel mir ein Lied ein, weshalb ich mit hochrotem Kopf dasaß, während die ganze Festgesellschaft spöttisch schmetterte: Sie blättert noch im Notenbuch! Sie präpariert sich immer noch! Erika singt im Duo mit Monika Kornblumenblau, und Hubert gesteht mir flüsternd, dass er es als Kind auch immer peinlich gefunden habe, wenn auf den Familienfesten gesungen wurde, und das noch auf Deutsch. Eine der ostpreußischen Tanten versucht, das Land der dunklen Wälder und der dunklen Seen anzustimmen, scheitert aber bei der Suche nach der richtigen Tonlage. Zu tief, zu tief!, ruft Monika.

Schließlich tanzen alle, Rock ’n‘ Roll und Jive und Foxtrott mit Herrn Noga, und manchmal zappeln wir einfach auch nur rum, singen Soldatenlieder: In der Heijmat, in der Hejimat, da gibt’s ejin Wiedersehn und lachen wie die Kinder. Josef führt Monika auf die Tanzfläche, und seine Kinder singen auf Polnisch das Lied Przezylam stoba tyle lat: Mit dir hab ich so viele Jahre verbracht. Und plötzlich fangen alle an zu weinen. Waldemar laufen die Tränen über das Gesicht, Heinrich auch, und Andreas wischt sich mit seinen großen Händen beschämt über die Augen, alle singen und weinen, und ich, ich weine auch mit.

Draußen ist sternenhelle Nacht. Und Josef sagt: Menschen finden sich.

trennlinie_grau

arrow_right zurück zur Übersicht