Die Sache mit der Zwangsheirat

Die Sache mit der Zwangsheirat

Arztpraxen werden zu Ferienwohnungen, Läden zu Luxushotels – der Tourismus hat in Venedig Vorrang. Aber was, wenn man da leben will? Und wie überlebt das die Stadt?

Ich lebe in Venedig. Wobei ich hinzufügen möchte, dass ich mir das nicht ausgesucht habe. Venedig ist mir passiert. Ich habe mich nicht in Venedig verliebt, sondern in einen Venezianer. Diese Erklärung ist notwendig, weil die Stadt keine Indifferenz zulässt. Sobald man das Wort Venedig ausspricht, wird entweder mit Thomas Mann um sich geworfen („die unwahrscheinlichste aller Städte“), vom letzten Brunetti-Film geschwärmt oder angestrengt Kulturkritik geübt. Als ich mich einmal mit einem Architekten zum Abendessen am Canal Grande traf, setzte er sich mit dem Rücken zur Rialtobrücke, weil er fand, dass die Rialtobrücke ein Klischee sei. Da wollte ich ihn erschlagen.

Ich bin kurz nach dem Mauerfall nach Venedig gezogen, antizyklisch sozusagen, denn in der Zeit fing gerade der Berlin-Hype an, also Subkultur und cool und die Graffiti auf der Yorckbrücke und nicht etwa die „leprösen Paläste“, die schon der Futurist Marinetti verdammt hatte – samt den „Schaukelstühlen für Idioten“, die im Kanal unter unseren Fenstern vorbeiglitten, beladen mit Reisegruppen aus Minnesota oder Osaka, die zu „Funiculi, Funicula“ mitklatschten und kreischten, als säßen sie in einer Achterbahn.

Ab fünf Uhr war man wieder unter sich

Man zieht nicht ungestraft in einen Mythos. Auch wenn ich das mit dem Mythos damals gar nicht so sah. Mir machte vor allem die Insellage zu schaffen. Und die Tatsache, dass die Venezianer nicht Italienisch, sondern Venezianisch sprachen, was ich anfangs für einen Sprachfehler hielt. Damals gab es noch keine Airbnb-Plage, keine Kreuzfahrtschiffe, keine Billigflüge. Nur Busladungen voll mit dem ehemaligen Ostblock, der den Kommunismus abgeschüttelt hatte, um endlich mal Tauben auf dem Markusplatz füttern zu können. Aber ab fünf Uhr nachmittags war der Zauber ungebrochen, man hörte wieder seine eigenen Schritte und die Schreie der Schwalben im Sturzflug. Im Caffè Florian saßen nach Veilchenpuder duftende venezianische Contessen und ein pensionierter venezianischer General mit schwarz gefärbtem Haar, der an dem Tisch rechts vom Eingang Hof hielt. Die Venezianer näherten sich ihm kratzfüßig, denn wenn es sich darum handelte, dem Sohn den Militärdienst zu ersparen, waren seine Beziehungen immer noch sehr wertvoll.

Und beim Bäcker in der Frezzeria hatte ich Mühe, mich gegen die hinfällig wirkenden venezianischen Großmütter durchzusetzen, die sich als gewiefte Vordränglerinnen erwiesen. Heute sind sowohl der Bäcker als auch die Großmütter verschwunden. Es gibt nur noch chinesische Taschenläden und Ein-Euro-Shops, die Wackelgondeln verkaufen. Und Pakistaner, die samt ihren Regenschirmen aus den Fugen des Trachytpflasters wachsen, sobald ein Tropfen fällt.

In den Gassen hört man kein Venezianisch mehr und nur selten Italienisch, stattdessen Englisch oder Rätoromanisch oder das Russisch der Reisegruppen, die sich hinter ihrem Reiseführer vollverkabelt durch Venedig schieben wie durch einen überfüllten Supermarkt – den ich „permesso, permesso“ rufend zu durchqueren versuche. Wobei ich die Touristen wie Slalomstangen benutze. Die Berliner jammern über die Gentrifizierung, wenn Touristen in Pferdekutschen durch Mitte fahren, ich kann darüber nur lachen.

Venedig auf dem Weg zum Schafott

In seiner berühmten Rede gegen die Venezianer, jene „glücklich in ihrem Wasser faulenden Dummköpfe“, beschied Marinetti, dass es besser sei, Venedig zu zerstören, als zuzusehen, wie es zu einer mumifizierten Museumsstadt verkommt, die zum ausschließlichen Gebrauch durch die Touristen bestimmt ist. Und sein aus Florenz stammender Schriftstellerkollege Giovanni Papini schrieb: „Wir sind Hausmeister in Leichenhallen und Dienstboten exotischer Vagabunden.“ Genauso fühle ich mich, wenn ich mal wieder fluchend die Mülltüten der amerikanischen, spanischen oder französischen Touristen vor die Haustür trage, die eines der Appartements über oder unter uns gebucht haben. Und denen wir mit vielsprachigen Merkzetteln vergeblich klarzumachen versuchen, dass sie sich um ihre Mülltüten bitte selbst zu kümmern haben.

Der Kulturkritiker Salvatore Settis, den viele Italiener am liebsten als Staatspräsidenten sähen, wurde bei seinem Vortrag über die Zukunft Venedigs mit Beifall überschüttet, als er sagte: „Der jahrhundertealte Einklang von Stadt und Land, der Italien zu Europas Garten werden ließ, ist eines gewaltsamen Todes gestorben. Seine Mörder waren keine barbarischen Invasoren, sondern selbstvergessene und die Gesetze missachtende Italiener.“ Settis hielt seinen Vortrag im Ateneo Veneto, dessen Aula Magna mitsamt ihren Pilastern, Marmorkapitellen und Deckengemälden von Palma dem Jüngeren, den Bildnissen von Veronese, Tintoretto und Pietro Longhi immer noch so aussieht, als würden sich gleich die vermummten Brüder von San Fantin hier treffen: Im Ateneo Veneto hatte einst die Bruderschaft der „Gehenkten“ ihren Sitz, die „Scuola dei Picai“, wie sie auf Venezianisch genannt wurde, die in Venedig dafür berühmt war, Todgeweihte auf ihrem letzten Weg zu begleiten, ihnen Trost zuzusprechen, bevor sie zwischen den Blutsäulen auf dem Markusplatz geköpft wurden und ihr Körper danach viergeteilt wurde.

Heute machen wir eigentlich nichts anderes, wir begleiten Venedig auf dem Weg zum Schafott. Und sprechen uns selbst dabei Trost zu.

Die höchste Lungenkrebsrate in Italien

Keine vier Jahre nach Settis’ Vortrag hat Venedigs Bürgermeister Luigi Brugnaro die Stadt für tot erklärt: Die Zukunft liege nicht in Venedig, sondern in Mestre, tönte er anlässlich der Eröffnung der Architekturbiennale. Aus seiner Sicht verständlich, hat ihn doch die Mehrheit der 180.000 Bewohner des Festlands gewählt und nicht die verbliebenen 55.191 Venezianer – die sich fragen, warum der Bürgermeister Renzi und Hollande für ihr Gipfeltreffen in Venedig in den Dogenpalast eingeladen hat und nicht in die Stadtbücherei von Mestre.

Brugnaro ist der erste Bürgermeister Venedigs, der nicht in Venedig lebt, sondern in Mogliano Veneto, weshalb er sich als „Festlandsvenezianer“ bezeichnet – von Venedig aus betrachtet so etwas wie ein rundes Quadrat oder trockenes Wasser. Wobei man ihm zugutehalten muss, dass seine in Venedig lebenden Vorgänger nicht weniger Zynismus an den Tag legten: Der von den Medien gehätschelte „Philosophenbürgermeister“ Massimo Cacciari rief bereits 1994 dazu auf, Venedig zu privatisieren – eine doch erstaunliche Aussage für einen ehemaligen Kommunisten. Aber Konvertiten neigen oft zum Extremismus, so auch Cacciari, der Venedig eine goldene Zukunft verhieß, falls die Stadt einen Bund fürs Leben mit Banken und internationalen Unternehmen schlösse: größter Kreuzfahrthafen des Mittelmeers, Ausbau des Flughafens, Großprojekte ohne Ende. Mehr, mehr, mehr. Nachzulesen in „Privatizzare Venezia“ – Untertitel „Der Stadtplaner als Unternehmer“, das sich liest wie ein neoliberales Manifest.

Seither lautet die Maxime der venezianischen Stadtväter: Kasse machen. Die Kreuzfahrtindustrie blüht wie Algen in heißen Sommern: Die Passagierzahlen sind explodiert, und nicht nur der Umsatz der privaten Betreibergesellschaft des Hafens (Präsident ist der ehemalige venezianische Bürgermeister Paolo Costa) hat sich verzehnfacht – 35 Millionen allein im Jahr 2011 –, sondern auch die Verseuchung der Lagune durch hochgiftige Benzopyrene von den Schiffsrümpfen, die Zerstörung der fragilen Ufer Venedigs infolge des Drucks von Tausenden Tonnen Wasser, der Elektrosmog durch die Radaranlagen, die Feinstaubbelastung und die amtlich anerkannte „signifikante Zunahme an Lungentumoren“: Venedig ist die Stadt mit der höchsten Lungenkrebsrate in Italien.

Allein am Canal Grande wurden in den vergangenen Jahren ein Schulamt, ein Nationaler Forschungsrat, das deutsche Konsulat, Justizbüros, der Sitz der Staatsanwaltschaft, Verkehrsbetriebe, Arztpraxen und Lagerhäuser in Luxushotels verwandelt. Kaum hat der venezianische Bürgermeister seine Unterschrift unter die veränderten Nutzungsbestimmungen eines Gebäudes gesetzt, schon explodiert der Gewinn: Dank des Federstrichs des Bürgermeisters Giorgio Orsoni und der obersten Denkmalschützerin Venedigs, die sämtliche Umbauarbeiten eilfertig abnickte (Rolltreppe, gigantische Dachterrasse), konnte auch die einstige deutsche Handelsniederlassung, „Fondaco dei Tedeschi“ in ein Luxuskaufhaus verhext werden: ein Schnäppchen für die Unternehmensgruppe Benetton, die das Kulturdenkmal für weniger als ein Drittel des Marktpreises kaufen konnte.

Eine Milliarde Euro für Bestechungsgelder

Während Settis über die Zukunft Venedigs sprach, waren die Hochwassersirenen zu hören – wer gekommen war, hatte in einer Plastiktüte auch seine Gummistiefel mitgebracht. Und selbst mit dem Hochwasser hat man hier ein Geschäft gemacht: Im Mai 2014 wurde Bürgermeister Orsoni wegen Korruption verhaftet – zusammen mit fünfundvierzig weiteren Spitzen der Gesellschaft, darunter der Ministerpräsident des Venetos, Ex-Minister, Staatssekretäre, hohe Verwaltungsbeamte, Finanzgeneräle, eine Europaparlamentarierin, die alle Bestechungsgelder vom Consorzio Venezia Nuova entgegengenommen haben – die mit dem Bau der 7,6 Milliarden teuren Hochwasserschleuse beauftragt wurde. Und die vermutlich nie funktionieren wird, weil die Pläne mehr als fünfzig Jahre alt sind und wesentliche Teile bereits vor sich hinrosten.

Als ich gerade erst nach Venedig gezogen und noch sehr deutsch war, glaubte ich, dass sich hinter dem klangvollen Consorzio Venezia Nuova ein unabhängiger wissenschaftlicher Rat verbergen würde. Nur durch Zufall bekam ich mit, dass es ein Zusammenschluss norditalienischer Bauunternehmer ist, der 1983 ohne jede öffentliche Ausschreibung mit der Bekämpfung des Hochwassers in Venedig beauftragt worden war. Man hatte also den Bock zum Gärtner gemacht.

Das Consorzium Venezia Nuova verteilte seine Geschenke überall in Venedig: an die Fenice-Oper, an die Stiftung des venezianischen Bischofs. An Bürgermeister Orsoni, für seinen Wahlkampf. Eine Milliarde Euro für Bestechungsgelder.

Als Salvatore Settis im Ateneo Veneto redete, saßen im Publikum nicht die üblichen fünf venezianischen Damen im nach Mottenpulver riechenden Nerz, die sich einen Vortrag über den Einfluss von Venedig auf das Werk von Antonello di Messina anhören, sondern renitente Rentner, die gegen den Ausverkauf des Lidos protestieren, junge Mädchen, die zum „No Grandi Navi“-Komitee gehören, das gerade erst vor ein paar Wochen wieder eine kleine, feine Seeschlacht gegen die Kreuzfahrtschiffe in Venedig geführt hat, die Anhänger von Italia Nostra, dem italienischen Kulturschutzbund, kurz: all diejenigen in Venedig, die sich der Barbarei widersetzen.

Von der Zwangshochzeit zur Rettung

Inzwischen gibt es dreißig Bürgerinitiativen in der Stadt, die alle versuchen, Venedigs Schicksal zu wenden. „Venessia.com“ ist eine davon. Ins Leben gerufen hat sie Matteo Secchi. Er hat Venedig bereits im Jahr 2009 spektakulär zu Grabe getragen: ein Leichenzug, der es bis in die Sendungen von CBS und Al Dschazira schaffte. Zur Zeit engagiert sich Matteo Secchi dafür, mit einer Volksabstimmung die Trennung Venedigs vom Festland zu erzwingen. „Meine Eltern haben sich auch scheiden lassen, und für mich als Kind war es gut“, sagt er.

Das Problem ist nur, dass Venedig zwangsverheiratet wurde – mit dem mittellosen Festland, das nicht im Traum auf die Idee kommt, einer einvernehmlichen Scheidung zuzustimmen. Venedig hat bereits viermal vergeblich versucht, seinen ungeliebten Ehepartner loszuwerden, der an ihr klebt wie eine Napfschnecke am Felsen. Die Zahl der Bewohner von Mestre ist dreimal so hoch wie die Venedigs, weshalb das Festland nicht nur Venedigs Bürgermeister bestimmt, sondern auch den Ausgang des Referendums. Demokratie eben.

Matteo Secchi ist auch die Leuchtanzeige im Schaufenster der Apotheke Morelli zu verdanken, auf der die Zahl der letzten Venezianer nachzulesen ist: Heute morgen waren es 55191, vor zwanzig Jahren waren es noch zwanzigtausend mehr. Als wirksamstes Mittel zur Beseitigung der letzten Venezianer hat sich die Ferienwohnung erwiesen, nicht mal die Pestepidemie von 1630 war so effektiv.

Im Sommer bunt, im Winter geschlossen

Niemand vermietet mehr an Venezianer, nur noch an Touristen. Wenn es gut läuft, kann man mit einer einzigen Ferienwohnung pro Monat zwei- bis dreitausend Euro kassieren, die als „Bereicherung des Familieneinkommens“ nur gering besteuert werden. Falls man nicht gleich schwarz vermietet. Inzwischen übernachten in Venedig pro Jahr zehn Millionen Touristen in privat vermieteten Appartements – Zweit- und Dritt- und Viertwohnungen nicht nur von Mailändern und Römern, sondern auch von Venezianern. Darunter auch eine Stadträtin, die ihre fünf Wohnungen erst an ihren Ehemann vermietete, der eine Agentur für Luxus-Ferienwohnungen betreibt, und schließlich für ihre Wohnungen eine Nutzungsänderung beantragte: von privat zu hotelgewerblich – im venezianischen Stadtrat, in dem sie selbst sitzt.

Im Winter, wenn es mit der Vermietung etwas hapert, läuft man in Stadtteilen wie Dorsoduro an ganzen Straßenzügen mit geschlossenen Fensterläden vorbei.

Aber wahrscheinlich wollten Sie das alles gar nicht so genau wissen. Vielleicht wollten Sie nur hören, wo Sie das „typisch venezianische Leben“ finden können, nach dem mich kürzlich eine deutsche Radiomoderatorin fragte.

Nach dem suche ich auch, wenn ich morgens durch die Gassen meines Viertels gehe, durch die Frezzeria, die Calle Fuseri oder die Calle della Mandola und dabei die chinesischen Taschenläden zu übersehen versuche – Läden, die mal eine Fleischerei waren, ein Gemüsehändler, eine Parfümerie, ein Vertrieb von Bohnermaschinen oder ein Schreibwarenhändler – weshalb ich nach oben blicke, um einen gotischen Fensterbogen zu betrachten oder ein barockes Ornament, das mir so noch nie aufgefallen war, bis ich von einer Reisegruppe umgerannt werde.

Vor kurzem noch sah man in jedem dieser Läden einen schwarzen Kopf hinter der Theke. Aber als die Chinesen bemerkten, dass der schwarze Kopf im Hintergrund langfristig geschäftsschädigend ist, weil selbst die Touristen anfingen herumzukritteln, nach dem Motto: Wie schrecklich ist das denn, wenn in unserem romantischen Venedig nur noch Chinesen in den Läden sitzen?, sind sie dazu übergegangen, italienische Verkäuferinnen einzustellen und das Ganze Made in Italy zu nennen.

Wenig Hoffnung für Venezianer

Und während wir Venedigs Niedergang zählen und dokumentieren – die letzte Buchhandlung, der letzte Fleischer, die millionste Ferienwohnung – und das „No Grandi Navi“-Komitee den deutschen Umweltexperten Axel Friedrich nach Venedig einlädt, der nach seinen Messungen feststellt, dass die Luft in Venedig schlechter ist als in Peking, weil ein einziges Kreuzfahrtschiff die Luft verschmutzt wie vierzehntausend Autos, und die Unesco damit droht, Venedig im nächsten Jahr auf die Rote Liste des gefährdeten Welterbes zu setzen, passiert: nichts. Jedenfalls nichts, was von Vorteil wäre für Venedig.

Ganz kühne Venezianer träumen von einem Spezialstatut für die Stadt: also so etwas zu werden wie Sizilien oder Südtirol oder das Aostatal – Regionen, denen Autonomie und erhebliche Vergünstigungen eingeräumt wurden, um sie bei Laune und im italienischen Zentralstaat zu halten. Die Wirklichkeit sieht allerdings anders aus. Der einzige Sieg, den die renitenten Venezianer in all den Jahren erreicht haben, ist der, dass an der Riva dei Sette Martiri keine Kreuzfahrtschiffe mehr anlegen dürfen, wo die Schiffsmotoren die Wände in der Via Garibaldi erzittern ließen. Den letzten Stoß gab die 102.000 Bruttoregistertonnen schwere, 272 Meter lange und 62 Meter hohe Carnival Sunshine, die 2013 aufgrund eines Manövrierfehlers (sic!) das Ufer nur um wenige Meter verfehlte.

Alternative zum touristischen Fundamentalismus

„Das Einzige, was sie hier wirklich fürchten, sind Klagen“, sagt Paolo Lanapoppi. Er ist ein emeritierter Anglistikprofessor und gehört zu den Aktivisten des Kulturschutzbundes Italia Nostra – der gegen den Verkauf und den Umbau der deutschen Handelsniederlassung klagte, verlor und sich dennoch nicht beirren lässt: Italia Nostra hat konkrete Pläne zum Überleben in diesem Death Valley entwickelt, ein „Manifest für Venedig“: Es reicht von der Online-Voranmeldung für Reisegruppen über Steuererleichterungen für Vermieter von Wohnungen an Venezianer bis hin zum Vorschlag, den ehemaligen Petrochemiehafen Marghera in einen Technologiepark zu verwandeln – als Alternative zu dem touristischen Fundamentalismus, der von den regierenden Parteien seit Jahrzehnten gepredigt wird.

„Und warum nicht dem Beispiel von San Francisco folgen, wo Wohnungen nicht länger als neunzig Tage im Jahr als Ferienwohnungen vermietet werden dürfen – wodurch eine langfristige Vermietung plötzlich wieder vorteilhaft wurde?“, fragt Paolo Lanapoppi. Wir sitzen bei strömendem Regen in einer Bar unweit des Arsenale und blicken auf die beiden Löwen, die das Arsenale bewachen. Hinter ihnen hängt ein in Stein gefräster Vers aus dem Inferno der „Göttlichen Komödie“: „Gleich wie man in Venedigs Arsenal / Das Pech im Winter sieht aufsiedend wogen / Womit das lecke Schiff, das manches Mal / Bereits bei Sturmgetos das Meer durchzogen / Kalfatert wird – da stopft nun der in Eil’ / Mit Werg die Löcher aus am Seitenbogen.“

Nein, die letzten Venezianer werden sich nicht kampflos ergeben, selbst wenn der Sturm tobt und das Schiff leckt. Als Poveglia wie so viele Inseln der venezianischen Lagune zum Spekulationsobjekt wurde und an den jetzigen Bürgermeister und Investor Luigi Brugnaro für den Preis einer Zweizimmerwohnung in San Marco verkauft werden sollte, warf sich die Widerstandszelle „Poveglia für alle“ in den Weg: eine Bürgerinitiative, die auf der Insel Giudecca entstand und in Poveglia ein Zukunftsprojekt venezianischer Bürger sieht, ein Modell für ökologisch wertvollen Tourismus in der Lagune. Venezianer und Venedig-Liebhaber – insgesamt fast fünftausend Unterstützer – schafften es, in einer Crowdfunding-Aktion eine halbe Million Euro aufzutreiben und den Verkauf an Brugnaro zu verhindern. Zumindest vorerst.

Rebellische Venezianer organisieren Flashmobs

Dennoch kann sich „Poveglia für alle“ keineswegs sicher sein, dass der italienische Staat nicht am Ende doch den Interessen des Bürgermeisters und Investors nachgibt: Brugnaro hat gegen die Entscheidung Beschwerde beim obersten Verwaltungsgericht eingelegt. Bis es sein Urteil fällt, lädt „Poveglia für alle“ die Bürger regelmäßig zum Reinemachen auf die Insel ein.

Bei meinem letzten Besuch auf der Insel stolperte ich an keifenden Möwen vorbei durch das Brombeergebüsch – während Alberto, der Fischer, der mich mitgenommen hatte, in seinem Boot sitzen blieb und Muscheln aß, die er von den Fundamenten geklaubt hatte. Die Lagune schillerte wie ein Opal. Poveglia hatte uns zurück in die Kindheit katapultiert: zurück in die Zeit, als ich auf Grashalmen pfiff und von der Südsee träumte – und von Delphinen, die mich auf ihrem Rücken trugen, in einem glasklaren, türkisfarbenen Meer.

Die letzten rebellischen Venezianer betreiben Websites, organisieren Flashmobs und lassen bei der Eröffnung der Opernsaison Papierflieger auf das Publikum der Fenice herabregnen, auf denen „Schluss mit den Hotels, wir wollen Wohnungen“ steht oder „Kein neuer Kanal für die Kreuzfahrtschiffe“ oder „Befreien wir Venedig von Korruption und Vetternwirtschaft“ – wie es die Gruppe „25 aprile“ hingekriegt hat, die sich nicht zufällig nach dem Tag des heiligen Markus und der Befreiung Italiens vom Faschismus genannt hat.

„Residenti resistenti“ – Resistente Anwohner

Also haben die letzten Venezianer Anfang dieses Monats dreihundert Banner an ihre Fenster gehängt, auf denen „Venedig ist kein Hotel“ steht oder „Venedig will respektiert werden“ oder „Residenti resistenti“, wofür ich mich entschieden hatte, weil es so schön klingt – aber mit „bockige Bewohner“ nur unzureichend übersetzt ist.

„Man fühlt sich nicht länger allein“, sagt Matteo Secchi. Und Paolo Lanapoppi sagt: „Man kann auch mit der Fahne in der Hand sterben.“

So schnell kriegt ihr uns nicht tot.

(erschienen in der FAZ)

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