Gratteri sagt: »Die Mafiosi bewegen sich wie unter einer Glasglocke. Ohne Verbrechen existiert die Mafia nicht. Und wenn die Mafia nicht existiert, dann gibt es auch keine Geldwäsche. Und keine Ermittlungen. Und wo keine Ermittlungen sind, gibt es auch kein Verbrechen, so beißt sich der Hund in den Schwanz.« Gratteri seufzt. Wie oft hat er das schon beklagt. Ob er es noch erlebt, dass »Mafia-Zugehörigkeit« europaweit als Straftatbestand anerkannt wird?
Ob die Deutschen sich im Klaren seien, dass die ’Ndrangheta auch in Deutschland die Verwaltung unterwandere, die lokalen Behörden infiltriere, um den Markt zu beherrschen? Dass schon jetzt viele glaubten, die Mafia sei eine Art romantische Idee, so etwas wie Robin Hood?
Und tatsächlich, manchmal liest sich der BKA-Bericht über das Innenleben der Mafia wie die Inhaltsangabe eines Splatterfilms, in dem das Zerstückeln menschlicher Körper die Handlung ersetzt. Da ist Giuseppina Cariati, die Frau eines inhaftierten Chefs des Farao-Clans, umgebracht von ihrem Schwager und einem Komplizen, weil sie ihren Mann mit einem verfeindeten Mafioso betrogen hatte. Ihr Mörder schoss ihr zuerst in den Mund, weil sie zu viel erzählt hatte, dann stieß er ihr mit einem Messer in ihr Geschlechtsteil, weil sie untreu geworden war – und schließlich wurde sie so vergraben, dass noch ein Bein aus der Erde herausragte.
Auftraggeber des Mordes war der Farao-Clan, jene Familie, die seit Anfang der achtziger Jahre in Kassel, Stuttgart, München, Frankfurt am Main und Dortmund aktiv ist. Der Mord wurde in Italien begangen. In Deutschland hätte er zu viel Aufsehen erregt.
Münster-Hiltrup, das ist eine Welt, die im Wesentlichen aus rotem Klinker, imposanten Kastanienbäumen und der Überzeugung besteht, dass hier nichts Schlimmeres passieren kann, als von einem rechthaberischen Radfahrer überrollt zu werden.
Einige Polizisten haben sich auf den Weg in das einzige Restaurant gemacht, das man von der Hochschule der Polizei in Münster-Hiltrup zu Fuß erreichen kann. Das Piccolo Mondo. Auf dem Menü stehen eingelegte Sardellen, gebratene Auberginen, Pasta mit grünem Spargel und sizilianischer Weißwein.
An der Hochschule hat die Tagung über Organisierte Kriminalität begonnen, das Piccolo Mondo ist voll mit Männern, die so auffällig ausdruckslos von ihrer Pasta hochblicken, wie es nur Polizisten hinkriegen, denen man nicht ansehen soll, wie viel sie wissen. Etwa, dass in der Universitätsstadt Münster der aus der Provinz Crotone stammende Clan der Grande-Aracri herrscht, der sich den klassischen Betätigungsfeldern wie Rauschgifthandel, Erpressung und Geldwäsche widmet.
Während der Ermittlungen gegen den Clan wurden im Jahr 2005 im Rostocker Hafen 126 Kilo Kokain gefunden, versteckt in drei Seesäcken in unter dem Wasser liegenden Ruderkästen eines venezolanischen Kohlefrachters, sowie 600 Gramm Kokain am Frankfurter Flughafen.
Anders als bei den Ermittlungen gegenüber den Grande-Aracri in Deutschland, die stets erfolglos endeten, konnten bei dieser internationalen Aktion über hundert Mafiosi festgenommen werden, darunter auch ein Clanangehöriger, der in Münster Geschäftsführer eines Großhandelsunternehmen war.
An den Tischen im Restaurant Piccolo Mondo konzentrieren sich die Kriminaldirektoren, Dezernatsleiter und Einsatzleiter weiter auf ihre Pasta – auch weil sie einander, bei allem Respekt, herzlich misstrauen. Egal ob sie aus Bayern, Berlin, Thüringen oder Nordrhein-Westfalen kommen: Die einen setzen auf Prävention und die anderen auf Repression. Wer eingesperrt sei, begehe kein Verbrechen, sagt einer der Beamten. Und ansonsten gelte: »Wir haben hier keine toten Richter und keine toten Staatsanwälte. Sonst sähe die Gesetzgebung anders aus.«
Die Mafia werde in Deutschland nicht als Bedrohung empfunden, weil ihre Verbrechen so sauber seien: Im Empfinden der Bürger sei ein Wohnungseinbruch schlimmer als eine dubiose Investition von 10 Millionen Euro, meint ein Ermittler, der, wie die anderen Fahnder auch, seinen Namen nicht in der Zeitung sehen will. Nicht wegen der Mafia. Sondern wegen des Innenministeriums.
In München stammt die letzte Ermittlung wegen einer Schutzgelderpressung aus dem Jahr 1993 – was nichts anderes bedeute, als dass München verkauft sei, filetiert und aufgeteilt, wie ein Münchner Fahnder sagt. Mafiosi, das seien in München Italiener, die in der Nobelgesellschaft verkehrten und sich nicht weiter mit Schutzgelderpressungen aufhalten müssten. Anders als die russischen Dumpfbacken, die ihre Rivalitäten noch offen austrügen.
Ob die Politik das Problem erkennt? Politiker seien Wellenreiter, sagt der Kriminalbeamte. Und die jetzige Welle heiße islamistische Terrorgefahr. Wenn Beamte, die eigentlich dafür zuständig wären, Mafia-Strukturen zu ermitteln, abgezogen würden, dann merke das in Deutschland niemand. Niemand außer den Mafiosi.
Auf manchen Seiten liest sich der BKA-Bericht wie ein Kompendium unternehmerischer Wundergeschichten: etwa die jenes Handelsvertreters für Textilien, der 1981 nach München zog und heute einen steuerpflichtigen Jahresumsatz von 665 Millionen Euro erzielt, bedeutende Immobilien in München und in Ostdeutschland besitzt – und der verdächtigt wird, für die Sacra Corona Unita Geld zu waschen, die Mafia-Organisation aus Apulien. Mit einer gewissen Resignation stellt das BKA fest: »Hier ist nicht nachvollziehbar, wie dieser Italiener innerhalb von 15 Jahren vom einfachen Stoffhändler zum Multimillionär aufsteigen konnte. Die Summen, die er in Leipzig investiert hat, sind enorm hoch und selbst mit einem gut gehenden Unternehmen nicht zu erklären. Weiterhin verfügt er über beste Kontakte zur Wirtschaft und Politik, so dass eine weitergehende Abklärung in Deutschland sehr schwierig sein wird.« Oder die Episode über jenen international gesuchten Camorra-Boss, der sich erst bei einem Kellner in Leipzig versteckt und mit ihm sogar die Dokumente getauscht haben soll, weil beide sich so frappierend ähnlich sehen – und der dann zehn Millionen Dollar in ein Bergbauunternehmen in der Mongolei investierte.