Auf den 396 Seiten der vertraulichen Polizeistudie (»VS – nur für den Dienstgebrauch«) geht es um Waffenhandel, Mord und Geldwäsche, um Drogenhandel, Giftmüllentsorgung und Schutzgelderpressung, um Stammbäume von Mafia-Familien, Clanchefs und ihren Handlangern, um Bandenmitglieder und ihre deutschen Vertrauten: Anwälte, Steuerberater, Bankberater – bis zu den deutschen Ehefrauen der Bosse.
Der BKA-Bericht ist aber auch eine Art Guide Michelin des Verbrechens: Hunderte von der ’Ndrangheta betriebene Restaurants werden aufgelistet, allein 61 gehören dem Clan der Pelle-Romeo, nur 9 dem Clan der Nirta-Strangio. Da konnte eine gewisse Missgunst nicht ausbleiben.
Der Blumenhändler in der Duisburger Innenstadt, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, weiß nur Gutes über den ermordeten Wirt des Da Bruno zu berichten, über den beim BKA aktenkundigen Sebastiano Strangio. Er sei ein liebenswürdiger Nachbar gewesen. Ein Wirt, der sich gewissenhaft um sein Lokal gekümmert und stets freundlich gegrüßt habe, wenn er morgens um elf die Wohnung verließ.
Dass Sebastiano Strangio (der nicht mit seinem mutmaßlichen Mörder Giovanni Strangio verwandt war) zur Mafia gehörte, vermutete der Blumenhändler allerdings schon seit jener Zeit, als sich das Da Bruno noch in der Tonhallenstraße befand, dort, wo inzwischen eine juristische Fachbuchhandlung eingezogen ist. In der Weihnachtszeit, wenn der Blumenhändler noch bis spät in die Nacht Adventskränze binden musste, beobachtete er, wie das Da Bruno gelegentlich von Polizisten umstellt wurde. Einmal seien 60 Polizisten angerückt und hätten alle Gäste aufgefordert, das Restaurant zu verlassen: Hausdurchsuchung. Diese Unannehmlichkeiten hätten die Besucher des Da Bruno allerdings nicht davon abgeschreckt, wiederzukehren, oft habe sogar eine Schlange von Gästen auf einen freien Tisch gewartet.
Nachdem das Da Bruno in das Klöcknerhaus hinter dem Bahnhof umgezogen war, habe Sebastiano Strangio, der freundliche Mafioso, den Blumenhändler wiederholt in sein neues Lokal eingeladen. Einmal habe er dieses Angebot angenommen. Aber es sei ihm irgendwie unangenehm gewesen, sagt der Blumenhändler. Vor allem, weil er keinen Cent bezahlen durfte.
In dem BKA-Bericht tauchen allein 17 Sebastiano Strangios auf, 10 Antonio Romeos, 13 Domenico Giorgis. Sie wurden oft nicht nur in demselben Dorf, sondern auch in demselben Jahr geboren, weshalb die Fahnder zu Namen, Geburtsorten und Geburtsdaten auch noch die Namen und Geburtsdaten der Mütter abgleichen mussten. Und um die Verwirrung weiter zu steigern, tragen manche Clanmitglieder auch noch die Namen des gegnerischen Clans. In der Vergangenheit wechselte ein Familienzweig auf die andere Seite. Mafiosi, die alle miteinander verwandt, verschwippt und verschwägert sind: Nicht nur für Laien stellt sich die ’Ndrangheta so undurchdringlich dar wie die chinesischen Triaden.
Auf dem Flur zu seinem Büro in Reggio Calabria liegen Stapel von Ermittlungsakten auf dem Boden, Untersuchungshaftbefehle kiloweise. Der kalabrische Staatsanwalt Nicola Gratteri hat vor Kurzem ein neues Zimmer mit schöner Aussicht auf die Meerenge von Messina bezogen, weil er zum Leitenden Oberstaatsanwalt der Behörde von Reggio Calabria befördert wurde. Die Beförderung sei keineswegs einstimmig erfolgt, betont Gratteri. Was ihn freue. Denn Einstimmigkeit sei stets gekauft.
Am Nachmittag leuchtet das Meer vor dem Fenster der Staatsanwaltschaft wie ein Opal, aber Gratteri hat nur Blicke für seine Aktenbündel. Vermutlich denkt er gerade darüber nach, wie viele Festnahmen ihm während dieses Gesprächs entgehen. Gratteri ermittelt nicht nur gegen die Täter der Duisburger Mordnacht, sondern auch gegen die mächtigsten Clans von San Luca, gegen die Pelle-Romeo und die Nirta-Strangio. Mehr als 40 Mafiosi aus San Luca hat er verhaftet. Im Juni 2009 gelang es ihm sogar, den Clanchef Antonio Pelle festzunehmen, bei dem erst im letzten Jahr 150 Millionen Euro beschlagnahmt wurden – vermutlich ein bescheidener Teil seines aus Immobilien, Autos und Grundstücken bestehenden Vermögens. Gratteri sagt: »Das bedeutet nichts.«
Mafiosi wachsen nach wie Tumorzellen. San Luca hat 4000 Einwohner und 39 Mafia-Clans. Auch die Festnahme von Giovanni Strangio ändere nichts. Aber sie sei ein aussagekräftiger Hinweis auf die Macht der Mafia in Deutschland.
In Deutschland ist die Mafia-Zugehörigkeit kein strafbares Delikt und die Geldwäsche ungleich einfacher als in Italien: Solange dies so sei, sagt Gratteri, könne die Mafia in Deutschland nicht wirkungsvoll bekämpft werden.
In Italien können die Güter einer Person, die nur im Verdacht steht, zur Mafia zu gehören, konfisziert werden. In Deutschland muss die Polizei nachweisen, dass das investierte Geld aus schmutzigen Quellen stammt. In Deutschland dürfe weder in öffentlichen Lokalen noch zu Hause abgehört werden, sagt Gratteri. Auch sage der Paragraf 129 des deutschen Strafgesetzbuches, der die Bildung einer kriminellen Vereinigung unter Strafe stellt, nichts über die Mafia-Zugehörigkeit, weil einer kriminellen Vereinigung ja die Vorbereitung eines konkreten Verbrechens nachgewiesen werden müsse. Wohingegen in Italien bereits die Clanzugehörigkeit unter Strafe steht.
»Man muss sich keine Sorgen machen, wenn man durch Duisburg, Frankfurt, Kopenhagen geht: Die Mafiosi schießen dort nicht, sie ermorden niemanden, sie erpressen kein Schutzgeld, sie verbrennen keine Autos«, sagt Gratteri. Zur Geldwäsche braucht man nur Ruhe und Unauffälligkeit.
Die Arbeit der Ermittler in den Niederlanden und in Deutschland müsse eigentlich jetzt erst beginnen: Denn da, wo ein flüchtiger Mafioso gefunden wird, gebe es auch immer eine operative Basis, eine Zelle, die kleinste Einheit in der ’Ndrangheta-Struktur. Giovanni Strangio habe sich seit einem Jahr in Amsterdam aufgehalten. Er habe Kontakte geknüpft und mit Drogen gehandelt. Und was geschehe? Nichts.
Gratteri könnte manchmal verzweifeln. Seit der Abschaffung der Grenzkontrollen aufgrund des Schengener Abkommens im Jahr 2001 hat sich die Mafia in Nord- und Mitteleuropa stark ausgedehnt. In Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Frankreich, in Spanien und Portugal, in Ländern, in denen die Öffentlichkeit meist glaubt, dass die Mafia nicht existiert – nur weil es keine Toten gibt, bis auf jene in Duisburg.