Mikrokosmos

Das Schönste ist morgens die Fahrt zum Lido. Der warme Wind, die Schreie der Möwen, der Rost am Vaporetto. Kino. Aber dann. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Da gibt es eine entfesselte Katholikin, die mit einem Kruzifix masturbiert, weil mit ihrem querschnittsgelähmten (!) muslimischen (!) Mann nichts mehr geht, in jeder Hinsicht. So in etwa stellt sich das in „Paradies: Glauben“, dem Film des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl dar, dem ein ultrakonservativer, österreichischer Katholikenverband auch noch den großen Gefallen tat, ihn wegen Blasphemie anzuzeigen. Ich bin nach einer Stunde raus: ok, ok, habe verstanden. Quälend lange Einstellungen, wenig Worte und wenn, dann im pseudodokumentarischen Stil, viel Geräusche (das Klatschen der Lederpeitsche auf dem Rücken der Katholikin, Reißverschlüsse, religiöses Gesinge) Vielleicht muss man ultrakonservativ sein, um sich provoziert zu fühlen. Ich mochte die Art nicht, wie die Figuren denunziert werden. Ich mochte auch die Pseudodoku-Anmutung nicht. Ich mochte eigentlich nichts.

Mein Favorit (kaum habe ich das ausgesprochen, wird dieser Film garantiert nichts gewinnen, so sorry) ist The Master, der Film von Paul Thomas Anderson über einen Sektenguru (der einzigartige, wunderbare, grandiose, zum Niederknien exzellente Philip Seymour Hoffmann) und seinen Helfer, dem traumatisierten Kriegsveteran (Joaquim Phoenix – mir gefiel er, auch wenn er es mit dem Grimassieren und dem In-sich-Zusammenfallen manchmal, Oscar, Oscar, etwas übertreibt). Ob Scientology und der Guru Hubbart wirklich die Vorlage sind, ist eigentlich nebensächlich – es ist vor allem ein Film über die Rettung einer verlorenen Seele.  Der mit einer der poetischsten Liebeserklärungen der Filmgeschichte endet.

Dann gab es noch die französische Komödie „Cherchez Hortense“, in die mich meine klugen Kritiker-Freundinnen reingeschubst haben, denn natürlich wusste ich nicht, dass der Regisseur Pascal Bonitzer Co-Autor von Jacques Rivette war. Klassische Mann-Frau-noch-ein-Mann-noch-eine Frau-Geschichte um ein bürgerliches Pariser Paar. Mit ein paar sehr lustigen Szenen, allein dafür lohnt es sich.

Ich habe wiederum meine Kritiker-Freundinnen in den italienischen Wettbewerbsbeitrag reingeschubst, denn italienische Filme haben (in Venedig) einen noch schlechteren Ruf als koreanische, russische oder  afghanische Filme. Was soll ich sagen. E stato il figlio (Es war der Sohn), nach dem Roman von Roberto Alajmo ist keine Ausnahme. Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet, als der Regisseur in verschiedenen Interviews ankündigte, seine ganz persönliche Sicht des (wunderbaren) Romans zu realisieren. Ciprì ist für groteske Dokumentationen mit Laien-Darstellern bekannt geworden.

Dazu auch folgender Dialog zwischen zwei italienischen Kritikern:

Er: Die typische italienische Familie eben.

Sie: Die Scheiße der italienischen Familie, glaubst du wirklich, dass das unsere wahren Probleme sind? Und dann noch das unschuldige Opfer, dass ich nicht lache. Das soll also Gesellschaftskritik sein?

Er: Es ist eben ein Mikrokosmos.

Sie: Was für ein Scheiß-Mikrokosmos. Völlig daneben.

Er: Ich will den Film ja auch nicht verteidigen.

Sie: The Master  ist eine ganz andere Klasse.

 

Es gibt aber auch wohlwollende Kritiker.