Giorgio Bocca 1920-2011
Ich wette, dass er Weihnachten nicht ausstehen konnte. Vielleicht fand er es deshalb passend, sich genau an diesem Tag von der Welt zu verabschieden. Bocca wurde in Italien als Monument der Unbeugsamkeit verehrt, einer, der sich immer schon der Schönfärberei, dem Weihrauch und der Absolution verweigert hat. Und der nur in Ausrufungszeichen redete: Mit der Beichte und den Sündenerlässen habe die katholische Kirche die Italiener rettungslos verdorben! Geblieben sei ein Volk von Dieben, ehrlos bis aufs Mark! Selbst im faschistischen Italien habe es noch einen Moralkodex gegeben, den alle mehr oder weniger respektierten! Jemand, der gestohlen hatte, war ein Dieb und sei verachtet worden. Und heute klauten selbst die Dilettanten. Diebe beklauten Diebe. Und die Jungen? Gleichgültig. Wollten einfach nur bequem leben. Nicht mal anständige Anarchisten gebe es mehr! Wie sonst sei zu erklären, dass Berlusconi immer noch lebt?
Das rief Bocca zum Warmwerden, das letzte Mal, als ich ihn im April dieses Jahres in seiner Wohnung in Mailand interviewte. Kein anderer Journalist zeichnete die zwischen Katholizismus, Kommunismus und okkulten Mächten schwankenden Gesichter Italiens so genau wie Giorgio Bocca. In zahllosen Büchern und Artikeln beschrieb er Italiens Häutungen: Nach dem Faschismus, als alle Widerstandskämpfer gewesen sein wollten. Nach dem Fall der Mauer, als der Democrazia cristiana das Gespenst des Kommunismus abhanden kam und den Kommunisten das Geld aus Moskau. Nach dem Schmiergeldskandal der 1990er Jahre, der die etablierten Parteien in seinen Schlund riss. Bocca kannte sie alle aus der Nähe, den siebenfachen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti, den „Göttlichen“, laut späterem Urteil mafianahe, immer noch Senator auf Lebenszeit. Bettino Craxi, den verblichenen Sozialistenchef, der mit seinen Regierungsdekreten in den 1980er Jahren den Weg frei machte für Berlusconis Privatsender, das Fundament der Berlusconischen Familienholding „Fininvest“. Und der dafür sorgte, dass Berlusconi in die Geheimloge „Propaganda Due“ aufgenommen wurde – wo er sich an der Seite von Militärs, Geheimdienstlern, Mafiabossen und anderen Spitzen der Gesellschaft befand, die einen Rechtsputsch planten. Unter Berlusconi hatte Giorgio Bocca in den 1980er Jahren den Versuch einer Fernsehkarriere gemacht, die er beendete, als er merkte, wer Berlusconi ist: Ein Aas, ein Mann ohne Moral, ohne Ernsthaftigkeit, ohne Kultur! Vom klinischen Standpunkt aus gesehen: Ein Größenwahnsinniger!
Das Arbeitszimmer in Mailand sah mit seinen verschiebbaren Bücherregalen aus wie der Saal einer Universitätsbibliothek. Boccas Blick entging nichts, das Alter hatte noch keinen Schleier über seine Augen gelegt, funkelnd lauerten sie in den Augenhöhlen. Bis zu seinem Tod schrieb er wöchentlich zwei Kolumnen, im „Espresso“ und in der „Repubblica“. Die Espresso-Kolumne trug den programmatischen Titel „Der Anti-Italiener“ und wurde an jenem Vormittag von dem Assistenten gegengelesen, einem bärtigen jungen Mann, der füllig wie ein Sofakissen in seinem Sessel ruhte und den hageren und aufrecht sitzenden Bocca auf einen sinnlosen Satz hinwies.
Dann gibt ihm halt Sinn, schreib ihn um!, knurrte Bocca und versuchte sich der Haushälterin zu entziehen, die ihm den Pullover hochzog, um ihm vor dem Mittagessen eine Injektion in den Bauch zu jagen, ganz nebenbei. Doch nicht in Gegenwart einer Dame!, rief Bocca empört und zog sich den Pullover wieder zurecht.
Er selber sei jedenfalls gescheitert, sagte Bocca, als Journalist und was die Aufklärung der Italiener betreffe. Denn Berlusconi sei ja nicht Ursache, sondern Symptom. Das Illegale halte die italienische Gesellschaft zusammen, die Verschlagenheit! Nichts anderes. Alle anderen Werte der italienischen Einheit, das Militär, der Patriotismus seien verschwunden. Die Geschichte Italiens sei stets von einer Minderheit geschrieben worden, von den tausend Kämpfern unter Garibaldi und den Partisanen im Krieg. Sie haben es geschafft, ein bleiernes und egoistisches Volk zu bewegen! Italien braucht eine Reform der Italiener!, rief Bocca, Ausrufezeichen ausstoßend, bis es ihn kaum noch auf seinem Stuhl hielt.
Boccas bärtiger Assistent schnaufte. Und raschelte mit Papier.
Aber Sie waren es doch, der über die Existenz der beiden Italien schrieb, des anständigen und des betrügerischen, hörte ich mich sagen und fühlte mich wie eine harmoniesüchtige Moderatorin des Frühstücksfernsehens auf RAI Uno.
Ja, sagt Bocca, aber das habe ich nur geschrieben, um mir selbst Mut zu machen. In Wahrheit habe ich dieses anständige Italien nicht gefunden, nie.
Das stimmte zwar nicht, klang aber schön. Bocca war der letzte, der Palermos Polizeipräfekten Dalla Chiesa vor seiner Ermordung interviewte. Und seine Einsamkeit beschrieb.
Später aßen wir dann noch zu Mittag, Boccas Haushälterin war eine ausgezeichnete apulische Köchin. Bocca trank drei Gläser piemontesischen Rotwein, ich etwas weniger.