Heute erscheint mein Buch „Rita Atria. Eine Frau gegen die Mafia“ auf Holländisch. In der Übersetzung von Marcel Misset.
Das Buch hat eine besondere Bedeutung für mich: Es war meine Premiere, mein erstes Buch – gewidmet einer Heldin, die sie sich Aristoteles nicht besser hätte ausdenken können. Eine Heldin, die erst nur Rache will, aber nach und nach begreifen muss, wie sinnlos ihre Rache ist – als sie versuchte, den Tod ihres Vaters und ihres Bruders damit zu vergelten, in dem sie gegen die Mafia in ihrem Dorf aussagte. Eine Heldin, die an dieser Rache zerbricht und ihr Leben verliert. Literaturtheoretisch lässt sich schön über Rita Atria schreiben. Aber leider ist ihre Geschichte wahr.
Und sie ist ganz und gar gegenwärtig. Nicht oft hat man als Journalist Gelegenheit, Geschichten zu schreiben, die der Zeit widerstehen. Die den Tag überdauern, nicht verwelken, nicht verwittern. Aber ich kann nicht stolz darauf sein, dass das, was ich damals über Ritas Schicksal geschrieben habe, uns auch heute noch betrifft. Vielmehr hätte ich mir gewünscht, Ritas Geschichte heute zu lesen, um am Ende sagen zu können: Gott sei Dank hat sich heute alles verändert! Unfassbar, wie sehr sich seither Italien gedreht hat!
Ich würde gern in einem Italien leben, das mit jenem Land des Jahres 1992 nichts mehr zu tun hat, in dem die beiden sizilianischen Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino von der Mafia in die Luft gesprengt wurden. Ich wünschte mir, dass die Geschichte von Rita Atria zur Historie geronnen wäre: Die Geschichte eines mutigen, jungen Mädchens, das zum Vorbild für viele wurde. Mafiaaussteiger, die immer mehr wurden – bis sie das Netz des organisierten Verbrechens, das dieses Land stranguliert, zerrissen hätten.
Tatsächlich aber gibt es heute kaum noch Mafiaaussteiger. Und die wenigen werden schlecht beschützt. Es lohnt sich nicht mehr, der Mafia den Rücken zu kehren; denn das Kronzeugengesetz, die schärfste Waffe im Kampf gegen die Krake, die das Land in ihren Fängen hält, wurde nach und nach rückgängig gemacht. Es ist eines von vielen Antimafiagesetzen, die nach und nach ihrer Wirksamkeit beraubt wurden.
In all den Jahren nach Ritas Tod 1992 wurde ich Zeugin davon, wie schnell sich die Mafia wieder von dem Schlag erholt hat, den ihr der italienische Staat nach den Attentaten auf Falcone und Borsellino versetzt hatte. Rasch waren die Bosse und ihre mörderische Entourage wieder in die Gewänder der Unsichtbarkeit geschlüpft, in der sie über Jahrhunderte überlebt haben: bürgerlich unter Bürgerlichen, intellektuell unter Intellektuellen, adelig unter Adeligen.
Maskiert bis zur Unkenntlichkeit gelang es der Mafia auch, von Italien aus ganz Europa zu erobern: Die Niederlande, Belgien, Deutschland, Frankreich, Spanien – Europa hat keine Grenzen mehr. Das nutzt ganz besonders dem organisierten Verbrechen. Das Massaker von Duisburg war ein Menetekel. Ein Wetterleuchten. Eine Warnung. Einen winzigen Augenblick lang zeigte die Mafia ihr wahres Gesicht. Aber schon kurz danach trat sie zurück in den Schatten: Die mutmaßlichen Mörder von Duisburg wurden in Amsterdam verhaftet, wo sie ein unauffälliges Leben in einem Mietshaus führten – und wenn sie vom Einkauf im Supermarkt zurückkehrten, zogen sie ein kleines Einkaufswägelchen hinter sich her, ganz so wie holländische Hausfrauen.
War Ritas Kampf also sinnlos? Hat sie vergeblich geglaubt, einen Sieg gegen die Mafia erringen zu können?
Nein, sage ich, trotz allem. Denn sie hat aufbegehrt gegen das Kartell des Schweigens und gegen die Angst, gegen ihre eigene, gegen die der anderen. Die Angst aber ist das größte Kapital der Mafia, das Schweigen der Mehrheit über die Untaten der wenigen ist die Überlebens-Versicherung der Mafia. Oder, wie es der ermordete Staatsanwalt Giovanni Falcone formulierte: „Wer Angst hat, stirbt jeden Tag. Wer keine Angst hat, stirbt nur ein Mal.“
Rita Atria hat grenzenlosen Mut bewiesen, als sie sich entschloss, gegen die Mafia in ihrem Dorf auszusagen – und in ihrer Unerbittlichkeit schreckte sie auch nicht vor einer Analyse der Mafia in sich selbst zurück. Nicht viele hätten den Mut gehabt, der Rita noch über ihren Tod hinaus auszeichnet. Sie lebte nicht in der beschützten Welt von Amsterdam, Hamburg, Paris: Sie lebte in einem kleinen, sizilianischen Dorf, das aus der Zeit gefallen zu sein scheint und dessen Mauern seit Jahrhunderten Mafia atmen. Sie lebte in einer Mafia-Familie. Sie hat sich das Herz herausgerissen.