Die goldene Gans

Unsere Autorin lebt schon mehr als 30 Jahre in Venedig. Während des Karnevals fällt auf: Die Stadt ist mittlerweile ein rein kommerzielles Schauobjekt.

Ein Artikel von

Petra Reski
Aus Venedig, 17.2.2024, 19:14 Uhr


Richtung Markusplatz kann man nur noch in Trippelschrittchen laufen. Weit und breit sind keine eleganten Rokoko-Damen, Harlekins oder Pulcinellas zu sehen, nur resignierte Tagestouristen in Regencapes, die den langen Weg vom Festland in Kauf genommen haben, um sich an bangladeschischen Ein-Euro-Shops mit Wackelgondeln und Pasta-to-go-Läden durch die Gassen schieben.

Mit seinen 90.000 Besuchern am Karnevalssamstag wurde der diesjährige Karneval von Venedig zum Flop erklärt – wobei der Begriff „Flop“ in einer Stadt, die im Jahr von 30 Millionen Touristen niedergerannt wird, natürlich relativ ist. Das Wochenende vor Rosenmontag und Faschingsdienstag gilt traditionell als Höhepunkt des venezianischen Karnevals – an dem an Spitzentagen „normalerweise“ 150.000 Touristen auf die 49.000 verbliebenen Venezianer treffen, sofern diese nicht die Flucht ergriffen haben.
Die touristische Monokultur wird in Venedig seit dreißig Jahren wie eine Staatsreligion gehuldigt: Den Anfang machte der langjährige und von den Medien viel gehätschelte Bürgermeister, der Philosoph Massimo Cacciari, als er mit seinem Privatisierungsmanifest 1994 garantierte, Investoren alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Gesagt, getan: In 30 Jahren verlor die Stadt 30.000 Einwohner. Dem von Bürgermeister Cacciari initiierten Programm folgten alle seine Nachfolger. Venedig soll keine Stadt mehr sein, sondern nur noch Schauobjekt. Heute stehen den in der Stadt verbliebenen 49.172 Venezianern 50.016 Touristenbetten gegenüber.

Jede frei gewordene Wohnung wird nicht vermietet, sondern in eine Ferienwohnung verwandelt. Venedig ist die Stadt mit den meisten Ferienwohnungen in ganz Italien. Dank Ocio, einer venezianischen NGO, die den Wohnraum in Venedig analysiert, weiß man, dass die Fabel von den Bedürftigen, die sich mit der Vermietung eines Zimmers ihr Einkommen verbessern, nie gestimmt hat. Fünf Prozent der Hosts gehören Hunderte Wohnungen, machen aber dreißig Prozent des Umsatzes aus. 75 Prozent der Hosts leben nicht in Venedig.

In der Stadt mit 49.172 Einwohnern gibt es 50.016 Touristenbetten. Venedig hat die meisten Ferienwohnungen in ganz Italien

Zu den Gewinnern der Airbnb-Pest gehören aber auch Hotels, Versicherungen und andere Unternehmen, die unzählige Ferienwohnungen betreiben: „Ganze Wohngebäude wurden de facto in Hotels verwandelt, ohne dass das städtebaulich oder steuerlich so gewertet wurde. Somit können auch sie von der steuerlichen Begünstigung für die Vermietung von Ferienwohnungen profitieren, die bei 23 Prozent liegt“, sagt Francesco Penzo von Ocio – und weist auf die Absurdität hin, dass ein venezianisches Gesetz vorschreibt, die Vermietung von Wohnungen als Airbnb auf 120 Tage zu beschränken, nicht angewendet wird. Weil die Anwendung des Gesetzes dem Bürgermeister freigestellt ist.

Zu den Profiteuren der Airbnb-Pest gehören in Venedig auch die Bettwanzen. Denn anders als in Hotels, wo das Gesundheitsamt dafür sorgt, dass mit Bettwanzen verseuchte Zimmer nicht weitervermietet werden können, gilt das für Ferienwohnungen nicht. Da hängt es allein vom Vermieter ab – der sich ungern um seinen Gewinn bringen lässt.
Weil in Venedigs Häusern nur noch wenige Venezianer leben, hört man in den Gassen niemanden mehr Venezianisch sprechen. Stattdessen Englisch, Französisch, Deutsch und – gelegentlich noch – Italienisch. Um zu wissen, wer in den Gassen Venedigs unterwegs ist, muss aber niemand den Mund aufmachen, es reicht ein Smartphone in der Tasche. Damit offenbart er dem digitalen Hirn der Stadt sein Innerstes: Der Smart Control Room ist darauf spezialisiert, Daten abzuschöpfen: mittels automatisch eingeloggter und georteter Smartphones, Sensoren, 700 Überwachungskameras mit Gesichtserkennung und 50 Bewegungsmeldern, weiß die Stadt Venedig, dass von den 90.000 Besuchern des diesjährigen Karnevalssamstag 60.000 Besucher aus dem Ausland angereist sind: 16,3 Prozent Franzosen, 11,5 Prozent Engländer, 10,1 Prozent Spanier und 9,9 Prozent Deutsche, wundersamerweise auch Karibikbewohner von der Insel Aruba, den Niederländischen Antillen und Zentralamerikaner aus Belize. 22 Prozent der italienischen Besucher kamen aus der Lombardei und dem Friaul, acht Prozent aus dem Veneto. Mit dem Smart Control Room verfügt die Stadt Venedig über eine Masse von Daten, wertvolle Rohstoffen von denen wir nicht wissen, was mit ihnen geschieht.

Die Karnevalsveranstaltungen werden von „Vela“, dem operativen Arm der Stadt vermarktet, der auch die einstigen venezianischen Volksfeste Regata Storica und das Redentore-Fest organisiert. Die Geldmaschine Karneval funktioniert: Ein Ticket für die Karnevalsshow im Arsenale kostete für eine dreiköpfige Familie schnell mehr als hundert Euro.
Venedig ist die Gans, die goldene Eier legt. Auch für die Region Veneto, von wo aus die Tagestouristen in Bussen und auf Booten anreisen. Folgerichtig nennt sich das Veneto neuerdings The Land of Venice – ungeachtet der Tatsache, dass Venedig alles sein mag, aber definitiv kein Land. Aber die Wirklichkeit spielt in dieser Parallelwelt, in der Venedig keine Stadt mehr ist, sondern nur ein zu vermarktendes Produkt, keine Rolle mehr.

Karneval in Venedig heute, das ist ein Massenspektakel in einer zum Komparsen degradierten Stadt: Während Tausende Nichtkostümierte mit ihren Smartphones Jagd auf einen Maskierten machen, machen sich die einige wenigen Privilegierten in Reifröcken und Puderperücken auf zum „Ballo del Doge“, dem teuersten Karnevalsball der Stadt, wo sie von Akrobaten, Tänzern und Verrenkungskünstlern bespaßt werden. Im Norden der Stadt, unter den gewaltigen Marmorsäulen der Scuola della Misericordia, versammelte sich einst die Bruderschaft der Barmherzigkeit – von der heute wenig zu spüren ist, wenn 5.000 Euro Eintritt im bürgermeistereigenen Renaissance-Gebäude pro Kopf verlangt werden. Wer sich das nicht leisten kann, darf dort immerhin noch für 800 Euro beim „After Dinner“ auf die leergegessenen Teller schauen.

Der jetzige Bürgermeister von Venedig, Luigi Brugnaro, konnte die vom Renaissance-Architekten Sansovino erbaute Scuola della Misericordia bis zum Jahr 2051 umsonst pachten; im Gegenzug für elf Millionen Euro, die er – nach eigenen Angaben – für die Renovierung ausgegeben hat und wohl wieder reingeholt haben dürfte, indem er die Scuola für Events vermietet.

Brugnaro wurde 2015 zum ersten Mal gewählt und 2020 für weitere fünf Jahre in seinem Amt bestätigt, allerdings nicht von den Venezianern: Mehr als 63 Prozent der Venezianer stimmten gegen ihn. Brugnaro stammt aus Spinea und ist – aus venezianischer Sicht – ein campagnolo, ein Landei, das nicht mal in der ehemaligen Provinz Venedig wohnt, sondern in der Provinz Treviso in Mogliano Veneto, deren Bewohner dank der noblen Geste des Regenten Luigi Brugnaro I. die Museen von Venedig an Feiertagen umsonst besuchen dürfen – ein Privileg, das sonst nur Venezianern vorbehalten war.

Um zu verstehen, warum Venedig von Bürgermeistern regiert wird, die weder in Venedig wohnen noch die Interessen der Venezianer vertreten, muss man wissen, dass Venedig über keine eigene Stadtverwaltung verfügt, sondern während des Faschismus von einer geschäftstüchtigen Gruppe Industrieller mit dem Festland zwangsverheiratet wurde: Zur Zeit von Mussolini lebten in Venedig noch 200.000 Einwohner, auf dem Festland nur 40.000. Heute hat sich das Verhältnis praktisch umgekehrt.

Karnevalisten in Venedig 2024

Die Mehrheit der Wählerschaft lebt auf dem Festland: 177.000 Festlandsbewohnern stehen etwas mehr als 49.000 Venezianer entgegen, man könnte sagen: auf verlorenem Posten. Wenn der Bürgermeister von Venedig gewählt wird, wählen ihn nicht die Venezianer, sondern die Festlandsbewohner von Mestre, Marghera, Favaro, Campalto, Chirignago-Zelarino, deren Lebenswirklichkeit sich fundamental von der Venedigs unterscheidet: Wasser versus Land. Das Festland ist Brugnaroland, in Venedig dagegen versammeln sich viele Kritiker. Bürgermeister Brugnaro rächte sich deshalb an den Venezianern, indem er nur Festlandsbewohner in den Stadtrat berief.

Fünf Mal haben die Venezianer durch Volksabstimmungen versucht, der Zwangsehe mit dem Festland zu entkommen, fünf Mal wurden sie von den Festlandsbewohnern überstimmt. Warum alle Bürgermeister Venedigs diese Zwangsehe wie das Dogma von der Dreifaltigkeit verteidigen, erklärt sich vor allem mit den Geldern des Spezialgesetzes für den Erhalt von Venedig, die das Regieren auf dem Festland vereinfachen: Gelder, die nicht dem Erhalt von venezianischen Fundamenten und Palazzi dienen, sondern in Bürgersteigen auf dem Festland enden.

Überdies ist der Bürgermeister von Venedig auch Bürgermeister der „Metropolitanstadt Venedig“ wie die ehemalige Provinz Venedig heute hochtrabend heißt: sindaco metropolitano. Auf dem Festland der „Metropolitanstadt“ leben sechzehnmal mehr Menschen als in Venedig, die diesen Metropoliten schon aus dem Grunde anbeten, weil er alles dafür tut, dass der Tagestourismus Venedig auch weiterhin ungehindert überfluten kann – und die so Geschäfte machen. Auf Airbnb und booking.com verkaufen sich selbst umliegende Dörfer wie Campagna Lupia oder Quarto d’Altino als Venedig.

Und daran wird auch das Eintrittsgeld für Venedig nichts ändern, das am 25. April eingeführt wird: Vielmehr wird damit klar, dass Venedig nicht mehr als lebendige Stadt betrachtet, sondern zum gebührenpflichtigen Museum degradiert wird. Mit den lächerlichen fünf Euro ist keine Höchstgrenze für die Zahl der Tagestouristen verbunden – die Bewohner des Veneto, die 70 Prozent der Tagestouristen ausmachen, sind davon befreit. Das Eintrittsgeld dient lediglich als Feigenblatt für den weiterhin unregulierten Ausverkauf der Stadt: „Wie anders ist es zu verstehen, wenn gleichzeitig vier neue Wasserverbindungen vom Festland geschaffen werden? Natürlich ist mit dem Eintrittsgeld keine Begrenzung des Massentourismus verbunden“, sagt Aline Cendon vom der venezianischen Bürgervereinigung Gruppo 25 aprile.

Mit dem Smart Control Room werden nicht nur die Touristenströme kontrolliert, sondern auch die Venezianer, die jeden Familienangehörigen melden müssen, der sie besucht

Als Venedig im letzten Herbst auf die rote Liste der gefährdeten Stätten des Unesco-Welterbes gestellt werden sollte, rettete sich die venezianische Stadtverwaltung mit dem Eintrittsgeld. Und das Unesco-Komitee jubelte: Das Eintrittsgeld sei ein einzigartiges Pilotprojekt zur Begrenzung des Tagestourismus, das auch in andere Städte exportiert werden könne. Die Touristenströme würden kontrolliert dank des Smart Control Room.

Aber nicht nur die Touristenströme werden kontrolliert, sondern auch die Venezianer, die jeden Familienangehörigen melden müssen, der sie besucht, und sei es auch nur tagsüber, um einen QR-Code zu erhalten, der erlaubt, umsonst nach Venedig zu kommen – eine Maßnahme eines Überwachungsstaats.

Wie interessant die Daten des Smart Control Room für Investoren in Venedig sind, zeigt sich auch darin, dass das private Transportunternehmen Marive mit der Zusammenarbeit mit dem Smart Control Room wirbt. Zufällig gehört Marive auch zu den Sponsoren des bürgermeistereigenen Basketballklubs Reyer Venezia Mestre.

Als Bürgermeister ist der Unternehmer Luigi Brugnaro ein wandelnder Interessenkonflikt. Mittelpunkt seines Wirtschaftsimperiums ist die Holding Umana, ein Konglomerat von etwa zwanzig Firmen, dessen Geschäfte er beim Amtsantritt schwor, einem „Blind Trust“ überlassen habe, um Interessenkonflikte zu vermeiden. Indes zählen zu den Sponsoren seines Basketballverein Reyer etliche in Venedig tätige Unternehmer: etwa das private Transportunternehmen Alilaguna, das seine Firmentreffen in der bürgermeistereigenen Misericordia abhielt, Zeitarbeiter der bürgermeistereigenen privaten Arbeitsvermittlungsagentur Umana beschäftigte und sowohl mit Direktverträgen für den öffentlichen Nahverkehr als auch mit der Ausweitung des Alilaguna-Imperiums belohnt wurde: „Die Sponsoren von Reyer haben in gewisser Weise Vorteile, wie im Fall von Alilaguna, das direkte Verträge für einige Strecken erhielt, ohne dass es überhaupt eine Ausschreibung gab.

Im Jahr 2022 gab es eine, aber zumindest bis 2019 gab es keine“, sagt Marco Gasparinetti. Er ist Oppositionspolitiker der Bürgervereinigung Terra&Acqua, der über die Interessenkonflikte des Bürgermeisters in einem Blog berichtete und dafür vom Präsidenten von Alilaguna auf 150.000 Euro Schadensersatz verklagt wurde. Für Gasparinetti ist dies ein klarer Fall einer Einschüchterungsklage.

Die Interessenkonflikte des venezianischen Bürgermeisters zogen bereits 2015 mit ihm in das Rathaus am Canal Grande ein, als Luigi Brugnaro sein Amt nicht nur als ehemaliger Präsident des Arbeitgeberverbands Confindustria, sondern auch als Besitzer eines vierzig Hektar großen, mit Giftmüll belasteten, aber strategisch gut gelegenen Areals in Porto Marghera antrat, das er dem italienischen Staat für den Spottpreis von fünf Millionen Euro abgekauft hat. Und das er, wie die venezianische Opposition 2018 enthüllte, dem chinesischen Investor Ching Chiat Kwong verkaufen wollte.

Als im Herbst 2023 ein Bus in Mestre über die marode Leitplanke stürzte und 21 Menschen starben, delegierte die venezianische Staatsanwaltschaft einen Teil der Ermittlungen zum Busunglück an die Gemeindepolizei von Venedig, die dem Bürgermeister untersteht und damit folglich in einem Interessenkonflikt steht. Und dass die Aktiengesellschaft Venis, das Informatikunternehmen, das den Smart Control Room betreibt, für die Staatsanwaltschaft das IT-Material des Vorfalls überprüfen soll, ist im Zusammenhang mit einem Unglück, das 21 Menschen das Leben gekostet hat, zumindest eigenartig. Und noch eigenartiger ist, dass der Geschäftsführer der Aktiengesellschaft Venis gleichzeitig Direktor für Marketing und Kommunikation der bürgermeistereigenen ­Basketballmannschaft Reyer und Präsident des Informatikunternehmens Attiva ist, das wiederum zur bürgermeistereigenen Umana-Holding gehört.

Die Interessenkonflikte des venezianischen Bürgermeisters weckten auch das Interesse der letzten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Italiens verbliebenen Investigativsendung „Report“. „Report“ enthüllte weitere Details: Etwa, dass dem chinesischen Investoren zwei Palazzi aus städtischem Besitz verkauft wurden. Mister Kwong bekam Palazzo Donà und Palazzo Papadopoli für einen Freundschaftspreis. Er war bei der öffentlichen Ausschreibung auf wundersame Weise der einzige Bieter und bekam den Zuschlag, nachdem ihm sein Vertrauensmann geschrieben hatte: „Es wird kein Problem sein, ihn [den Palazzo] an Sie zu vergeben. Ich habe die rechte Hand des Bürgermeisters getroffen, und er hat mir das bestätigt.“

Dank „Report“ wissen wir auch, dass Brugnaro, obwohl schon im Amt, den Verkauf seines Grundstücks in Marghera tatsächlich selbst mit dem Chinesen verhandelt hat. Dass sein propagierter Blind Trust sehr gut sehen kann, kam heraus, nachdem „Report“ mit einem Video bewies, wie Brugnaro sich mit dem Chinesen im Spielcasino von Venedig getroffen hat, um dort sein Grundstück anzupreisen, auf dem eine gigantische Waterfront entstehen sollte. Als Brugnaro von dem Chinesen auch noch eine nicht rückzahlbare Garantie von 10 Millionen Euro für das Geschäft verlangte, war es Mister Kwong doch zu viel: Das Geschäft kam nicht zustande.

Wie sehr Brugnaros Amt seinen Geschäften dient, bewies auch ein Sachverständiger für Geldwäsche: Seit Brugnaro sein Amt antrat, haben sich die liquiden Mittel seiner Unternehmen verzehnfacht. Kein schlechter Deal.
Mit Brugnaro als Bürgermeister wird Venedig wohl weiter im Würgegriff der Kommerzialisierung untergehen. Und alles, was den venezianischen Karneval einst ausgemacht hat, wie das Stegreiftheater oder Tänzer und Musiker, die durch die Gassen zogen, der Vergangenheit angehören.

Veröffentlicht in der TAZ.