Venezianer proben den Aufstand

Auf unserem Bootssteg erinnert ein riesiger, schwarzer Fleck an den Lockdown. Hier verspritzte ein Tintenfisch im Todeskampf seine Tinte, bevor er von einer Möwe erlegt wurde. Während dieser zehn dystopischen Wochen, als wir uns nur zweihundert Meter vom Haus entfernen durften, unser Kanal aussah wie von unten beleuchtet und die Amseln nicht mehr von den Motorbooten überstimmt wurden, waren in Venedig sogar die Möwen gezwungen, wieder zu ihrem Kerngeschäft zurückzukehren. Tintenfische und Krebse zu jagen ist natürlich ungleich anstrengender als das bequeme Leben im Massentourismus, wo die Möwen sich damit begnügen können, Touristen das Sandwich aus den Händen zu klauen. Um das zu verhindern, wurde auf der Terrasse des Hotel Gritti sogar ein Falkner eingesetzt.

So gesehen gehören auch die Möwen zu den Gewinnern der touristischen Monokultur, der in Venedig seit dreißig Jahren wie einer Staatsreligion gehuldigt wird. Und das, obwohl jeder Bauer weiß, dass Monokulturen einen erhöhten Einsatz von Dünge- oder Pflanzenschutzmittel zur Folge haben.

In Venedig düngt man die Monokultur mit Airbnbs, Billigflügen, Hotels, Kreuzfahrtschiffen und Ausflugsbooten. Mit Luxusresorts anstelle von Krankenhäusern, Tiramisu-Take-Aways statt Gemüseläden und Sonnenbrillen-Sonderverkäufen statt Arztpraxen. Nahezu täglich werden veränderte Nutzungsbestimmungen für Immobilien und Sondergenehmigungen für Spekulanten verspritzt. Das tägliche Leben der Venezianer wurde ausgerottet wie lästiges Unkraut. Kurz: Man beseitigt das, wovon man lebt. Eigentlich einfach zu begreifen. Und ebenso einfach zu ächten – wären da nicht die enormen Interessen des globalen Massentourismus, der wichtigsten Industrie des einundzwanzigsten Jahrhunderts: weltweit anderthalb Milliarden Touristen im Jahr.

Fotomotive wie auf einem Campo spielende Kinder, über einem Kanal flatternde Wäsche oder durch Gassen streunende Katzen sind in Venedig Mangelware geworden. Stattdessen glitzert es in den Gassen hinter dem Markusplatz wie in Las Vegas. Kellner servieren riesige Gläser mit Spritz und auf einer Markise steht mangia, bevi e taci: Iss, trink und schweige. Besser kann man Venedigs Tourismuskonzept nicht zusammenfassen.

Nachdem sich die Weltpresse schon erhebliche Sorgen um die Zukunft des venezianischen Massentourismus gemacht hat („Verlassenes Venedig“, „Venedig braucht die Touristen“, „Venedigs Gondolieri klagen über Stillstand“), kann ich Entwarnung geben: Ich habe bereits wieder Russen mit Louis-Vuitton-Taschen aus Luxusboutiquen fallen, Airbnb-Kunden beim Eingeben ihrer Pincodes an der Tür scheitern und Tagestouristen auf den Stufen des Markusplatzes sitzend ihre Pizza aus Pappkartons verspeisen sehen. Als ich gestern Abend von der Ponte delle Guglie bis San Marco lief, bin ich unterwegs so vielen Touristen begegnet, dass ich kurz davor war, den Mundschutz anzulegen. Und in den Vaporetti steht man wieder so dicht gedrängt, wie es seit Jahrzehnten zur venezianischen Normalität gehört.

Es ist die Normalität eines Märchenlands, wo die Häuser mit Pizzafladen gedeckt sind, in den Kanälen Pasta to go schwimmt und Spritz in den Mund fließt: Wenn man von Cannaregio nach San Marco läuft, muss man sich durch eine nicht enden wollende Folge aus Snackbars, Pizzerien, Restaurants, Kaffee-Bars, Fruchtsaftschänken und Take-Aways beißen. Die Venezianità besteht aus chinesischen Taschenläden, chinesischen Handyhüllenläden, bangladeschischen Ein-Euro-Läden mit Wackelgondeln, Filialen der römischen Eisdielen-Kette Grom, Filialen der englischen Seifenläden Lush und Filialen der neapolitanischen Schokoladenläden-Kette Nino&Friends –  in denen flüssige Schokolade von Walzen tropft, die der permanenten Sehnsucht der Touristen zur Selbstinfantilisierung entgegenkommt.

Venedig scheint eine magnetische Anziehungskraft auf unternehmerische Ausnahmetalente auszuüben, denn wer sonst schafft es, allein mit dem Verkauf von flüssiger Schokolade, Handyhüllen oder Wackelgondeln Ladenmieten von zehn- oder zwölftausend Euro pro Monat zu bestreiten, an denen die venezianischen Einzelhändler gescheitert sind?

Ja, Venedig ist ein Märchenland, aber ich will nicht klagen. Zur Zeit ist der Andrang hier noch erträglich – man könnte fast sagen: Es ist ein ganz normaler Andrang, falls hier noch etwas normal wäre, es also noch Spuren eines täglichen Lebens gäbe. Hier aber gilt als normal, was woanders eine Massenpanik auslösen würde: Normalerweise schieben sich hier dreiunddreißig Millionen Touristen jährlich durch die Gassen, davon zwei Drittel Tagestouristen. Im Jahr 1997 lebten in Venedig noch 68 000 Einwohner neben 13 000 Touristenbetten. Heute gibt es hier mehr Touristenbetten als Einwohner: auf 51 638 Einwohner kommen 52 720 Touristenbetten.

Während der zehn Wochen im Lockdown konnte man an den geschlossenen Fensterläden sehen, dass das Leben aus Venedig vertrieben wurde. Wohl deshalb haben viele deutsche Freunde, denen ich Fotos und Videos aus dem Venedig im Lockdown geschickt habe, das als „gespenstisch“ empfunden, was wir als friedlich erlebten, weil die Vergewaltigung Venedigs vorübergehend ausgesetzt war.

Was fehlt, ist normaler Alltag: Menschen, die ihre Kinder zur Schule bringen, Menschen, die sich in ihren Wohnungen anschreien – und wohl deshalb registriere ich jedes Tellerklappern aus einer Wohnung als Zeichen der Hoffnung.

Im Lockdown üben sich die Venezianer in Solidarität: Weil es in manchen Stadtvierteln kaum noch Lebensmittelgeschäfte gibt, erledigt die Rennruderin Elena Almansi die Einkäufe für alte Leute im Ruderboot, zusammen mit den Frauen ihrer Gruppe Row Venice”, die Venedigliebhabern das Rudern auf venezianische Art beibringt. Die jungen Aktivisten der Bürgerinitative „Venice calls“ verteilen Schutzmasken, kaufen ein und sammeln Geld für bedürftige Familien, denen der Virus die Lebensgrundlage raubte.

Der Einzige, der wie vom Erdboden verschluckt bleibt, ist Bürgermeister Luigi Brugnaro. Bis auf ein Video, bei dem er in angeheitertem Zustand mit seiner Frau den Schlachtruf seiner Basketballmannschaft singt, hört man von ihm: nichts. Keine Vorschläge, kein Plan, kein Anstoß, keine Ermunterung.

Es sind die venezianischen Bürger, die in Zoom-Konferenzen einen Kurswechsel von der touristischen Monokultur fordern und daran erinnern, dass Venedig der ideale Sitz für eine internationale Umweltorganisation wäre. Wie keine andere Stadt der Welt muss Venedig sich zwei der größten globalen Herausforderungen unserer Zeit stellen: dem Klimawandel und dem Overtourism, der touristischen Überfüllung durch den Massentourismus. Anstatt unter den Füßen von dreiunddreißig Millionen Touristen jährlich zu versinken, soll die Stadt ein Laboratorium für die Zukunft sein, fordern sie.

Dank der ihr innewohnenden Nachhaltigkeit hinkt Venedig nicht der Modernität hinterher, sondern geht ihr voraus, sagt der venezianische Architekt und Urbanist Sergio Pascolo. In seinem Buch „Venezia Secolo Ventuno“ zeigt er, dass Venedig alle Voraussetzungen für die Zukunft mitbringt. Es ist eine Stadt des menschlichen Maßes inmitten einer einzigartigen Zone des Übergangs zwischen Meer und Land, Hauptstadt einer Region herausragender Industrieproduktion, jahrtausendealte Schmiede von Kunst und Kultur, Universitätsstadt, Theaterstadt, Filmstadt – wie ist es möglich, dass diese Stadt zynisch dem Untergang geweiht wird?

Es sind die Bürger Venedigs, die ihre Stadt zäh verteidigen. Die Aktivisten des Gruppo25Aprile verfassen ein Manifest und fordern, aus der Coronakrise zu lernen und ein Gleichgewicht zu schaffen, zwischen Venedig und dem Festland, dem Tourismus und der Bewohnbarkeit der Stadt, zwischen Wasserverkehr und der Fragilität der Lagune.

Andere fordern für Venedig einen Spezialstatus, der Venedig bislang verweigert wurde, weil sich in der heutigen Verwaltungsform zwei Drittel der Kommune Venedigs auf dem Festland befinden. Auch für die Wahl des Bürgermeisters sind die Stimmen des Festlands entscheidend, wo viermal mehr Wähler als in Venedig leben. Wenn der Bürgermeister von Venedig gewählt wird, wählen ihn nicht die Venezianer, sondern die Festlandsbewohner von Mestre, Marghera, Favaro, Campalto, Chirignaro-Zelarino.

Die Idee dieses „Großvenedigs“ ist einer Gruppe geschäftstüchtiger Industriebarone zu verdanken, die zu Zeiten Mussolinis Venedig mit der Industriestadt Marghera und der Arbeitersiedlung Mestre vereinigten. Marghera war mit seinem Industriehafen vor allem für Venedigs Müll gedacht, was nach dem Bau der Petrochemieanlage in den 1960er Jahren dazu führte, dass hier hochtoxische Stoffe auf Müllhalden abgeladen und in die Lagune geleitet wurden.

Zur Zeit von Mussolini lebten auf dem Festland nur vierzigtausend Einwohner. Venedig hingegen hatte mit seinen zweihunderttausend Einwohnern fast fünf Mal mehr Einwohner. Heute hat sich das Verhältnis nahezu umgekehrt – was aber selbst auf dem Festland zu keiner Blüte geführt hat: Mestre erinnert mit seinen tristen Hotelsilos an einen Vorort aus Sowjetzeiten, der aus Versehen hier fallen gelassen wurde. Obwohl drittgrößte Stadt des Veneto, entbehrt Mestre jeder urbanen Identität und kann sich lediglich des Primats rühmen, die Stadt mit den meisten Drogentoten und Einkaufszentren zu sein. Dessen ungeachtet verstieg sich die jahrzehntelang regierende Linke dazu, den Großraum Venedig zur «Utopie» und zur «bipolaren Stadt» zu erklären, ein Krankheitsbild, unter dem Venedig bis heute leidet.

Dank des Spezialstatus könnte Venedig über Steuererleichterungen und Freistellungen verfügen, mit denen neue Einwohner und Qualitätsunternehmen angezogen werden könnten, die mit einem der fragilsten Ökosysteme der Welt kompatibel sind. Ohne seine Bewohner ist Venedig tot.

Wir stehen auf dem Campo Sant’Angelo, auf mit Kreide gezeichneten Sternchen, um den Abstand einzuhalten, als der Anwalt und Bürgeraktivist Andrea Zorzi die Idee eines internationalen „Anwerbeprogramms für Venedig-Einwanderer“ vorstellt: Smart Worker sollen überzeugt werden, mit ihren Familien nach Venedig zu ziehen. In Wohnungen, deren Besitzern sich – aus Liebe zu Venedig – dem Airbnb-Delirium verweigern und ihre Wohnungen an diese Neu-Venezianer vermieten wollen. Und Giancarlo Ghigi von „Ocio“, einer venezianischen NGO, die sich Wohnungsfragen widmet, macht klar, dass das Narrativ des Peer-to-peer, der Sharing-Economy, der Geschichte von dem einen Zimmer, das man nur vermietet, um das knappe Gehalt aufzubessern, ein Märchen ist: In Venedig, der Stadt mit den meisten Airbnbs in Italien, machen nur fünf Prozent der Hosts dreißig Prozent des Umsatzes. Einzelnen Hosts gehören Hunderte von Wohnungen. Klar wird auch, dass die Idee der Stadt, nicht vermietete Airbnb-Wohnungen an Studenten zu vermieten, nur dazu dienen soll, den Wohnungssektor bis zur Rückkehr der Touristen zu sichern.

Venedig habe sich in eine »Hedge-City« verwandelt, kritisiert die venezianische Architektin und Stadtplanerin Paola Somma: die Stadt als Investitionsfond. Wer Geld hat, investiert in ganze Stücke historischer Städte, was auch dem Bürgermeister nicht entgangen ist, der sich nach Ende des Lockdowns als Marktschreier betätigt: »Amerikaner, Österreicher, Ausländer, kommt alle hier nach Venedig, dies ist ein guter Moment, um Wohnungen in Venedig zu kaufen.«

Allerdings gibt es für die Investoren ein kleines Problem. Und das ist die durch  fahrlässige Eingriffe geschädigte Lagune und der Klimawandel. Die Umweltschützerin Jane Da Mosto macht mit dem von ihr gegründeten gemeinnützigen Verein »We are here Venice« klar, dass Venedig und seine Kulturgüter nicht ohne die Lagune gerettet werden können. Sie kämpft für eine Renaturierung der Lagune, Venedigs Lunge: Venedig ist die italienische Hafenstadt mit der höchsten Luftverschmutzung, sie muss vor Entscheidungen geschützt werden, deren Interessen sich woanders befinden – was uns nicht zuletzt der Skandal um das Flutsperrwerk Mose lehrte.

Aber schon heute, nach dem zweithöchsten Hochwasser in der Geschichte Venedigs, ist wieder die Rede davon, den Kreuzfahrthafen dank einer Vertiefung des Kanals Vittorio Emanuele in Venedig stabil einzurichten. Und das, obwohl die Schäden durch weiteres Ausbaggern der Kanäle wissenschaftlich bewiesen sind.

 Heute besteht unsere einzige Gewissheit darin, dass Mose die Lagune von Venedig zerstört und eine ganze Klasse von Politikern und Unternehmern bereichert hat, was zum größten Korruptionsskandal der Nachkriegszeit führte. Dennoch wird an diesem Monument der Gier unbeirrbar weitergebaut: acht Milliarden Euro wurden im Meer und in den Taschen einer politischen Klasse versenkt.

All die kämpferischen Bürger Venedigs sind auf der Höhe der Zeit, allein der Bürgermeister hinkt ihr hinterher, mit seinem ewigen Mantra vom »Ohne Tourismus ist Venedig tot«.  Das Virus ist der Super-GAU, der in dem lukrativen venezianischen Tourismuskonzept nicht vorgesehen war. Venedigs Kartoffelkäfer.

Natürlich hat es auch vorher schon Krisen gegeben: den Golfkrieg 1990/91. Die Terroranschläge vom 11. September 2001. Die Lehman-Pleite 2008. Aber weil der Tourist ein kurzes Gedächtnis hat, konnte sich Venedig jedes Mal schnell wieder erholen und die Show weiter gehen. Mit mehr Hotels, mehr Airbnbs, mehr Kreuzfahrtschiffen, mehr Restaurants. Mit der Gans, die goldene Eier legt, für ganz Venezien, das sich The Land of Venice nennt, ein Paradox, so logisch wie süßes Salz oder trocknes Wasser, aber dringend notwendig, um auf dem Markt des emotionalen Tourismus wettbewerbsfähig zu sein. Keine Stadt, sondern eine Marke. Der Markt, der Markt, der Markt.

Noch durchpflügen keine Taxiboot-Flottillen voller Chinesen den Canal Grande, im Hafen liegen noch keine Kreuzfahrtschiffe. Die Amerikaner dürfen noch nicht kommen und in Ermangelung der Chinesen hat man sich kurz der Venezianer erinnert und den Fondaco dei Tedeschi mit einer bizarren »Hommage an venezianische Handwerker und Designer« wiedereröffnet. Das von Benetton in ein Luxuskaufhaus umgewandelte Renaissancegebäude der deutschen Handelsniederlassung wird von dem chinesischen Ableger der Luxusholding Moet Hennessy Louis Vuitton betrieben und ist eigentlich das Mekka der chinesischen Touristen: Im Erdgeschoss, dem einstigen Lichthof, befindet sich ein Café mit dem schönen Namen Amo, was sowohl »Ich liebe« als auch »Angelhaken« bedeuten kann. Es ist eines dieser Luxuscafés, das ebenso gut in einer tiefgekühlten Shoppingmall in Shanghai oder Berlin oder Cleveland stehen könnte und das, wie in Venedig inzwischen üblich, einem internationalen Investmentfonds gehört, der in Venedigs Hotspots Restaurants und Cafés betreibt. Normalerweise kreisen chinesische Reisegruppen um dieses Café wie die Pilger in Mekka um die Kaba, angetrieben von ihren schreienden Reiseführern, die ihnen sagen, in welchem Stockwerk sich die Bulgari-Uhren befinden.

Jetzt ist der Fondaco noch leer, nur wenige Touristen verirren sich hierhin. Die Billigflüge sind auch noch nicht da, und so lange sich nicht die gewohnten Massen wieder durch die Gassen wälzen, stehen die Fastfoods, Airbnbs, Hotels, Pizzerien, Ein-Euro-Läden und Fruchtsaftschänken leer: Venedig ist auf Beiß-rein-und-hau-ab-Tourismus ausgerichtet, nicht auf einen nachhaltigen, umweltverträglichen. Was für den Bürgermeister, seitdem er sich im Wahlkampf befindet, ein kleines Problem ist: Am 20. September wird in Venedig gewählt, und der Unternehmer Luigi Brugnaro, der keiner Partei angehört, möchte im Amt bestätigt werden. Was schwierig wird, wenn er, wie jetzt in der Coronakrise, nicht auf das übliche Versprechen des Mehr, Mehr, Mehr setzen kann.

Brugnaro hat den Ausverkauf Venedigs in schwindelerregender Geschwindigkeit vorangetrieben, wodurch er selbst seine geschäftstüchtigen Vorgänger übertraf: den Anwalt Giorgio Orsoni, der wegen der Schmiergeldaffäre rund um das Flutsperrwerk Mose verhaftet und verurteilt wurde. Den von den Medien gehätschelten und drei Mal im Amt bestätigten „Philosophenbürgermeister“ Massimo Cacciari, der mit seinem Privatisierungsmanifest bereits 1994 garantierte, Investoren alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Und Paolo Costa, der sich als Präsident der Hafenbehörde darum verdient gemacht hat, den Kreuzfahrthafen an eine private Betreibergesellschaft verkauft zu haben.

Als Unternehmer betreibt auch Luigi Brugnaro seine Politik: ein politisches Chamäleon, rechts für die Rechten, links für die Linken. Er twittert wie Trump, wird schnell ausfällig und hat Interessenkonflikte wie Berlusconi. Auch wenn er bei Amtsantritt sein Unternehmen für Leiharbeit einem Blindtrust übergab, hat er seine Interessen doch nie aus dem Auge verloren: Die für den Kauf der Insel Poveglia, der – vorerst – noch nicht zustande kam, weil sich eine Bürgerbewegung in den Weg warf. Oder die für die Scuola della Misericordia: von Sansovino erbaut und dem Bürgermeister bis zum Jahr 2051 umsonst überlassen, im Gegenzug für die elf Millionen Euro, die er nach eigenen Aussagen für die Renovierung ausgegeben habe. Und die er wohl schon wieder reingeholt hat, indem er die Scuola für Events vermietet. In Venedig weiß jeder von jedem. Auch ohne die Nuova oder den Gazzettino.

Und deshalb ließ sich auch nicht verschweigen, dass Brugnaro, der sein Amt als Besitzer eines vierzig Hektar großen Areals in Porto Marghera antrat, das er dem italienischen Staat für fünf Millionen Euro abgekauft hatte, selbiges während seiner Amtszeit für mindestens zweihundert Millionen Euro einem chinesischen Investor verkaufen wollte. Als das Geschäft wegen des offensichtlichen Interessenkonflikts scheiterte, brach Brugnaro in Tränen aus: Nichts als Altruismus verberge sich hinter dem Verkauf.

Überhaupt sei Nächstenliebe die einzige Motivation für seine Geschäfte, wie auch seine noble Geste zum Auftakt des Wahlkampfs, sein Gehalt ehrenamtlichen Vereinen zur Verfügung zu stellen. Was weniger edelmütig ist, als es klingt, angesichts der Tatsache, dass sich der Umsatz seines Unternehmens seit seinem Amtsantritt außergewöhnlich gut entwickelt hat und allein in den ersten drei Jahren von 441 Millionen Euro auf 702 Millionen Euro gestiegen ist.

Auf den Markt und das kurze Gedächtnis der Touristen setzte der Bürgermeister auch nach der Sturmflut vom 12. November 2019. Als es in Venedigs Hotels Absagen hagelte, die weit in das Jahr 2020 hineinreichten, gestand er, dem Sturmwind trotzend, zur besten Sendezeit in Gummistiefeln unter den Säulenreihen des Dogenpalastes stehend, über das Flutsperrwerk Mose nichts zu wissen, aber daran zu glauben. Was für einen Bürgermeister, der seit fünf Jahren im Amt ist, eine einigermaßen erstaunliche Aussage ist.

Die Absagewelle versuchte er mit der Kommunikationsoffensive »Venezia Oltre« in den Griff zu kriegen: Weil schon das Weihnachtsgeschäft schleppend verlaufen war, wurden kurz vor dem Karneval Journalisten aus aller Welt eingeflogen, die, mit Sicherheitshelmen ausgestattet, den Markusplatz und die wenigen verbliebenen tapferen Venezianer besichtigen konnten. Bei Gala-Essen wurde den Journalisten klargemacht, dass das Hochwasser komme und gehe: Eine lästige, der Insellage geschuldete Begleiterscheinung, aber im Grunde nichts, was einem Venedigbesuch abträglich wäre.

Desinformationskampagnen haben in Venedig eine lange Tradition: Im »Tod in Venedig« beschreibt Thomas Mann, wie man versuchte, der Ausbruch der Cholera im Jahr 1911 zu verschweigen. Und Karl Kraus berichtete in der »Fackel«, wie die Hoteliers und die Stadt in dem Sommer, in dem es in Venedig viele Cholerafälle gab, ganzseitige Anzeigen finanzierten, in denen mitgeteilt wurde, dass Venedig, die Schönheitskönigin der Adria, zu ihren vielen Reizen einen neuen gewonnen habe: den Lido. Alles andere seien erlogene Alarmgerüchte, der Gesundheitszustand sei der glänzendste: Auf nach Venedig!

Der Karneval 2020 sollte es richten, mit dem Höhepunkt an dem Wochenende vor Rosenmontag. Als das Virus schon in Sichtweite lauerte, mit Infektionsherden in Vo‘ Euganeo unweit von Padua und im lombardischen Codogno, als im Krankenhaus von Venedig, Luftlinie fünfhundert Meter vom Markusplatz entfernt, die ersten Infizierten eingeliefert wurden, strömten 20 000 Menschen nach Venedig. Verzweifelte Appelle an den Bürgermeister und an die Innenministerin, den Karneval abzusagen, um Infektionen zu vermeiden, verhallten ungehört. Erst als alles vorbei war, die Feste in den Palazzi, der Kostümball Ballo Del Doge in der Scuola della Misericordia des Bürgermeisters – Eintritt 1900 Euro, Mitglieder des Arbeitgeberverbands der Industrie konnten mit einer kleinen Ermäßigung rechnen – wurde der Karneval abgesagt. Am Sonntag um Mitternacht. Was ungefähr so ist, wie Weihnachten am Zweiten Weihnachtstag abzusagen, meinte ein Gondoliere, zu dessen letzten Kunden eine chinesische Familie gehörte.

Brugnaro selbst ist von den Auswirkungen des Massentourismus nicht betroffen: Der Bürgermeister von Venedig wohnt nicht in Venedig, auch nicht in der sogenannten Metropolstadt Venedig, sondern in Mogliano Veneto in der Provinz Treviso.

Von einem regiert zu werden, der nie in Venedig gelebt hat, empfinden die Venezianer als ultimative Herabwürdigung. Von einem, der nicht ihren Alltag mit ihnen teilt, der nicht weiß, wie es ist, wenn die Hochwassersirenen gellen und man schnell rennen muss, um im Erdgeschoss alles in Sicherheit zu bringen. Der nicht weiß, wie bitter es ist, wenn die Kinder Venedig verlassen müssen, weil sie hier keine Arbeit finden, die nicht mit dem Tourismus zu tun hat. Der nicht weiß, wie es ist, wenn man sich permesso, permesso rufend durch die millionste Reisegruppe in der Gasse quälen muss. Der mit dem Bau von Hotelsilos auch das Leben in Mestre verschlechtert hat, wo die Einwohner gegen eine allgegenwärtige Drogenkriminalität kämpfen müssen. Der auch nichts am Schicksal von Marghera verbessert hat, dessen kämpferische Bürger sich seit Jahren für einen Strukturwandel einsetzen und fordern, den Petrochemie-Hafen Marghera in einen Technologiepark zu verwandeln.

Die venezianischen Bürger sind es, die seit Jahren konkrete Pläne zum Überleben Venedigs entwickeln – und die jetzt den Aufstand wagen. „Nichts ändert sich, wenn du nichts änderst“ lautet ihr Motto, das dem Wahlkampf eine Wende geben soll. Denn bislang sind nur angetreten: Ein Bürgermeister, der für sich selbst und seine Interessen kandidiert. Ein Kandidat des Partito democratico, der sozialdemokratischen Partei, die hier zwanzig Jahre lang wie ein Monolith herrschte und in Venedig nicht wohlgelitten ist, weil ihr angelastet wird, den Ausverkauf der Stadt vorangetrieben zu haben. Und diverse Bürgerlisten, die im Grunde keine sind, weil sie Unterstützerlisten für den Bürgermeister oder für seinen Herausforderer der sozialdemokratischen Partei sind.

 Jetzt aber gibt es eine Bürgerliste, die diesen Namen verdient, weil sie aus Personen besteht, die keine Parteizugehörigkeit haben: „Terra e Acqua2020 ist der neuartige Versuch eines Zusammenschlusses wichtiger Personen der Zivilgesellschaft und der Bürgerinitiativen, die seit langem für die Bewohner kämpfen, wie Gruppo25aprile, Noi per Venezia oder SÌAmoVenezia“, sagt der Gründer Marco Gasparinetti, ein Jurist, der sich seit Jahren schlagkräftig für die Belange der Venezianer einsetzt. „Unsere Bürgerliste wird mit einem eigenen Bürgermeisterkandidaten antreten“, kündigt er an. „Unser Ziel ist, zu erreichen, dass die Entscheidungen für Venedig nicht mehr in römischen Parteizentralen getroffen werden oder in der Villa eines Bürgermeisters, der es nicht mal für nötig gehalten hat, in die Stadt zu ziehen, die er verwalten soll. Für ihn ist Venedig nur ein Huhn, das gerupft werden soll.“

Und weil ich dem venezianischen Drama nicht weiter einfach nur zuschauen wollte, habe ich auch ich mich den Aufständischen angeschlossen. Als Deutsche will ich vor allem für die europäischen Bürger Venedigs ein Bezugspunkt sein, die, was nur wenige wissen, bei den Kommunalwahlen ihr Wahlrecht ausüben können.

It’s time for a change. In Venedig.