Okay, ich kann gut verstehen, dass es ein Schock ist, wenn man tausend Euro für zwei Wochen Mittelmeer-Kreuzfahrt (inklusive Flug und Vollpension) bezahlt hat und dann erfahren muss, dass einem in Venedig drei Euro Eintrittsgeld abgeknöpft werden sollen. Aber da müssen Sie jetzt durch.
Allen anderen Venedig-Besuchern kann ich versprechen, dass es wahrscheinlich ohnehin an dem in Italien eher gering ausgeprägten Organisationseifer scheitern wird. Italiener sind ja bekanntlich seit der Spätantike unangefochtene Meister der byzantinischen Bürokratie, weshalb die Liste der Ausnahmen länger ist als die der Regeln.
Wer im Großraum Venedig übernachtet, muss nichts bezahlen, weil er ja schon eine Kurtaxe bezahlt. Die Bewohner des Veneto müssen auch nichts bezahlen (auf diesen Schachzug ist Bürgermeister Brugnaro ganz besonders stolz, der ja nicht in Venedig wohnt, sondern in Mogliano Veneto, in der Provinz Treviso). Fußballfans, die dem FC Venedig weiter beim Abstieg zusehen möchten, müssen auch nicht zahlen, genauso wenig wie jemand, der sich einer psychiatrischen Behandlung in Venedig unterzieht (kein Witz!), oder wer zu einer Beerdigung eines Familienangehörigen ersten Grades fährt oder einen Familienangehörigen ersten bis dritten Grades im Gefängnis in Venedig besucht. Und wer an der Adria Urlaub macht, muss nur die Hälfte bezahlen, vielleicht demnächst sogar gar nichts, da wird noch verhandelt.
Wie das Eintrittsgeld letztlich kassiert werden soll, weiß auch noch keiner. Ich stelle mir jetzt schon vor, wie eine Heer von Gemeindepolizisten am Bahnhof Santa Lucia die Ankommenden kontrolliert, während eine weitere Truppe die Feindlage an der Ponte della Calatrava eruiert und sich den Schlaumeiern in den Weg wirft, die glaubten, zu Fuß und damit Venedig umsonst betreten zu können. Und wer in Venedig seinen Wohnsitz hat, wird das Buchungssystem von trenitalia sprengen, weil er vergeblich versuchen wird, seinen gescannten Personalausweis hochzuladen, der ihn vom Eintrittsgeld für seine eigene Stadt befreit.
Bürgermeister Brugnaro platzt vor Stolz und twittert im Minutentakt, dass ganz Europa von ihm wissen will, wie man in Venedig dieses Husarenstück hingekriegt hat. Also vor der Welt als derjenige dazustehen, der sich todesmutig den Brechern des Massentourismus entgegenwirft – ohne die Interessen des Massentourismus zu berühren.
„Im Grunde ist es ganz einfach“, wird er – natürlich ganz im Vertrauen – sagen: „Erstens mal läuft Airbnb weiter, also steuererleichtert und ohne jeden bürokratischen Aufwand. Das Geschäft mit den Ausflugsschiffen von der Adriaküste auch. Und die Kreuzfahrtgesellschaften haben sich schlappgelacht über die drei Euro. Die Ausflugsgruppen, die am Wochenende aus dem Veneto anreisen, sind ja auch befreit, und an ein paar Stellen in Venedig habe ich so eine Art Papierkörbe aufstellen lassen, unter denen sich schlichte Gemüter mit etwas Fantasie Absperrgitter vorstellen können. Wichtig ist natürlich, dass man das Ganze ordentlich propagiert. Twitter, Facebook, Instagram – das volle Programm. Damit am Ende auch der Leser des Schwarzwälder Boten an diesen Quatsch glaubt. Ansonsten geht das Geschäft weiter. Kommen Sie doch mal vorbei! Sie haben Probleme mit den letzten renitenten Bewohnern Ihrer Stadt? Dann sind Sie bei uns richtig! Wir haben hier jede Menge Spezialisten und eine jahrzehntelange Erfahrung mit der Beseitigung der letzten Spuren des normalen Lebens.“
„Zur psychiatrischen Behandlung nach Venedig“
Sehr verehrte Frau Reski,
die Chinesen haben da ihre eigenen Therapien …
Falls es Sie leicht gruselt, rate ich ab das untenstehende kurze FAZ-Video anzusehen. Eine neue Idee der Chinesen: Das Kreuzfahrtschiff „Costa Venezia“ für ca. 5.200 Passagiere. Im ersten Moment konnte ich einen Faschingsscherz nicht ausschließen, aber, das Schiff ist tatsächlich, so wie im Video gezeigt, auf der Route Shanghai – Japan und zurück unterwegs.
Innenbords ist alles auf Venedig gestylt: Kanäle, Gondeln, Restaurants, Laternen, Französische Balkone (heißen die in Venedig auch so?), schwarzweiß quergestreifte Gondoliere mit Strohhut und rotem Halstuch – puuh, alles „Made in China“ (wie vermutlich bei den Originalen auch).
Aber, es könnte auch sein Gutes haben: Vielleicht glauben viele Passagiere nach ein paar Stunden Fahrt nun bereits Venedig gesehen zu haben und lassen es in ihrem nächsten Urlaub aus. Wenn das nur die Hälfte der Passagiere glaubt, fallen pro Überfahrt 2.500 potentielle Venedig-Touristen weg. Das wäre schon einmal ein Anfang. Und, was auch nicht unwichtig ist, auf der Route Shanghai – Japan ist ein Abstecher nach Venedig eher unwahrscheinlich.
Hier das Video: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/costa-venezia-luxus-kreuzfahrtschiff-nur-fuer-chinesen-16070859.html
Schön, daß wir darüber gesprochen haben …
Kurt R. Noll
Zum Thema, ein interessanter Artikel aus der BaZ vom 08.03.2019: „Die dreckigste Art zu reisen“.
https://bazonline.ch/wirtschaft/unternehmen-und-konjunktur/die-dreckigste-art-zu-reisen/story/20764689
Viele Grüße
Kurt Noll