Jedes Mal, wenn ich an den Ort zurückkehre, in dem ich aufgewachsen bin, gehe ich auf den Friedhof, um das Grab meines Vaters zu besuchen. Es ist ein Ritual meiner Kindheit.
Meine Mutter wollte kein Einzelgrab für meinen Vater. Sein Grab ist eine Gruft. Links auf dem Grabstein ließ meine Mutter Platz für ihren Namen frei. Als mein Vater starb, war er siebenundzwanzig Jahre alt. Meine Mutter auch.
Neben den Grabstein pflanzte meine Mutter zwei Rhododendren. Sie blühten nie. Der Friedhof ist wie ein Park angelegt, mit meterhohen Tannen, Ulmen, Ebereschen, Linden. Zwischen all dem Grün sind die Gräber kaum zu sehen. Man hört nichts anderes als Vogelzwitschern und das Geräusch der Schritte auf den Kieswegen.
Als ich Kind war, gingen meine Mutter und ich auf den Friedhof wie andere ins Schwimmbad. Wir liehen uns vom Friedhofsgärtner eine Harke und einen Gartenbesen und befreiten das Grab meines Vaters von herabgefallenem Laub. Wischten Vogeldreck vom Grabstein. Lockerten die Erde. Bevor wir wieder gingen, beseitigten wir unsere Fußspuren. Wir harkten das Stück Weg vor seinem Grab, bis es aussah wie gekämmt.
Das Jahr auf dem Friedhof verlief nach seinem eigenen Rhythmus. Das Frühjahr roch nach Torf, wir kauften einen ganzen Sack voll, dessen Inhalt wir auf dem Grab verteilten, meine Mutter zerbröselte den Torf mit den Fingern, wusch sich danach die Hände in dem eisigen Wasser des Beckens und fluchte darüber, dass ihre Fingernägel schwarz blieben. Im Sommer roch es nach warmer, harter Erde, wir gingen jeden Tag kurz vor dem Sonnenuntergang noch mal auf den Friedhof, um die Blumen zu gießen. Der Herbst roch nach flüssigem Wachs und flackernden Seelen, die ich sah, wenn der Friedhof an Allerheiligen wie ein Lichtermeer leuchtete, der nahe Winter kündigte sich mit Tannengrün an, mit dem meine Mutter das Grab schmückte, sie steckte das Grün ineinander, bis es aussah wie eine Decke. Sie legte ein Gesteck vor den Stein, und ich drängte sie dazu, ein herzförmiges Kissen aus Moos zu kaufen, das mit rosa Plastikblumen geschmückt war. Wir sprachen nie über meinen Vater, wenn wir vor seinem Grab standen. Wir schwiegen. Wir schwiegen, als könnte er hören, was wir sagten. Meine Mutter gab mir nur kurze Anweisungen: Bring mal die Blumen weg. Oder: Hol mal neues Wasser. Ich lief über den Kies zum Wasserbecken, und wenn ich meine Mutter nicht mehr sehen konnte, empfand ich die Stille des Friedhofs als beklemmend, selbst das Geräusch meiner Schritte klang fremd. Bevor ich die Plastikvase in das Wasser tauchte, versuchte ich vergeblich auf den Grund des Wasserbeckens zu schauen, wo ich eine Hydra, eine Meduse, eine Sphinx vermutete, Wesen, die wie eine Fontäne hochschießen und mich verschlingen würden, verwunschene Kröten, wild gewordene Wassergeister, aber nie sah ich etwas anderes als mein Spiegelbild und etwas Laub. Mit spitzen Fingern trug ich die gefüllte Vase wieder zurück. Neben dem Wasserbecken stand ein hölzerner Behälter, in den ich die verblühten Blumensträuße warf. Alles roch säuerlich nach abgestandenem Blumenwasser und verfaulten Blumenstengeln. Wenn ein Strauß verblüht war, ersetzten wir ihn durch einen neuen. Astern, Chrysanthemen, Gladiolen, Nelken. Totenblumen.
Wenn wir vom Friedhof wieder nach Hause kamen, schrubbte meine Mutter mit der Nagelbürste die Friedhofserde unter ihren Fingernägeln weg. Mein Gott, wie sehen bloß meine Finger aus, sagte sie. Aber sie hätte nie Handschuhe angezogen wie die anderen Frauen, die wir auf dem Friedhof sahen. Es war, als müsste sie die Erde an ihren Fingern spüren.
(Aus: Petra Reski, Meine Mutter und ich.)
Mein Vater starb als Bergmann unter Tage.