Eines meiner Lieblingsmärchen war das von den Bremer Stadtmusikanten. Es ist eine Geschichte über Mut in einer scheinbar aussichtslosen Situation. Ein Esel, ein Hund, eine Katze und ein Hahn – die machtlos, hilflos und nutzlos sind, genau wie man sich als Kind – und manchmal auch als Erwachsener fühlt. Der Satz „Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal“ leuchtete mir als Kind sofort ein. Es war eine Haltung, die ich überzeugend fand und die ich mir zu eigen machte.
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Nachdem ich mein Buch „Mafia. Von Paten, Pizzerien und falschen Priestern“ geschrieben hatte, habe ich mehr als drei Jahre mit Prozessen verbracht. Beim letzten Prozess, als das Münchener Oberlandesgericht dem Kläger ein Schmerzensgeld zugesprochen hat, wegen der von mir zugefügten „schweren Verletzung des Persönlichkeitsrechts“, bin ich nicht mehr persönlich erschienen. Das Urteil war von der Richterin erlassen worden, die bereits im einstweiligen Verfügungsverfahren das Schmerzensgeld heraufgesetzt hatte, weil es ihr „a bissl gering“ erschienen war, und die den Kläger der Form halber noch gefragt hatte, ob er denn nun Mafiamitglied gewesen sei oder nicht, so wie es in allen BKA-Berichten (die Richterin sagte: „BAK-Berichten) vom Jahr 2000 bis 2008 dokumentiert wurde. Er sagte, dass er sich das auch nicht erklären könne.
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Ich habe in der Zeit noch ein Sachbuch zum Thema Mafia veröffentlicht, mit dem Titel „Von Kamen nach Corleone. Die Mafia in Deutschland“. Bevor es erschien, hatte ich mit dem Justiziar des Verlages dagesessen und war mit ihm Satz für Satz meines Manuskripts durchgegangen – um es „wasserdicht“ zu machen, also auf mögliche Formulierungen zu überprüfen, die neuerliche Prozesse gegen mich und mein Buch hätten auslösen können. Und natürlich hatte ich schon beim Schreiben meines Buches peinlich genau darauf geachtet, bei Zitaten aus Ermittlungsakten keine Namen zu nennen, keine Umstände genauer zu schildern, die mich juristisch angreifbar hätten machen können. Ich hatte eine Schere im Kopf.
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Als anthropologische Recherche war die Geschichte mit der Mafia in Deutschland sehr nützlich für mich. Ich habe gewissermaßen so etwas wie „method acting“ gemacht, nur eben auf Literatur übertragen: Ich habe nachvollziehen können, wie sich Menschen fühlen, die in das Visier der Mafia geraten sind – die bedroht, verklagt und verleumdet werden – und die nicht nur juristische, sondern auch sehr aufreibende menschliche Erfahrungen machen: enttäuschende, aber auch unverhofft ermutigende.
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Die anthropologische Recherche – und die Schere im Kopf waren es, die mich letztlich dazu gebracht haben, mich der Mafia in Romanform zu nähern: Wenn ich ohnehin keine Namen nennen kann, warum soll ich mich dann durch die Zwänge eines Sachbuchs einengen lassen? Ich wollte nicht mehr mit angezogener Handbremse schreiben – und erinnerte mich an Louis Aragon. Er nannte es mentir vrai, das Wahr-Lügen: Ein Schriftsteller enthüllt die Wirklichkeit, indem er sie erfindet.
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Allerdings klingt das einfacher, als es war. Wie immer hatte ich nichts anderes als ein bestimmtes Gefühl im Bauch, als ich anfing zu schreiben. Oder besser: Ich fing keineswegs an zu schreiben, ich dachte nach. Und zwar ziemlich lange. Und erinnerte mich wieder daran, dass die grenzenlose Freiheit der Literatur Segen und Fluch zugleich ist. Ich wollte einen Roman schreiben, der zwar einen nachvollziehbaren, realen Hintergrund hat, aber keineswegs ein Schlüsselroman sein sollte, wo sich die Kreativität darauf beschränkt, jemandem blaue Augen zu geben, obwohl er in Wirklichkeit braune hat. Mein größtes Problem war die Moral. Die wirft sich beim Thema Mafia immer in den Weg. Und Moral wird in der Literatur oft als ein großes Hindernis angesehen. Ich fühlte mich eingeengt, als Schriftstellerin. Bis ich Quentin Tarantinos Film „Inglorious Basterds“ sah: Eine Gruppe jüdischer Partisanen bekämpft die Nazis mit Nazi-Brutalität.
In der ZEIT wurde sie als „Grandiose Rachefantasie von brutaler Frivolität“ bezeichnet. Und genau das wollte ich auch. Ich wollte mich an der ungerechten Wirklichkeit rächen und gewinnen. Wenn schon nicht im wirklichen Leben, dann wenigstens im Roman. Ich wollte die Mafiosi skalpieren, so wie es die jüdischen Partisanen in Tarantinos Film mit den Nazis gemacht haben. Ich wollte auch kein heiliges Erschaudern vor den Zeichen und Riten der Mafiosi schildern – und die Parallele zwischen den Nazis und den Mafiosi ist kein Zufall, weil dieser Vergleich der einzige ist, der Deutschen vor Augen führt, was die Mafia wirklich bedeutet. Ich wollte auch keinen Mafiakitsch erzählen, so wie es Mario Puzo mit dem Paten gemacht hat, an dem sich die Mafia noch heute erfreut. Ich wollte die Mafia auch nicht als das „absolut Böse“ erzählen, das all diejenigen ihrer Verantwortung enthebt, die ihr die Hand halten – weil sie sich mit ihr Interessen teilen. Ich wollte die Mafiosi nicht weiterleben lassen als Monster und faszinierende Unholde, ich wollte sie in die Luft sprengen.
Ich war so berauscht von der Idee. Ich sah die Truppe schon vor mir: angeführt von einer schönen Antimafia-Staatsanwältin würden sie mordend durch Italien und Deutschland ziehen – wie Tarantino sagte: „Ein Haufen Mistkerle mit einer Mission“.
Bis ich merkte, dass es nicht funktionierte. Weil auch das mafiosen Todeskitsch bedeutet hätte. Und weil es die Rolle der Mafia überhöht hätte, wie es in unendlich vielen Romanen der Fall ist: Sehr häufig werden die Schriftsteller selbst zum Opfer ihrer eigenen Faszination. Andrea Camilleri hat seinem Freund, dem sizilianischen Schriftsteller Leonardo Sciascia vorgeworfen, die Mafia als zu sympathisch, zu faszinierend daherkommen zu lassen, etwa wenn er Don Mariano in „Der Tag der Eule“ darüber schwadronieren lässt, dass er die Menschheit in „Menschen, Halbmenschen, Menschlein, Arschkriecher und Blablablas“ einteilt. Ich stelle eine ähnliche Faszination bei Giancarlo De Cataldo fest, die im übrigen auch von den von ihm beschriebenen Mafiosi geteilt wurde, was sogar zu einer Zurechtweisung des Obersten Richterrats führte, weil De Cataldo eine gewisse Nähe zu den Personen pflegte, die ihm als Vorlagen für seine Romanfiguren dienten, er tauschte nicht nur sms mit einem der Angeklagten des römischen Mafiaskandals aus, sondern telefonierte auch mit ihm , was für einen Schriftsteller kein Problem sein mag, für einen Richter wie De Cataldo aber eine heikle Sache ist. Und auch Roberto Saviano scheint vom Mafia-Zauber oft so geblendet zu sein wie viele Jungs in Neapel – ohne zu merken, dass er der Mafia einen Gefallen tut, wenn er sie als unbesiegbar darstellt. Mächtig ist sie nur dank ihrer Unterstützer, die die Mafia für ihre Zwecke benutzten, gewissermaßen als Dienstleistungsgesellschaft. Ohne sie würde die Mafia schon lange nicht mehr existieren.
Das wirklich Spannende an der Mafia ist für mich nach wie vor die sogenannte „Grauzone“: Die ist literarisch unendlich ergiebig. Interessanter und facettenreicher als die Mafia. Ohne die Grauzone hätte die Mafia nie existiert. Ohne die Unterstützung der vermeintlich Guten, ohne die Feigheit vieler und den verschlossenen Mündern all denjenigen, die für sich einen persönlichen Vorteil aus der Mafia ziehen können, ohne ihre Sympathisanten – Unternehmer, Politiker, Ehefrauen, Rechtsanwälte, Notare, Bischöfe, Bürgermeister, Polizisten und Journalisten – wäre die Mafia schon längst besiegt.
Alle diejenigen, die nur so tun, als stünden sie auf der Seite der Guten, sind literarisch unfassbar lohnend. Finde ich.
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Und so habe ich die Antimafia-Staatsanwältin Serena Vitale erfunden – die Serena genannt wird, aber eigentlich mit dem Vornamen Santa Crocifissa geschlagen ist: heilige Kruzifixin. (Sie wurde nach ihrer im Kindbett verstorbenen Großmutter benannt.) In Palermo Connection führt sie einen Prozess gegen einen Minister, der angeklagt ist, mit Mafia zusammenzuarbeiten. Und muss die Erfahrung machen, dass im Grunde niemand an der Wahrheit interessiert ist. In Die Gesichter der Toten wird sie mit der Suche eines nach seit Jahrzehnten untergetauchten Boss beauftragt.
Und zur Zeit ermittelt sie in einer Geschichte, zu der ich Ihnen nicht allzuviel Details verraten kann: Über laufende Ermittlungen will Serena Vitale nicht sprechen, hat sie mir gesagt. Aber so viel habe ich doch aus ihr herausgekriegt (wir waren mal wieder zusammen essen, in ihrer Lieblingstrattoria in Palermo, Piccolo Napoli): Sie ermittelt wieder in Italien und Deutschland, und Wolfgang Wieneke ist auch wieder mit von der Partie. Investigativ, sozusagen.
Ich lüge, um die Wahrheit zu erzählen.