Neulich war ich zum ersten Mal wieder in Castiglioncello, dem kleinen toskanischen Badeort, in dem ich (Damen nennen keine Zahlen) vor langer, langer Zeit Italienisch gelernt habe. Besonders das passato remoto machte mich fertig, der Konjunktiv erst recht, ich sage nur: congiuntivo trapassato. Im Italienischen gibt es Zeiten, die kann man sich als Deutsche gar nicht vorstellen, geschweige denn konjugieren.
Um mich von den Tücken der italienischen Grammatik zu erholen, ging ich mit meinen Verbtabellen nachmittags an den Strand, wo die Italiener zu meiner Überraschung nicht über das beste Sonnenöl, sondern über das System der illegalen Parteienfinanzierung von Sozialisten und Christdemokraten redeten, über Amtsmissbrauch und Bestechungsgelder, über Mafiaverwicklungen und Mordkomplotte, wobei sie weder das historische Perfekt benutzten, was ja eine abgeschlossene Handlung der Vergangenheit ausgedrückt hätte, ohne jeden Gegenwartsbezug, noch den Konjunktiv, mit dem man Unsicherheit, Möglichkeit, Wunsch, Sorge und Furcht verdeutlicht hätte. Selbst vom congiuntivo trapassato, mit dem man einen Sachverhalt beschreibt, der laut meiner Grammatik „entweder als irreal angesehen oder subjektiv betrachtet wird“ war keine Spur, nein, sie sprachen im Indikativ Präsenz, einer Zeitform, die man benutzt, wie meine Grammatik versicherte, „um ein tatsächliches Ereignis in der Gegenwart zu beschreiben“. Ereignisse, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Und das, obwohl ich Journalistin war. Und drei deutsche Tageszeitungen täglich las.
Wenig später zog ich nach Italien. Die Gesprächsthemen vom Strand waren nun Gegenstand von Gerichtsprozessen. Ich wurde Zeugin, wie das italienische Parteiensystem im Orkus des Schmiergeldskandals verschwand, die beiden Antimafia-Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino in die Luft gesprengt wurden, der siebenfache Ministerpräsident Giulio Andreotti wegen Unterstützung der Mafia verurteilt wurde und Silvio Berlusconi an die Macht gelangte – an der er fast zwanzig Jahre festkleben sollte. Bis Matteo Renzi kam. Der selbsternannte Verschrotter. Der alle loswerden wollte: die politische Führungsklasse, „die schlechteste, die wir je hatten“, die Gewerkschaften, die linken Parolen, die „Theoretiker des Mauschelns mit Berlusconi“. Und dafür nicht nur von der deutschen, sondern von nahezu der gesamten Auslandspresse wie ein Messias bejubelt wurde.
Okay, jetzt könnte man sagen: Nach zwanzig Jahren Berlusconi ist es jeder wert, bejubelt zu werden. Auch der ehemalige Kommunistenchef Massimo D’Alema war beklatscht worden, als er Berlusconi als Ministerpräsident kurzzeitig ablöste – um dann in schönster Eintracht mit ihm das Mafia-Kronzeugengesetz abzuschaffen. Und Romano Prodi war ebenfalls gefeiert worden, als er Berlusconi vorübergehend ersetzte – wobei unter den Tisch fiel, dass Prodi Clemente Mastella zum Justizminister ernannte, einen Mann, der bereits eine gewisse Vertrautheit im Umgang mit organisierter Kriminalität bewiesen hatte und dessen erste Amtshandlung ein gewaltiger Straferlass war – von dem nicht nur Silvio Berlusconi profitierte, sondern auch unzählige Mafiosi, die unverzüglich ihr Tagwerk wiederaufnahmen.
Aber ich will jetzt nicht undankbar sein, Berlusconi-Jahre sind Hundejahre, sie zählen siebenfach. Auch ich bin erleichtert darüber, keine Bunga-Bunga-Geschichten mehr lesen zu müssen, endlich nichts mehr über B.’s Vorstrafen und Liftings. Stattdessen lese ich in den deutschen Medien Beifallsstürme über Renzis Wahlrechtsreform, Ovationen für Renzis Verfassungsreform, Lorbeerkränze für Renzis Ankündigungen, Hashtags und Facebook-Posts.
Ich würde ja gerne annehmen, dass all diese Jubelarien Frucht einer profunden politischen Analyse sind – wenn ich sie nicht bereits am Tag zuvor in den italienischen Medien gelesen hätte, die in überwältigender Mehrheit Parteien, parteinahen Unternehmensverbänden, parteinahen Industriellen und vorbestraften Multimilliardären mit eigener Partei gehören. Und zudem staatlich subventioniert werden, was zu gewissen Liebesdiensten stimuliert. Um so mehr erstaunt, wenn selbst der SPIEGEL dem Journalisten Giuliano Ferrara zwei Seiten für eine Renzi-Eloge einräumt: „Einer wie Berlusconi. Warum ich mich in Renzi verguckt habe.“ Denn von den deutschen Lesern wissen vermutlich nur wenige, dass Ferrara, der Kader der kommunistischen Partei war, als ein Vater noch Senator der KPI war, nach dem Mauerfall Craxianer unter Craxi, Berlusconianer unter Berlusconi und jetzt natürlich Renzianer unter Renzi wurde – und als Chefredakteur von Berlusconis Blatt „Il Foglio“ Diffamierungskampagnen jeder Art übernahm, um Berlusconis politische Gegner, innerparteiliche Abweichler und ermittelnde Staatsanwälte zu treffen. Auf youtube ist einer von Ferraras Einsätzen zu bewundern, als er mit roter Perücke die rothaarige Mailänder Staatsanwältin Ida Boccassini besingt, die gegen Berlusconi den Prozess wegen Amtsmissbrauch und Prostitution Minderjähriger führt.
Ein Teilnehmer von Italienisch für Fortgeschrittene („Erlernen von schwierigen syntaktischen Strukturen“) wäre vermutlich bestürzt, weil er am Strand von Castiglioncello auch heute noch erstaunliche Dinge über Italien erfahren würde. Etwa über die unheilige Allianz zwischen dem italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi und Denis Verdini, dem Vertrauten Berlusconis – ein Gesprächsthema nicht nur, weil sowohl Renzi als auch Verdini aus der Toskana stammen, sondern weil diese Freundschaft Dreh- und Angelpunkt von Renzis Machtsystem ist: Als Berlusconis Macht verblasste, sprang Verdini auf den Renzi-Zug auf – im Gepäck ein Schuldspruch wegen Korruption und fünf laufende Klagen: Verdacht auf kriminelle Vereinigung, Korruption, betrügerischem Bankrott, einfacher und schwerer Betrug zu Lasten des italienischen Staates.
Die Ermittlungen wegen krimineller Vereinigung gegen Verdini und seine Spießgesellen werden P3 und P4 genannt – in Anspielung an die Geheimloge „P2“: dem Netzwerk aus Militärs, Geheimdienstlern, Mafiabossen und anderen Spitzen der Gesellschaft, das Anfang der 1980er Jahre in Italien einen Rechtsputsch plante. Verdini wird der Verrat von Ermittlungsergebnissen, Erpressung, Begünstigung und Amtsmissbrauch vorgeworfen – was ihn für seine Rolle als Königsmacher offenbar prädestinierte: Er verhalf Matteo Renzi erst zu einem Mittagessen in Berlusconis Villa Arcore und schließlich zum „Pakt des Nazareno“: So genannt nach der Parteizentrale der PD, in der sich Renzi, nachdem er sich erfolgreich in sein Amt als Ministerpräsident gegrätscht hatte, mit Berlusconi traf, um die gemeinsame Basis für das zu schaffen, was heute in Italien stattfindet: Mehr als ein Drittel der Verfassung zu ändern und den Senat mundtot zu machen.
„Willst du an der Macht bleiben? Ich bin dein Taxi, ich bringe dich von Berlusconi zu Matteo“, soll Verdini in einem römischen Restaurant seinen Vertrauten versprochen haben. Tatsächlich gab es im italienischen Parlament und Senat noch nie so viele Wendehälse wie während dieser Legislaturperiode. Für zwei Komplizen Verdinis, mit denen er laut Anklage die kriminelle Vereinigung gegründet hat, kam die Aufforderung allerdings zu spät: Der ehemalige Senator Marcello Dell’Utri, Berlusconis rechte Hand, sitzt wegen Mafiabeihilfe im Gefängnis, genau wie der ehemalige Forza-Italia-Wirtschaftsstaatssekretär Nicola Cosentino.
Der Pakt des Nazareno wurde aufgelöst, nachdem genügend Überläufer auf Renzis Seite gewechselt waren und er ordentlich durchregieren kann – auch gegen seine innerparteilichen Kritiker. Flugs funktionierte er das Porcellum, „Schweinerei“ genannte bisherige Wahlrecht zum Italicum um, womit er hoffte, die Neigung der Linken zur Gründung von Miniparteien zu beseitigen: Keine Parteienkoalition, sondern eine Partei, die mit 40 Prozent aller Stimmen gewählt wird, wird mit dem „Mehrheitsbonus“ von 55 Prozent aller Parlamentssitze belohnt. Sollten die 40 Prozent im ersten Wahlgang nicht erreicht werden, treten die beiden stärksten Parteien gegeneinander an.
„Nie mehr italienische Verhältnisse“ titelte die FAZ, als es um das neue Wahlrecht ging. Ein gigantisches und weit verbreitetes Missverständnis: Ja, sicher, Italien bringt es auf 65 Nachkriegsregierungen – aber stets mit den gleichen Gesichtern. Zumal das Italicum alle Ferkeleien des alten Wahlgesetzes enthält: Auch weiterhin können die Italiener keine Kandidaten, sondern nur Parteien wählen – die Katze im Sack, weil es die Parteien sind, die nach den Wahlen jeden, der ihnen genehm ist, zu Abgeordneten ernennen. Und, weil es egal ist, wie viele Stimmen eine Partei im ersten Wahlgang erreicht, könnte sie, falls sie im zweiten Wahlgang siegt, „durchregieren“, obwohl hinter ihr nur 20 Prozent der Wähler stehen – was die von Umberto Eco einst in Opposition zu Berlusconi gegründete Gruppe „Freiheit und Gerechtigkeit“ scharf kritisierte.
Kaum war das Wahlrecht unter Dach und Fach, trommelte Renzi für die Verfassungsreform – gegen die nicht nur der ehemalige Präsident des italienischen Verfassungsgerichts zusammen mit weiteren 56 Verfassungsrechtlern kämpft, sondern auch zahllose andere namhafte Juristen, Intellektuelle, Journalisten, Schriftsteller und Künstler – die in der Verfassungsreform nichts anderes sehen als ein gigantisches Hütchenspiel: Der Senat wird keineswegs abgeschafft, sondern lediglich mundtot gemacht. In Zukunft sitzen im Senat nicht mehr von den Bürgern gewählte, sondern nur noch von den Parteien bestimmte Bürgermeister und Regionalpräsidenten – die auf diese Weise auch noch in den Genuss der parlamentarischen Immunität kommen. Eine „Jahrhundertreform“, von der Berlusconi vergeblich geträumt hat: Dank ihr hätte er alle Kritiker und ermittelnden Staatsanwälte ausschalten können – Gesetze könnten im Eiltempo ohne jeden Widerstand durchgepeitscht werden.
„Operation Überzeugung“ jubelte die Süddeutsche Zeitung – die, wäre eine solche „Reform“ für Deutschland auch nur angedacht worden, zu einer kleineren oder auch größeren Revolution aufgerufen hätte. Aber Italien? Gottchen ja, kennt man doch. Sagte nicht schon der Dichter Giacomo Leopardi von seinen Landsleuten: „Über nichts trösten sich die Italiener leichter hinweg als über den sogar vollständigen Verlust der öffentlichen Anerkennung; und sie schätzen den gering, der dieses Hirngespinst über seinen wirklichen Nutzen und Vorteil stellt“? Für Italien gelten andere moralische Standards. Auch in der Berichterstattung.
Abgesehen davon, dass Renzis Reformen einen gewissen Hautgout haben, weil sie an den „Plan zur demokratischen Erneuerung“ der Geheimloge P2 erinnern, könnte sich das neue Wahlrecht für ihn zu einem Eigentor entwickeln: Bei einer Stichwahl hätte nicht Renzis PD, sondern die Fünfsterne-Bewegung die Nase vorn.
Und da fängt es an, interessant zu werden. Auch für die Auslandspresse. Die, wenn es um die größte italienische Oppositionspartei geht, nahezu den gleichen Schaum vor dem Mund hat wie die italienische Regierungspresse.
Ich frage mich, wie man in Deutschland reagiert hätte, wenn die italienische Presse den Einzug der Grünen in den deutschen Bundestag Anfang der 1980er Jahre mit ebenso viel Häme bedacht hätte, wie die Fünfsterne-Bewegung heute. Ich sage nur: „Krawallpopulisten“, „Fundamentaloppositionnelle“, „Antipolitik“. An Heterogenität konnten es die Grünen von damals mit der Fünfsterne-Bewegung sicher bestens aufnehmen. Und doch haben sie es mehr als jede andere deutsche Partei geschafft, die politische Kultur unseres Landes zu verändern.
Vielleicht wäre es nicht schlecht, mal fünf Sekunden lang die Augen zu schließen und sich vorzustellen, in einem Land zu leben, das 40 Jahre lang von Giulio Andreotti regiert wurde und danach 20 Jahre lang von Silvio Berlusconi, ein Land, in dem es in den letzten Jahrzehnten keine Opposition gab, weil sich die PD bestens mit B. arrangiert hat, und wo nahezu täglich Politiker des Establishments wegen Betrugs, Korruption, Mafiaunterstützung und sonstiger Lappalien festgenommen werden.
Ich persönlich jedenfalls gebe die Hoffnung nicht auf, dass man am Strand von Castiglioncello von all dem irgendwann im „historischen Perfekt“ sprechen wird, was abgeschlossene Handlungen der Vergangenheit ausdrückt, ohne jeden Gegenwartsbezug.
Es ist die hauptsächliche Erzählzeit der Literatur.
(P.S. Dieser Text ist in leicht gekürzter Form am 23. Juli 2016 in der TAZ erschienen)
Vielen Dank, liebe Frau Reski. Endlich eine kompetente Stimme über die Geschichte und Aktualität in „Spaghettiland“. Ich habe Sie bei Michele Santoro in „Anno Zero“ sehen und vor allem hören können. Sie habe mir damals schon sehr gut gefallen. Leider für Sie – und den Lesern die eine aufrichtige Information wünschen – finden Sie kein Raum in der deutschen Presse, weil diese sich von der italienischen kaum unterscheidet und genauso zur Propaganda degradiert ist.
Seit über 20 Jahren lese ich „Der Spiegel“ nur noch wenn der im Wartezimmer ausliegt. Da ich, um gesund zu bleiben, Arztpraxen meide, erfahre ich nun von Ihnen, dass der „abominevole“, abscheuliche Ferrara vom Spiegel bezahlt worden ist um sein verbaler Kot zu verbreiten.
Die Konsequenz ist, dass ich besagtes Blatt nie mehr, auch nur mit Daumen und Zeigefinger anfassen werde. Auch dafür: Dankeschön.
Wäre es nicht wert für Sie ein „Il Fatto Quotidiano“ auf deutsch zu gründen?
Herzliche Grüße aus Köln.
Sigfrido