Und jetzt erst mal das Positive. Nicht nur das Wetter (glasklarer, azurblauer Spätsommer) ist zum Weinen schön, sondern auch die beängstigend reibungslose Organisation des Filmfests. Früher kam es vor den Kinosälen am Lido gelegentlich zu Massenschlägereien, weil Journalisten nicht mehr in die Vorführungen kamen – und deshalb kann ich es kaum fassen, dass jetzt alles so soft und so freundlich läuft, die Kontrolleure am Eingang Buongiorno und Grazie flöten, man fast in den Kinosaal schwebt und immer einen Platz findet, selbst wenn es ein Film mit Johnny Depp ist und man erst fünf Minuten vor dem Filmstart kommt: Ich bin geradezu schockiert.
Heute ein Trickfilm im Programm: Anomalisa. Meine klugen Kritikerfreundinnen, die den Film schon in der Frühvorstellung gesehen hatten, schickten mich mit den Worten: „Ja, der ist lustig, der wird dir gefallen“ in den Kinosaal. (Man sagt mir nach, Filme vor allem dann zu mögen, wenn sie eine Geschichte erzählen. Vermutlich etwas schlicht und antiquiert.) Ja, Anomalisa ist ein ganz netter Film, aber ich habe nicht verstanden, warum die Figuren so lebensecht wie möglich gestaltet werden mussten – hätte man da nicht gleich Menschen nehmen können?
Die Geschichte geht so: Ein berühmter Coach-Motivator (you know, diese Art amerikanischer Wanderprediger für Angestellte) leidet unter der Alltäglichkeit seines Lebens (Setting: ein deprimierend austauschbares amerikanisches Hotel. Teppichboden, Minibar, Eismaschine auf dem Flur) Er soll einen Vortrag bei einen Motivationskongress halten, ruft seine Frau an, redet an ihr vorbei, versucht vergeblich mit seiner Ex-Freundin wieder anzubandeln, trifft aber den falschen Ton und schafft es, obwohl er geradezu deprimierend höflich und umständlich ist, eine schlichte, aber niedliche kleine Angestellte auf sein Hotelzimmer zu locken und mit ihr Sex zu haben (Oralsex, vielleicht war das der Grund für den Trickfilm?), merkt aber, dass auch sie alltäglich ist (beim Frühstück am Morgen danach spricht sie mit dem Mund voller Rührei.) Worauf er wieder wieder zu seiner Frau fährt. Ich fand ihn unfassbar deprimierend, diesen lustigen Film.
Was meine Freundinnen von Marco Bellocchios Film Sangue del mio Sangue halten, weiß ich noch nicht (italienische Filme kommen bei ihnen selten gut an, was ich, trotz meiner, sagen wir, patriotischen Verbundenheit zu meinem Gastland oft sehr gut nachvollziehen kann) – mit hat dieser antiklerikale Vampirfilm allerdings gut gefallen. Mit kleinen Einschränkungen, aber ich will nicht herumkritteln.
Schön fand ich übrigens auch L’Hermine, den Film über einen Hardcore-Richter, der plötzlich weich wird. Der Richter wird von Fabrice Luchini gespielt – und da bin ich voreingenommen, weil es mich schon zerreißt, wenn Fabrice Luchini nur seine Oberlippe hochzieht.
Großartig fand ich Amos Gitais Film über die Ermordung Jitzchak Rabins – ein, wenn das nicht so abschreckend klingen würde, wichtiger Film: „Rabin, the last day“. Ein Film über einen Mann, der dabei war, den Lauf der Geschichte zu ändern – und da waren sehr viele daran interessiert, dass es dazu nicht kam. Die israelische Gesellschaft sei mit dem Attentäter vermutlich so barmherzig gewesen, sagte der Regisseur später, weil man gespürt habe, dass er lediglich der Ausführende für etwas gewesen sei, dass größer war als er. Beeindruckend klar wurde mir durch diesen Film, dass die israelischen Fundamentalisten gegen Rabin praktisch eine Fatwa ausgesprochen haben: einen religiös verkleideten Mordaufruf. Arabische Fundamentalisten unterscheiden sich eben nicht von jüdischen Fundamentalisten.
Mich hat der Film an die Ermordung von Falcone und Borsellino erinnert: die selbe Nachlässigkeit bei den Sicherheitsorganen (Rabins Attentäter konnte sich 50 Minuten lang ungehindert in der sogenannten Sicherheitszone aufhalten – Borsellinos Attentäter konnten ungehindert einen mit Sprengstoff präparierten Wagen vor dem Haus von Borsellinos Mutter abstellen, die er täglich besuchte) und die selben fatalen Auswirkungen auf das ganze Land nach den Attentaten. In Israel kam danach Netanyahu an die Macht, in Italien Berlusconi.
Die Parallelen zu Italien hat der Amos Gitai auch später hervorgehoben: „Diejenigen, die diesen Mord ermöglicht haben, sind noch da – und mancher von ihnen sogar an der Macht. Israel ist genauso schizophren wie Italien, das Kommando geht von vulgären und kitschigen Personen aus – wie derjenige, der Euch lange regiert hat.“