Eine der angenehmen Seiten von Venedig besteht darin, vom Weihnachtswahn verschont zu bleiben. Während die restliche Welt bereits unter einer Kruste aus Engelshaar, Goldpapier und Bratäpfeln erstarrt ist, grübeln die venezianischen Geschäftsleute noch darüber nach, ob sie dieses Jahr tatsächlich Lichterketten aufhängen sollen, und wenn ja, wie die Kosten geteilt werden müssen. In den Restaurants fangen gelangweilte Kellner zwei Tage vor Weihnachten damit an, Watte zu Schneeflocken zu zerpflücken, hier und da Konfetti zu verstreuen, sowie Luftballons und Glitzergirlanden aufzuhängen – damit man mit der Dekoration bis Aschermittwoch noch auf der sicheren Seite ist.
In der ersten Adventswoche belächle ich noch das ferne, von Glühwein, Pfeffernüssen und Weihnachtsmärkten verpestete Deutschland, in der zweiten Adventswoche spotte ich über die englische Seuche, jeden empfangenen Weihnachtsgruß wie eine Trophäe auf dem Kaminsims aufzustellen – jedoch spätestens in der dritten Adventswoche renne ich mit Tunnelblick durch Venedig, auf der Suche nach Weihnachtskarten.
Es gibt dafür keine rationale Erklärung, man kann mir weder Urlaubspostkarten noch Geburtstagsglückwünsche nachsagen, doch kurz vor Weihnachten bricht in mir schweres Deutschtum und eine gewisse Tendenz zur Frömmelei aus, anders kann ich mir mein Verhalten nicht erklären. Vergeblich suche ich in der venezianischen Weihnachtsdiaspora nach Weihnachtskarten. Selbst an Engel kommt man hier nur über Beziehungen, der Rest besteht aus jahreszeitlich neutralen Motiven, zugeschnitten auf Touristenbedürfnisse: handgeschöpfte Ansichten des Canal Grande, Dogen auf Marmorpapier und venezianische Löwen aus Pflanzenfarben.
Wenn es nur noch fünf Tage bis Weihnachten sind, würden mich selbst Motive wie Weihnachtsmänner in Miniröcken glücklich machen, meinetwegen auch Hand- oder Fußgemaltes, ich wäre mir nicht zu schade, eine Prägekarte mit der Aufschrift „Weihnachten heißt: Gott holt uns ab. Egal, wo wir sind“ zu kaufen und schäme mich nicht zu gestehen, dass ich in meiner Not einmal Weihnachtskarten selbst gebastelt habe, ich stempelte kleine, goldene Engelsköpfe auf Büttenpapier, und das, obwohl ich ein erklärter Feind des Bastelns bin, schon als Kind bin ich beim Strohsternekleben gescheitert. Mal saß der Engelskopf nicht richtig in der Mitte, mal war er verwackelt, weil ich den Stempel nicht fest genug gedrückt hatte, am Ende waren meine Finger und Haare mit Goldfarbe verklebt, das Genick versteift, aber das ist der Preis, wenn man die Menschheit retten will.
Erst schreibe ich langjährigen Freundinnen und sympathischen Kollegen. Dann schreibe ich flüchtigen Bekannten und unsympathischen Kollegen. Dann meinen Tanten und meinen zahlreichen, entfernten polnischen Verwandten. Jetzt könnte ich eigentlich aufhören, aber ich kann mich in meiner Güte nicht mehr bremsen, rücksichtslos schreibe ich weiter, an verblichene Liebhaber, an den neapolitanischen Taschenfälscher, den ich bei einer Reportage kennengelernt habe und der ja schließlich auch ein Mensch ist, und an den Chefredakteur, mit dem ich mich wegen einer gestrichenen Passage in meiner letzten Reportage überworfen habe.
Erschwerend kommt hinzu, dass meine Weihnachtsbotschaft persönlich sein soll, eine Kurzgeschichte in drei, vier Zeilen, schließlich bin ich jemand, der sein Leben mit Schreiben verbringt, da herrscht eine gewisse Erwartungshaltung, die mich unter Druck setzt. Aber nur die ersten zehn Karten lang, dann habe ich keine Zeit mehr und gehe dazu über, an alle den gleichen Grußtext zu schreiben, den Erfolgreichen Erfolg, den Arbeitssüchtigen Arbeit und den Liebhabern ein Liebesleben zu wünschen, froheweihnachtengutenrutsch, fertig, zumal ich mit dem Handikap geschlagen bin, jede Weihnachtskarte zweimal schreiben zu müssen, weil ich die Schönschrift nicht hinkriege.
Auch angesichts dieses Unvermögens dachte ich letztes Jahr daran, Weihnachts-E-Mails statt Weihnachtskarten verschicken. So wie der Rest der Welt auch, minütlich gingen Weihnachts-E-Mails mit munteren Fotomotiven ein: Hund mit Weihnachtsmannmütze/Ehemann mit Kerze auf dem Kopf vor Weihnachtsbaum/Kind mit Strohsternen. Und fast immer der gleiche Text: Ich wünsche Ihnen/Euch/Dir frohe Weihnachten und ein glückliches und gesundes Neues Jahr. Und ganz ehrgeizige Kreative posteten auf FB ein Bibelzitat: Und die Erde war wüst und leer. Genesis 1,2.
Ich habe dann einen Engel fotografiert. Und an alle geschickt. Klick und weg. Allerdings schloss das meine polnischen Verwandten, meine Tanten und den neapolitanischen Taschenfälscher aus, weil sie über keinen E-Mail-Anschluss verfügen. Heimlich habe ich dann noch sechzig Weihnachtskarten mit der Hand geschrieben. Weil ich das Gefühl hatte, dass ich sonst in die Hölle komme.
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