Ich traute meinen Augen nicht, als ich las:
- „Man muss das Wahlverhalten der Italiener nicht verstehen, aber man könnte es versuchen. Uns Deutschen stünde dabei etwas weniger Arroganz und Herablassung ganz gut.“
stand da über einem Artikel der Sächsischen Zeitung, der bereits am 2. März erschien. Ich konnte es nicht fassen. Wie konnte das geschehen? Sollte sich tatsächlich jemand die Mühe gemacht haben, die Dinge auch mal von einer anderen Seite aus zu betrachten? Etwas anderes zu schreiben, als das, was man aus der Feder des in Rom stationieren diplomatischen Corps der deutschen Korrespondenten in Rom kennt, die bis auf wenige Ausnahmen (etwa die Wirtschaftskorrespondentin der SZ Ulrike Sauer oder die Taz) nichts anderes als copy&paste aus der etablierten italienischen Presse liefern – was den deutschen Lesern als tiefgründige, politische Analyse verkauft wird. Es wird kein Zufall sein, dass der Autor dieser Zeilen kein Journalist ist, sondern Schriftsteller: Jens-Uwe Sommerschuh. Leider wurde Artikel von der Sächsischen Zeitung nicht online gestellt – was ich hier einfach nachhole.
Ein Land der Clowns und Chaoten?
Von Jens-Uwe Sommerschuh
- Inzwischen haben es alle gehört. Angesichts des Wahlausgangs in Italien ist Peer Steinbrück „entsetzt, dass zwei Clowns gewonnen haben“. Der SPD-Mann, der gern Kanzler werden möchte, lebt in einem freien Land und kann sagen, was er denkt. Beifall bekam er jetzt auch aus der anderen Ecke. Michael Spreng hat 2002 als Wahlkampfmanager Edmund Stoiber (CSU) dabei geholfen, die Bundestagswahl zu verlieren. „Experte“ Spreng erklärte im ZDF, diese Aussage schade Steinbrück im Wahlkampf nicht: „Die Mehrheit der Bevölkerung denkt doch das Gleiche.“ Tut sie das? Dass Steinbrück Grillo und Berlusconi Clowns nennt, ist gar nicht der Kern der Botschaft. Auch nicht, dass er den wortgewaltigen TV-Star, der eine bunte Protestbewegung anführt, und den „Cavaliere“, der wegen Steuerbetrugs vorbestraft ist und den derzeit ein Verfahren wegen Abgeordnetenbestechung erwartet, in eine Schublade steckt. Was er deutschen Stammtischen eigentlich vermittelt, ist sein „Entsetzen“ über das italienische Wahlverhalten. Zwischen den Zeilen steckt ein verächtliches: „Die da unten, die raffen es nicht.“Diese Botschaft wird zwischen Mailand und Messina wohl gehört. Sie harmoniert mit den deutschen Schlagzeilen von der „Chaos-Wahl in Italien“.
- Dabei verlief die Stimmabgabe absolut regulär, führte nur eben nicht zu eindeutigen Mehrheiten.
- Demokratisches Grundprinzip: Jeder Stimmberechtigte hat die freie Wahl, und die Volksversammlung spiegelt die Summe dieser privaten Entscheidungen wider. Es gehört sich nicht, die Italiener dafür runterzuputzen, dass und wie sie von einem Grundrecht Gebrauch machen. Wie daraus eine Regierung wird, steht auf einem anderen Blatt.
- Was sagen die Zahlen? Für die „Camera“ – also das Abgeordnetenhaus – haben von 46,9 Millionen Wahlberechtigten 35,3 ihre Kreuzchen gemacht, 10,0 bei Bersani, 9,9 bei Berlusconi und 8,7 bei Grillo. Was heißt das? 28,3 Millionen wahlberechtigte Italiener haben etwas anderes oder gar nichts angekreuzt, also, um es steinbrück’sch auszudrücken, „keinen Clown“ gewählt. So oder so bleibt es fragwürdig, 18,6 Millionen indirekt als Deppen abzustempeln.
- Und was das „Chaos“ betrifft, so ist eine Wahl, die in ein Patt mündet, nicht dem Wahlvolk aus freien Individuen, sondern allenfalls dem Wahlsystem anzulasten.
- Dennoch ist es außerhalb Italiens schwer vermittelbar, wie Berlusconi nach allem, was vorgefallen ist, noch einmal so viele Stimmen einheimsen konnte.
- Anders liegt es bei Grillo. Dass der Erfolg seiner „Fünf-Sterne-Bewegung“ hier viele verblüfft, rührt daher, dass über dieses bunte Sammelbecken von Unzufriedenen wenig berichtet wurde. Der in Italien äußerst populäre Giuseppe Grillo ist zwar auch Komiker, aber die Attacke auf das politische Establishment ist durch und durch ernst gemeint. Er vereint nicht nur, wie überall zu lesen ist, „Euro-Skeptiker und Populisten“, hier geht es gegen Ämterschacher und Korruption, gegen Mafia, Sozialabbau und Umweltsünden. Unter Grillos Sternenbanner sind vor allem junge Leute und überdurchschnittlich viele Frauen aktiv. Der Erfolg dieser Bewegung ist im Grunde logisch, wenn auch in diesem Ausmaß überraschend und vielen arg unbequem.
- Berlusconis Comeback sehen auch Millionen Italiener mit Sorge. Ich habe in Rom in den vergangenen Jahren mehrfach riesige Demonstrationen gegen ihn erlebt. Die Abscheu vor dem „System Silvio“ wurde aber zuletzt vom Widerwillen gegen die Politik Mario Montis überflügelt.
- Im Dezember hörte ich in Palermo, Catania und Taormina immer wieder: Diese Wahl wird eine Anti-Monti- Wahl. Gewinnen wird, wer den Kurswechsel garantiert.
- Viel mehr als die Frage, ob Bersani, der schon lange im Gespräch ist, oder ein anderer Italiens künftige Regierung anführen würde, beschäftigte die Leute, wie man die IMU wieder loswird, eine von Monti per Dekret eingeführte heftige Steuer auf alles, was vier Wände hat. Von Mailand bis Messina pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass die Idee dafür aus Deutschland stammt.
- In Italien wohnt die Mehrheit in den eignen Räumen: Das meint nicht nur moderne Eigentumswohnungen, sondern auch und vor allem die auf dem Lande wie in den Gassen der steinalten Innenstädte über Jahrhunderte weitervererbten Häuser, Hütten und Gelasse. Wer zur Miete wohnt, zahlt zusätzlich IMU. Alle anderen, auch jene, die trotz niedriger Einkünfte dank eigener Erbwohnung geradeso zurechtkamen, zahlten nun eine als Steuer deklarierte happige Wohn- und Besitzgebühr, eine Rate an den Staat, die andere an die Gemeinde. Für viele wurde es sehr eng. Auch unter Berlusconi gab es eine Immobilienabgabe, doch da waren die erste Wohnung oder das erste Haus steuerfrei. Pikant ist, dass Wohnraum viel höher besteuert wird als Gewerberaum und Banken von einer Sonderklausel profitieren. Man stelle sich vor, rechnete mir ein Sizilianer vor, man hätte den Deutschen gleichzeitig Benzin-, Brot- und Bierpreis verdoppelt … Als Berlusconi vor vier Wochen ankündigte, er werde die IMU abschaffen und für 2012 zurückzahlen, ahnten hier nur wenige, was das bedeutete. In Rom war das anders. Die IMU wird in Italien mit der „Nachttopfsteuer“ verglichen, die Roms Kaiser Vespasian einst auf die öffentlichen Urinale erhob, was den zynischen Spruch „pecunia non olet“ hervorbrachte: Geld stinkt nicht. Tut es manchmal doch.
- Beim Versuch, die öffentlichen Kassen zu sanieren, hat Monti die Grenzen des Zumutbaren überschritten.Ein Teil des Protests kam Grillos bunter Schar zugute. In den ländlichen Gebieten aber war das kaum eine Option. Weil so viele „Merkels Marionette Monti“ abwählen wollten, Grillo aber zu schrill und Bersani nicht überzeugend fanden, entstand ein Vakuum.
- Sollte Berlusconi ein Clown sein, dann zumindest ein sehr cleverer. Und er ist Vakuum-Experte. Sein Einfluss war enorm zurückgegangen, man schätzt, dass ihn höchstens fünf Millionen Getreue gewählt hätten, Verehrer, Verbündete oder Verführte – eine Frage des Blickwinkels. Die andere Hälfte der Stimmen aber verdankt er vor allem seinem Anti-IMU-Coup.Ob Italien mit einer Koalition, einer Minderheitsregierung oder Neuwahlen aus der Zwickmühle kommt, wird sich finden. Demokratie darf schwierig sein. Wir Deutschen sollten uns mit Schlaumeierei zurückhalten. Wir sind zwar das Land der Dichter, Denker und Vortragsredner, doch ganz blöd sind die anderen auch nicht.
- Unser Autor Jens-Uwe Sommerschuh, 53, schreibt Prosa und für die Sächsische Zeitung seit vielen Jahren Kolumnen, Kunst- und Musikkritiken. Er ist regelmäßig in Rom und in Süditalien.Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Analysen und Interviews zu aktuellen Themen. Texte, die Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen.