Als ich „Endlose Tage am Point Zero“ las, die Erzählungen von Stella Gaitano, südsudanesische Schriftstellerin und Writers-in Exile-Stipendiatin des PEN-Zentrums Deutschland, wurde ich in einen prägenden Moment meines Journalistenlebens zurückkatapultiert: Ich hatte gerade die Journalistenschule absolviert, als ich 1988 in den Sudan geschickt wurde, um die Hochwasserkatastrophe des Nils dokumentieren. Ich flog in einem Hilfsflieger nach Khartum und wurde Teil eines Journalistentrosses, der im einzigen Luxushotel der Stadt untergebracht war und sich in der Lobby täglich um einen hochgewachsenen Sudanesen in weißer Djellaba scharte, der als Abgesandter des Informationsministeriums darüber entschied, wer mit wem in welchem Schlauchboot zu welcher Nilschleife fahren durfte: zum Blauen oder Weißen Nil, und wer an dem bevorstehenden Besuch in den überfluteten Norden teilnehmen würde. Die Sudanesen verfluchten uns, als wir Journalisten uns neben sie in die Antonov drängten, zu den Decken, Zelten und Medikamenten, die diese libysche Militärmaschine in den Norden brachte. Nach der Landung erwartete uns der stellvertretende Gouverneur in Uniform samt farbenprächtiger Ordensbrust und wir fuhren in Jeeps über Sandpisten, Schutt und Geröll, entlang an der lehmig-braunen Nilflut, vorbei an Papyrusmatten und obdachlosen Sudanesen, die unseren Anblick wie einen weiteren Schicksalsschlag ertrugen: nach dem Durchfall und der Malaria jetzt auch noch die Journalisten.
Unvergesslich blieb mir die in Khartum spürbare rassistische Hierarchie zwischen den hellhäutigen, arabisch anmutenden Nordsudanesen und den dunkelhäutigen Südsudanesen: Die Herren, die Chefs, waren ausschließlich Nordsudanesen, denen die schwarzafrikanischen Südsudanesen als dienstbare Geister zur Verfügung standen. Als Hilfsarbeiter, Kellner, Gärtner.
Im Jahr darauf wurde ich wieder in den Sudan geschickt. Dieses Mal ging es darum, über die Hungersnot im vom Bürgerkrieg gebeutelten Südsudan zu berichten: über die Operation Lifeline Sudan der Vereinten Nationen. Ich stieg in Nairobi in einen Hilfsflieger, der mich in die von Rebellen belagerte Stadt Jubabringen sollte, wurde zwischen Reissäcken festgezurrt und in Krankenhäuser, Flüchtlingslager, zum Gouverneur und zu einem Hochwürden des Lutherischen Weltbunds geführt. Dem Gouverneur stellte ich kritische Fragen, auf die er nicht antwortete, mit dem Hochwürden trank ich Whisky und als ich mit einem französischen Fotografen auf den Wochenmarkt ging, versuchte eine aufgebrachte Menge uns zu erschlagen, weil wir Fotos von den ausgestellten Waren gemacht hatten und sie dachten, dass wir damit ihren Wohlstand dokumentieren wollten. (Stella Gaitano schreibt in der Erzählung „Am Point Zero“ übrigens: „Schließlich sind wir Südsudanesen dafür bekannt, einander wegen banalster Dinge an die Gurgel zu gehen und dabei kein Menschenleben zu schonen“.)
Nach meiner Rückkehr versuchte ich so gut es ging, das Elend zu protokollieren, die überquellenden Latrinen im Krankenhaus, die Maisration für die Flüchtlinge, die Stapel von Brennholz, die auf dem Markt angeboten wurden – und fühlte mich ungenügend.
Bald darauf kam im Sudan Omar al Bashir durch einen Militärputsch an die Macht, und als der Südsudan 2011 seine Unabhängigkeit erklärte, hatte ich den STERN schon lange verlassen. Den Sudan nahm ich nur noch aus den Reportagen wahr, die Heerscharen von Journalisten geleistet haben – ohne dass sich etwas an dem humanitären Notstand in diesem vom Bürgerkrieg gebeutelten Land geändert hätte.
Und dann traf ich die südsudanesische Schriftstellerin Stella Gaitano – ausgerechnet in Kamen, wo ich aufgewachsen bin. Stella kam 2022 dank Heinrich Peuckmann, Sohn des Ruhrgebiets und damaliger Generalsekretär des PEN-Zentrum Deutschland, im Rahmen des Writers-in-Exile-Programms nach Deutschland, wo sie seitdem lebt und arbeitet.
Als ich Stellas Erzählungen las, spürte ich, wie sie Menschen eine Stimme verleiht, die sonst keine haben: Menschen, die selbst in unseren tapferen, gut gemeinten Sudan-Reportagen immer nur Statisten bleiben.
Erstaunt hat mich, dass Stella auf Arabisch schreibt – in der Sprache, in der ich eigentlich die Sprache der Machthaber sah. Stella ist einzigartig in ihrer Entscheidung, in einer Kombination aus klassischem Arabisch, umgangssprachlichem sudanesischem Arabisch und Juba-Arabisch zu schreiben, obwohl der Südsudan Englisch als offizielle Sprache eingeführt hat. „Die Sprache ist für mich die Seele des Textes“, sagte sie in einem Interview mit der New York Times: „Ich liebe die arabische Sprache und ich liebe es, in ihr zu schreiben. Es ist die sprachliche Form, in die ich meine persönlichen Geschichten und meine Kultur einbringen möchte, die sich von der arabischen unterscheidet.“ Um so mehr ist die Arbeit des Übersetzers Günther Orth zu schätzen, der “Endlose Tage am Point Zero” ins Deutsche übertragen hat.
Im Jahr 2022 musste Stella Gaitano den Sudan verlassen, weil sie sich etwas zuschulden kommen ließ, was ihr eigentlich zur Ehre gereicht: Sie fühlt sich beiden sudanesischen Staaten zugehörig – und schreibt über die Auswirkungen des Krieges und der Korruption auf alle Menschen im Land – im Nordsudan und im Südsudan. Stella hat die Tragik des Landes selbst miterlebt: Sie wurde in Khartum als Tochter vertriebener Südsudanesen geboren, wuchs dort auf und studierte Pharmazeutik, Englisch und Arabisch bis sie, weil sie als Tochter von Südsudanesen nach der Erklärung der Unabhängigkeit des Südsudans als staatenlos galt, 2012 nach Juba im Südsudan gehen musste. Dort arbeitete sie als Apothekerin und war in Hilfsprojekten aktiv, bis sie wegen ihrer Kritik an der südsudanesischen Regierung das Land verlassen musste. 2015 kehre sie zurück nach Khartum, um sich auch dort als Menschenrechtsaktivistin für Dafur zu engagieren, was ihr zahlreiche Drohungen eingebracht hat, weshalb sie 2022 das Land verlassen musste.
Stella Gaitano schreibt seit Ende der 1990er Jahre, gewann im Jahr 2020 den British PEN Award für ihren Roman Edo’s Souls, in zwei Jahrzehnten hat sie Kurzgeschichten, Romane und journalistische Artikel veröffentlicht. “Eddo’s Souls” ist ein historischer Roman über das Überleben einer Familie während der Putsche und Gegenputsche in den siebziger und achtziger Jahren im heutigen Südsudan.
Mit „Endlose Tage am Point Zero“ hat sie zum ersten Mal ein Buch auf Deutsch veröffentlicht, und man spürt, wie sehr ihre Erzählungen von ihren eigenen Erfahrungen leben. In “Abreise nach Kosti” schreibt sie: “Unsicherheit, Schmerz und Furcht lasten auf Teresas Herz, ist sie doch plötzlich Bürgerin eines anderen Staates. Sie fühlt sich zunehmend verunsichert, um sie herum herrscht eine Spannung aus Kummer, Wut und Euphorie. Aus einem Land wurden zwei, und schon wird gefordert, denen die zum anderen gehören, den Schutz zu entziehen und ihnen keine Medikamente mehr zu verkaufen. Auf der Straße werden sie belästigt. Die einen wollen, dass sie verschwinden, andere bitten sie zu bleiben. Ein Wechselbad der Gefühle bricht von allen Seiten über sie herein. Aber der Entschluss der Familie, aus Khartum in den Süden zurückzukehren, steht fest.”
In “Die Rückkehr” beschreibt Stella die Enttäuschung vieler Südsudanesen aus dem Norden in ihren gerade neu gegründeten Staat: “Unser Land war eben erst unabhängig geworden, und was hatte man uns nicht alles versprochen! Dass wir Bürger erster Klasse sein würden, gleich an Rechten und Pflichten. Arbeit für alle in blitzsauberen Büros, das war das Mindeste, worauf wir uns gefreut haben.” Und in “Der Geruch harter Arbeit” beschreibt sie eine Busgesellschaft, die soeben vom Tod des südsudanesischen Rebellenführers und Hoffnungsträgers John Garang erfährt – und am Ende selbst in den Tod stürzt: “Dunst steigt auf, als wäre der Nil eine heiße Suppe, die überzukochen droht. Das Schicksal hatte sie auf kleiner Flamme gekocht, Brennstoff war ein ganzes Land, Zutaten waren die Hoffnungen eines Volkes.”
Anstatt Stella Gaitano so zu bedrohen, dass sie den Sudan verlassen musste, sollten die Sudanesen (sowohl die des Nordens als auch des Südens) Stella Gaitano ehren – schließlich ist ihre Literatur auch der Versuch, über die politischen Grenzen hinweg zu denken und zu schreiben. Und dabei als Schriftstellerin unabhängig – und glaubwürdig zu bleiben.