„Es war richtig, mit dem Boss Riina zu verhandeln (und sich mit dem Boss Provenzano zu verbünden) – Borsellino wusste es nur nicht“ Das ist zusammengefasst die Aussages des Titelbilds des Fatto Quotidiano vom 7. August 2022.
Der Anlass: Am 6. August, also mitten in einer Zeit, in der ganz Italien in Ferien ist, erreichte uns die Nachricht, dass das Berufungsgericht von Palermo fast ein Jahr nach seinem Urteil es endlich geschafft hat, die Urteilsbegründung nachzureichen. Es sind 3000 Seiten – was angesichts des absurden Urteils nicht erstaunt. Die Richter mussten Kunststücke vollführen, um rechtzufertigen, dass es, wie ich bereits vor einem Jahr schrieb, normal sei, wenn der italienische Staat mit der Mafia verhandelt, indem sich hohe Staatsbeamte zu Botschaftern mafioser Forderungen machen. Und wenn die Bosse, wie 1992 geschehen, mit italienischen Politikern und hohen Beamten verhandelten und ihnen eine Liste mit zwölf Forderungen übergaben, „papello“ genannt, mit der sie das Ende der Terrorakte und Wählerstimmen angeboten haben – das aber nicht einhielten, weil sie, wie es der Boss Totò Riina ausdrückte, dem italienischen Staat noch einen weiteren „Klaps“ versetzen mussten: Der „Klaps“ bestand in der Ermordung des Staatsanwalts Paolo Borsellino und seinen Leibwächtern und in den Attentaten von Rom, Mailand und Florenz.
Die Forderungen der Bosse reichten von der Revision der Urteile des Maxiprozesses über das Ende der Beschlagnahmung von Mafia-Gütern bis zur Abschaffung der Kronzeugenregelung und der Hochsicherheitshaft für Mafiosi. Sie wurden, wie es jeder aufmerksame Zeitungsleser verfolgen konnte, beflissen umgesetzt. Nicht nur von der Berlusconi-Regierung, sondern auch von der demokratischen Partei.
Was die Existenz dieses Paktes zwischen Mafia und Staat betrifft, so zweifelt das Gericht sie nicht an, der Unterschied zum erstinstanzlichen Urteil besteht darin, dass jetzt lediglich die Mafiosi verurteilt wurden, die Politiker und die hohen Staatsbeamten, die die Forderungen der Bosse überbrachten, aber nicht. Die verhandelten mit der Mafia „a fin di bene“, in guter Absicht.
Kurz gesagt: Ja, das Berufungsurteil rechtfertigt die Zusammenarbeit zwischen der Mafia und dem italienischen Staat ausdrücklich.
In diesen Zeiten der massiven Restauration, mit den „Besten“ in der Regierung, einschließlich der von Marcello Dell’Utri (Remember: Senator und rechte Hand von Silvio Berlusconi, vorbestraft wegen Unterstützung der Mafia) gegründeten Forza Italia, kann das Urteil zweiten Grades im Fall Trattativa nur als eine weitere durchschlagende Bestätigung der herrschenden politischen Klasse betrachtet werden. Einmal mehr hat sich der Staat selbst freigesprochen.
Interessant ist vor allem, was auf den 3000 Seiten Urteilsbegründung nicht erwähnt wird:
- Kein Wort über den Diebstahl der „roten Agenda“, die aus Borsellinos noch brennenden Wagen von einem Polizisten entfernt wurde – eine Agenda, in der Paolo Borsellino nach dem Tod von Giovanni Falcone alle seine Beobachtungen notierte, die er dem Gericht von Caltanissetta mitteilen wollte.
- Kein Wort über das gigantische staatliche (!) Täuschungsmanöver der Schaffung eines falschen Kronzeugen, der die Verbindung hochrangiger Politiker und Beamter zur Mafia vertuschen sollte.
Die Lesart, die auch mit dieser Urteilsbegründung verbreitet werden soll, ist: Das Super-Ego des Bosses Totò Riina ist an allem schuld – der, dank der tatkräftigen Hilfe des italienischen Staates, durch den mildtätigen Boss Bernardo Provenzano ersetzt wurde – der vierzig Jahre lang vom italienischen Staat dabei unterstützt werden musste, erfolgreich zu unterzutauchen.
Klar ist, dass die Polizisten und die Staatsanwälte, die das nicht kapiert haben, entweder ermordet oder neutralisiert werden mussten.
Die Richter schreiben, dass die hochrangigen Staatsbeamten (von den mit ihnen verbandelten Politikern ist keine Rede mehr) „Provenzanos Untertauchen auf sanfte Weise erleichtern“ wollten, weil es „unsagbare Gründe des nationalen Interesses gab, das Gleichgewicht der Kräfte innerhalb der Cosa Nostra nicht zu stören, das die Hegemonie Provenzanos und seine Strategie der Unsichtbarkeit oder des Untertauchens sanktionierte, zumindest solange dies die der gesamten Organisation auferlegte Linie war“.
Am meisten schockierte mich in der Urteilsbegründung der Ausdruck „unsagbare Gründe“, indicibili ragioni. Er hat mich an einen Brief des Rechtsberaters an den Staatspräsidenten Napolitano erinnert (der zur Zeit der Attentate Parlamentspräsident war), in dem sich der Rechtsberater darüber beklagte, ein unnützer Schreiber unaussprechlicher Pakte gewesen zu sein: solo un ingenuo e utile scriba di cose utili a fungere da scudo per indicibili accordi.
Dies geschah im Jahr 2012, als Napolitano, in den deutschen Medien stets als Grandseigneur der italienischen Politik gerühmt, gerade erfolgreich dafür gesorgt hatte, dass seine Telefonate, die er mit einem angeklagten Innenminister im Hinblick auf die Hintergründe der Attentate auf Falcone und Borsellino geführt hatte, zerstört werden mussten.
Sein Rechtsberater Loris D’Ambrosio schrieb ihm damals: „Sie wissen, dass ich (…) nicht gezögert habe, Episoden aus der Zeit von 1989 bis 1993 zu erwähnen, die mich beunruhigten und zum Nachdenken anregten; die mich dazu brachten, Hypothesen aufzustellen – nur Hypothesen, von denen ich auch anderen erzählt habe – und die mich schier um den Verstand brachten in der lebhaften Angst, damals nur als naiver und nützlicher Schreiber von Dingen angesehen worden zu sein, die als Schutzschild für unsägliche Absprachen zu dienen vermochten.“
Es folgte: Herzinfarkt, mit sechzig.
Über all das habe ich in meinen drei Mafia-Romanen geschrieben. In denen die erfolgreiche Arbeit der Mafia in Deutschland ja auch großen Raum einnimmt. Hier auch noch ein Tipp für eine Sendung, die die erfolgreichen Geschäfte der Mafia in Deutschland noch mal zusammenfasst – allein der Titel ist ziemlich schwachsinnig: „Italien: Aus für die Mafia?“
Denn es geht in diesem Film bei weitem nicht allein um die Mafia in Italien, sondern auch um die erfolgreichen Geschäfte der Mafia in Deutschland. Und auch in Deutschland gibt es unsagbare Gründe für den Erhalt der erfolgreichen Geschäfte der Mafia in Deutschland.
So kommt eine Bemerkung des BKA-Beamten Frank Lippert erst ziemlich naiv daher, wenn er, weil das politisch in Deutschland so erwünscht ist, davon spricht, dass die Schätzung von Staatsanwalt Gratteri, der von 3000 in Deutschland ansässigen Mafiosi spricht, „zu hoch gegriffen“ sei, beim BKA würde man lieber von 1000 Mafiosi ausgehen.
Etwas später sagt er etwas, das mich schier vom Stuhl gerissen hat und da wird deutlich, dass es sich dabei um keine Naivität, sondern um viel mehr handelt. Der BKA-Beamte leugnet den Einfluss der italienischen Mafia auf die deutsche Wirtschaft glattweg und sagt:
Für Deutschland tatsächlich kommen wir zu dem Ergebnis, dass eine systematische Infiltration von der legalen Wirtschaft, insbesondere, wenn Sie jetzt mal im Bereich des Mittelstandes denken, Industrie oder Banken, dass wir das nicht beobachten können. Was man tatsächlich sieht und auch weiß, ist, dass italienische Gastronomiebetriebe eine wichtige Rolle spielen.
Die Botschaft, die er verbreiten will, ist: Wenn wir in Deutschland eine Mafia haben, dann nur so eine, die mit Italienern zu tun hat. In der Gastronomie. Aber sonst nicht. Macht Euch keine Sorgen!
Seitdem ich über die Mafia schreibe, bin ich solchen Äußerungen hochrangiger politischer Beamter in Deutschland immer wieder begegnet. Seit Jahren hält sich die deutsche Politik an dieses systematische Leugnen: Die Entscheidung, den Einfluss der Mafia auf die deutsche Wirtschaft konsequent zu negieren, ist eine politische. Nach dem Motto: Ja, wir haben hier Mafia, aber nur so ein paar italienische (!!) Pizzabäcker. Denn wenn wir den Ursprüngen des Geldes in deutschen Banken nachgehen würden, hätte Deutschland ein Problem.
Ich finde diese Aussage des BKA-Beamten schockierend. Sie widerspricht allen italienischen Ermittlungserkenntnissen der letzten Jahrzehnte.
Die Mafia in Deutschland? Sind nur ein paar Italiener.
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