Ruhrgebiet meets Sudan. Ja, so etwas gibt es hier – dank Heinrich Peuckmann, Sohn des Ruhrgebiets und Generalsekretär des PEN, gestern als Mann an unserer Seite, neben der sudanesischen Schriftstellerin Stella Gaitano und mir, am Abend bei der Lyrik-Lesung zugunsten der Ukraine in der Kamener Stadtbücherei – dem Ort, der mir als Kind dabei half, vom Ruhrgebiet aus die Welt zu erobern. Jedes Mal, wenn ich hier bin, um meine Mutter zu besuchen, werde ich wieder in meine Kindheit zurückgebeamt.
Ruhrgebiet divers
Heinrich hat sein Leben der Literatur verschrieben – und dank Menschen wie ihm ist das Ruhrgebiet in literarischer Hinsicht vielfältiger geworden. Ich meine, was kann diverser sein als eine Lyriklesung mit einer Sudanesin, einer Syrerin und zwei Deutschen, von denen der eine ein Ex-Polizist ist und die andere eine Menschenrechtlerin, die Bilitis heißt und das in echt (kein Pseudonym)?
Dank Heinrichs Arbeit als Generalsekretär des PEN haben in Kamen bereits Schriftsteller wie Yirgalem Fisseha Mebrahtu aus Eritrea, die Syrerin Kholoud Charaf, der irakische Dichter Umar abdul Nasser, der syrische Dichter und Journalist Yamen Hussein, die russische Lyrikerin Anschelina Wladimirowna Polonskajaund der kurdische Schriftsteller, Forscher und Übersetzer Sajjad Jahan Fard gelesen, die belarussische Lyrikerin Volha Hapeyeva soll am 10. Juli in Kamen lesen. Alle sie gehören zum Writers-in-Exile-Programm, das von Astrid Vehstedt, der Vizepräsidentin des PEN, betreut wird.
Literatur muss nicht zwingend nur in Großstädten stattfinden – als Schülerin, die sich in der Stadtbücherei Kamen jede Woche drei Bücher auslieh (mehr durften wir nicht), hätte ich mir ein so vielfältiges Literaturprogramm gewünscht. Einblicke zu bekommen, wie gestern Abend, als Kholoud Charaf ihre Liebeserklärung an Krakau las oder Stella Gaitanos ihr Gedicht über die Mord und Verfolgung im Sudan, sind kostbar – und auch so bewegend, dass den Zuhörern das Wasser in die Augen stieg und sie am Ende nach vorne stürzten, um Stella und Kholoud zu umarmen.
Maulkorb vom „Hüter des freien Worts“
Um so rätselhafter ist es zu sehen, dass ausgerechnet Astrid Vehstedt und Heinrich Peuckmann von dem – dank Süddeutscher Zeitung mit dem Qualitätsmerkmal „handfester Springer-Journalist“ versehenen – Deniz Yücel, im Oktober 2021 zum neuen PEN-Präsidenten ernannt, aus ihren Ämtern gedrängt werden sollen. Und wer dies zu kritisieren wagt, dem droht Yücel der „Hüter des freien Worts“ mit Klagen.
Für mich als Journalistin ist es interessant zu beobachten, wie sich nahezu die gesamte Presse wie ein Mann vor Yücel wirft – offenbar weil das Narrativ von den alten, weißen Männern, vulgo den „Elefanten“, „Flusspferden“ oder „Silberrücken“ (zit. Yücel) – besonders im Tal der Ahnungslosen so bequem ist. Gebetsmühlenartig wird der Auseinandersetzung im PEN der Frame verpasst, dass es sich bei dem neuen PEN-Präsidenten um jemanden handele, der eine unbequeme politische Meinung verkünde – der Punkt ist aber ein anderer: Es ist Yücels gutes Recht, Schwachsinn zu reden – nicht aber im Namen des PEN. Und erst recht nicht, wenn er dabei die minimalsten Formen des menschlichen Umgangs mißachtet.
Nach unserer Lesung gestern Abend gab es, vielleicht zur Enttäuschung mancher, keinen „Scheißgrillabend“, sondern nur ein paar Tapas beim Spanier. Die waren aber sehr gut. Neben den Ruhrpottdichtern (komisch eigentlich, dass der Ausdruck Ruhrpott immer von Leuten benutzt wird, die in ihrem ganzen Leben noch keinen Fuß ins Ruhrgebiet gesetzt haben) saßen Stella Gaitano und Kholoud Charaf am Tisch, für die das Writers-in-Exile-Programm hier Wohnungen gefunden hat. Und so hatte ich Gelegenheit, mit Stella Gaitano über den Sudan zu reden, über den ich als junge Journalistin meine ersten Auslandsreportagen gemacht habe.
Fluchtgeschichten sind Menschheitsgeschichten
Was ich im Gespräch mit Stella am bewegendsten fand, waren die Gemeinsamkeiten, die wir zum Thema Flucht und Heimat feststellten. Fluchtgeschichten erzählen Menschheitsgeschichte. Es sind diese Fluchterfahrungen, unsere eigene kollektive Geschichte von Flucht und Vertreibung, die deutsche Familien mit den Flüchtlingen gemeinsam haben, die nach Deutschland kommen. Nach Kriegsende trafen 14 Millionen Vertriebene in Restdeutschland ein – meine Familie war eine davon. Die Heimatlosigkeit meiner ostpreußisch-schlesischen Eltern und Großeltern hat mich geprägt: Ich habe die Flucht nicht erlebt, aber sie gehört zum Gepäck meines Lebens, ich bin damit aufgewachsen, Tochter von Flüchtlingen zu sein. Flüchtlingsgeschichten haben mich mein Leben lang nicht losgelassen.
Besonders das Ruhrgebiet, Schmelztiegel schlechthin, wurde und wird für viele Flüchtlinge zur Heimat. Was für verfolgte Autoren, die ihre Heimat verlassen mussten, ja nicht das Schlechteste ist. Für Abende wie diesem bin ich dem PEN, Heinrich Peuckmann und Astrid Vehstedt dankbar.