Über Löwen und Kämpfe.

Wenn das Jahresende langsam, aber unerbittlich heranrückt, blickt man zurück – und zu den unbestrittenen Höhepunkten des vergangenen Jahres gehört für mich der Ricarda-Huch-Preis, für den die Literaturkritikerin Kristina Maidt-Zinke diese wunderbare Laudatio gehalten hat, die ich Ihnen nicht vorenthalten will (und die ich mir in dunklen Stunden durchlese, wenn ich mal wieder kurz davor bin, zu denken, dass alles vergeblich ist, was glücklicherweise meist nicht lange anhält, weil sich dann wieder mein Hang zur Renitenz gegen Fatalismus durchsetzt).

 

Kristina Maidt-Zinke

Laudatio auf Petra Reski

anlässlich der Verleihung des Ricarda-Huch-Preises 2021

am Sonntag, dem 3. Oktober 2021

– es gilt das gesprochene Wort –

lassen Sie mich zunächst über Löwen reden.

Hier in Darmstadt befinden wir uns im Reich jenes Löwen, der seit einem Dreivierteljahrtausend das Wappen des ehemaligen Herzogtums und späteren Bundeslandes Hessen ziert. Etwas älter ist der Braunschweiger Löwe, bronzenes Standbild und Herrschaftssymbol der Welfen, bis heute allgegenwärtiges Emblem der Stadt, in der Ricarda Huch geboren wurde, aufwuchs und später noch vier Lebensjahre verbrachte. Bis ins 9. Jahrhundert zurück reicht die Geschichte des geflügelten Markuslöwen als Wappentier und Hoheitszeichen der Republik Venedig, deren einstiges Zentrum, unvergleichlich kostbar und stark gefährdet, seit mehr als 30 Jahren die Heimat von Petra Reski ist. Wir sind also bei der heutigen Preisverleihung von Löwen umgeben, und wenn wir wollen, können wir auch noch das fantastische Exemplar dazuzählen, das die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, kurz bevor sie Ricarda-Huch-Preisträgerin des Jahres 2011 wurde, im Arbeitszimmer des Philosophen Hans Blumenberg auftauchen ließ.

 

Hic sunt leones – und die auffällige Ansammlung von Löwen scheint vortrefflich zu den Statuten des Preises zu passen, werden mit diesem königlichen Tier doch traditionell Eigenschaften wie Mut und Tapferkeit assoziiert. Dass Zoologen und Tierverhaltensforscher solche Zuschreibungen mittlerweile widerlegt haben, tut der überlieferten Botschaft des Bildes keinen Abbruch. Der Markuslöwe, in dessen Sphäre Petra Reski lebt, führt aber noch auf eine andere Spur: Als der Kirchenvater und Bibelübersetzer Hieronymus im vierten Jahrhundert den vier Evangelisten die aus der Offenbarung und anderen Quellen abgeleiteten Symbolfiguren zuordnete, bezog er sich dabei jeweils auf die Anfänge der Evangelientexte, und bei Markus war es das Jesaja-Zitat von der „Stimme des Predigers in der Wüste“, das er mit dem Attribut des Löwen verknüpfte. Auch gibt es die Legende, nach der Hieronymus als Eremit einen verletzten Löwen gesundpflegte, worauf dieser zum Dank mit gewaltigem Gebrüll eine Räuberbande verschreckte. Bildhaft lässt sich daraus schließen, dass es beim sogenannten Löwenmut in erster Linie auf das furchtlose Erheben der Stimme ankommt. Dabei muss nicht gepredigt werden – sprichwörtlich wurde später ja der „Rufer“ in der Wüste, der für Warnungen und Weckrufe zuständig ist.

 

„Mein Herz, mein Löwe“ heißt eines der bekanntesten Gedichte von Ricarda Huch“. Nicht zufällig – und ganz gewiss nicht wegen einer besonderen Affinität zu Braunschweig – zieht sich das Löwen-Motiv durch das gesamte Werk der Schriftstellerin, die deshalb zur Patin dieses Preises wurde, weil sie stets unerschrocken, unbeeindruckt von ihren Widersachern äußerte, was sie dachte. Und wenn man auf die Reihe der Preisträger seit 1978 zurückblickt, dann fällt auf, dass es sich dabei fast ausnahmslos um Persönlichkeiten handelt, die sich – auf die eine oder andere Art – um das geschriebene Wort verdient gemacht haben. Das erscheint insofern folgerichtig, als das geschriebene Wort, in seiner literarischen oder in seiner publizistischen Ausprägung, immer noch das Ausdrucksmedium ist, in dem sich unabhängiges Denken, das wichtigste Kriterium für diese Auszeichnung, am wirkungsvollsten artikulieren kann. Wer schreibt und das Geschriebene öffentlich macht, der erhebt seine Stimme und offenbart seine Denkungsart nachhaltiger und nachprüfbarer, als dies bei irgendeiner anderen Äußerungsform möglich wäre.

 

Der Ricarda-Huch-Preis wird seit mehr als vier Jahrzehnten jeweils im Abstand von drei Jahren verliehen, einmal waren es sogar vier. Über diesen Zeitraum samt Zwischenräumen hinweg dürften die Maßstäbe, die bestimmten, was „unabhängiges Denken“ ausmacht und wie viel Mut es erfordert, damit an die Öffentlichkeit zu treten, sich immer wieder leicht verändert haben, je nach der zeitgeschichtlichen Situation, in der die Preisvergabe stattfand. Bei jedem und jeder Geehrten konnte und musste vermutlich neu und unvoreingenommen definiert werden, worin sein oder ihr mutiges Handeln und gesellschaftliches Wirken im Sinne Ricarda Huchs bestand.

 

Beim Blick auf die Arbeit der Autorin und Journalistin Petra Reski, die heute ausgezeichnet wird, entfaltet sich ein ganzes Spektrum von Unbeugsamkeiten, kämpferischen Auftritten und couragierten Aktivitäten, das sich über verschiedene gesellschaftliche Problemfelder erstreckt. Und es fällt zugleich ein Wesenszug ins Auge, der, in ganz anderer Hinsicht, ebenfalls an Ricarda Huch erinnert: Bei dem Versuch, Reskis publizistisches und literarisches Œuvre, als Ganzes oder in seinen Teilen, in Kategorien oder Schubladen einzusortieren, wird man immer wieder auf Widersprüchliches, scheinbar Ungereimtes stoßen. So unnachgiebig sie sich in ihre Recherchen verbeißt und so scharf ihre Analysen sind, so ausgeprägt ist andererseits ihr Sinn für Humor und Lebensgenuss. So leidenschaftlich sie ihren Standpunkt vertritt, so kompromisslos sie sich gegen alles stellt, was sie als unethisch oder zerstörerisch erkannt hat, und so spontan sie sich manchmal auch für Hoffnungsträger engagieren kann, so wenig lässt sie sich auf politische oder gar ideologische Verbindlichkeiten festlegen. In ihren erzählenden Büchern verschwimmen die Genre-Grenzen, Sachbuch und Belletristik sind zuweilen nicht säuberlich getrennt, Aufklärung und Unterhaltung werden vermischt, teils aus strategischen Gründen, teils aus reinem Vergnügen. Wir haben es hier sichtbar mit einer Form des unabhängigen Denkens zu tun, die sich jeglicher Vereinnahmung und jedem Gruppenzwang verweigert.

 

Wir erinnern uns: Ricarda Huch stieß mit ihrem besonderen literarischen Verfahren an der Schnittstelle von Historiographie und Dichtung, von Roman und Kulturphilosophie schon bei etlichen Zeitgenossen auf Unverständnis, und heute ist von ihrem Werk, das viele Tausend Druckseiten umfasst und eine große thematische und stilistische Bandbreite aufweist, nur noch sehr wenig präsent. Sie, die in ihren Jugenderinnerungen berichtete, dass sie als Kind das Wort „Rebell“ vor sich hingemurmelt habe wie ein Mantra, gilt vielen umstandslos als „große Konservative“, und ihr vehementer Einspruch gegen die unmenschlichen Machenschaften der Nationalsozialisten ist gerade der jüngeren Generation oft nicht geläufig, ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie 1930 das Kommunistische Manifest als „Grundstein zum Neubau Europas“ bezeichnet hatte, ungeachtet dessen aber nach dem Krieg dem neuen ostdeutschen Regime, von dem sie umworben wurde, eine klare Absage erteilte. Ricarda Huchs Biographie ist insgesamt geprägt von einer Erfahrung, die auch Petra Reski  kennt: dass denjenigen, die sich nicht restlos einordnen und zuordnen lassen, denen ihre innere Freiheit über alles geht, oftmals mit Irritation und Ignoranz begegnet wird. Denn die Welt liebt Schubladen – heute mehr als je zuvor. Nicht nur, weil sie Rettung vor der grassierenden Unübersichtlichkeit versprechen, sondern auch, weil sie zunehmend mit Marktsegmenten korrespondieren, die gerade im Literatur- und Medienbetrieb so etwas wie kultische Verehrung genießen.

 

Petra Reskis Jugenderinnerungen sind aufgehoben in ihren – leider nur noch antiquarisch verfügbaren – Büchern „Ein Land so weit“ aus dem Jahr 2000 und „Meine Mutter und ich“, drei Jahre später erschienen. Das sind zwei autobiographische Werke, die wunderbar leicht geschrieben sind und doch so viel mehr enthalten, als die Titel verraten. Das erste berichtet von einer Spurensuche in Polen, wo die Autorin durch Zufall in das Heimatdorf ihres Vaters geriet und von ihrer ostpreußisch-schlesischen Familiengeschichte erstmals einen sinnlich-konkreten Eindruck gewann, der sich ihr aus den Flucht-Erzählungen ihrer Verwandten nie mitgeteilt hatte. Verwandten übrigens, denen, wie Reskis liebevoll-ironische Porträts klarstellen, nichts ferner lag als revisionistische Bestrebungen oder Vertriebenen-Larmoyanz. Auf jener Reise, der weitere folgten, begriff sie plötzlich, wie man sich als Flüchtling fühlt, und was sie damals notierte, könnte heute dazu beitragen, den Migranten aller Länder mit mehr Empathie zu begegnen. Aber vor zwei Jahrzehnten wurde sie noch gründlich missverstanden, als sie während einer Schriftstellerdiskussion zum Thema Vertreibung bemerkte, dass der Verlust der Heimat eine ähnlich traumatische Erfahrung sein könne wie der Verlust eines geliebten Menschen, dass Flüchtlinge und Vertriebene also ein Recht auf Trauer hätten. Eine solche Denkweise kam damals noch einer kühnen Abweichung vom Mainstream gleich. Es ist sehr aufschlussreich und zugleich amüsant, dazu Reskis Artikel aus der ZEIT  vom 13. November 2003 zu lesen.

 

Das zweite erwähnte Buch ist eine Hommage der Autorin an ihre Mutter, der sie ihre kämpferische Natur verdankt, an das Ruhrgebiet, in dem sie aufwuchs, und an ihren Vater, den jungen Bergmann, der drei Jahre nach ihrer Geburt bei einem Grubenunfall tödlich verunglückte und den sie deshalb fast nur aus Erzählungen kennt. Alles wird überstrahlt von einer Begebenheit, die sich zwei Wochen nach Petra Reskis Geburt ereignete und die sie tatsächlich auf ihren beruflichen Weg brachte – das wird sie aber nachher selbst berichten. Und weil das Schicksal an einer Wegbiegung dann auch noch vorsah, dass sie ihren Lebensmittelpunkt nach Venedig verlegte, vollbringt dieses Buch das wohl einmalige Kunststück, eine Liebeserklärung an den Ruhrpott, wie er vor einem halben Jahrhundert war, mit einer Schilderung Venedigs zu verbinden, wie man es um die Jahrtausendwende noch erleben konnte, aber jetzt nicht mehr wiederfinden wird.

 

Ricarda Huchs Rebellen-Mantra hätte auch zu dem Kind gepasst, als das Petra Reski sich selbst in ihren Erinnerungen beschreibt. Nicht, dass sie besonders aufsässig gewesen wäre – im Gegenteil, sie erkannte offenbar früh die Notwendigkeit der Solidargemeinschaft zwischen einer alleinerziehenden Mutter und ihrer Tochter unter schwierigen Verhältnissen. Was aber vor allem auffällt in diesem berührenden, oft selbstironischen Rückblick, ist der Drang des kleinen Mädchens, seine Umgebung genau zu beobachten, Fragen zu stellen, scheinbar Selbstverständliches in Zweifel zu ziehen. Aus  einer Mischung von Skepsis und Urvertrauen, so der Eindruck, konnten sich hier schon in jungen Jahren ein kritischer Eigensinn und ein starker Wille entwickeln, die dann geradewegs auf die Laufbahn der unbeirrbar hartnäckigen, detektivisch ermittelnden Journalistin führten – gleichzeitig aber auch ein Sinn für Komik und eine Begabung zur Lebensfreude, die man in diesem Beruf als Energiequelle gut gebrauchen kann.

 

Für den 2018 in der Schweiz erschienenen Reportagen-Sammelband „Wellen schlagen“ hat Petra Reski unter dem Titel „Die Sternschnuppe und die harten Jungs“ einen herrlich satirischen Beitrag über ihre Zeit im Auslandsressort des Hamburger Wochenmagazins „Stern“ verfasst, wo sie sich, nach dem Romanistik- und Soziologiestudium und dem Besuch der Henri-Nannen-Schule, als Redakteurin und Reporterin für alle nur denkbaren Herausforderungen stählen konnte. Eine davon war, dass sie 1989 auf einer Dienstreise nach Venedig dem Mann begegnete, der seitdem „der Venezianer an ihrer Seite“ ist. Allerdings musste das Buch, in dem sie ihn und seine Stadt 25 Jahre später so hinreißend porträtierte, auf Verlagswunsch „Der Italiener an meiner Seite“ heißen – darunter konnten sich deutsche Leserinnen mehr vorstellen, auch wenn dazwischen in Wahrheit Welten liegen. Auch dieses Werk, das mit seinen feinfühligen und hellwachen Schilderungen Venedigs über eine ungewöhnliche Liebesgeschichte weit hinausgeht, ist leider schon vergriffen – und sollte, wie die anderen genannten Titel, dringend neu aufgelegt werden..

 

Fortan fiel bei Petra Reski die Unabhängigkeit des Denkens zusammen mit dem freiberuflichen Schreiben. Sie war von Venedig aus als Reporterin in aller Welt unterwegs, ohne Scheu vor Gefahrenzonen und Kriegsgebieten, konzentrierte sich jedoch bald auf ein Thema, das sie schon seit ihrer Schulzeit umtrieb, ein Thema, das wie kaum ein anderes von Mythen, Verdrängung und Verdunkelung geprägt und für Journalisten, die sich ernsthaft darauf einlassen, mit lebensgefährlichen Risiken verbunden ist: die Mafia. Die frühe Faszination geht nach Reskis Auskunft auf ihre zwiespältige Erfahrung mit ihrer eigenen Clan-Familie zurück, die einerseits Stärke und Geborgenheit vermittelte, andererseits Symptome jenes „amoralischen Familismus“ zeigte, den der amerikanische Anthropologe Edward C. Banfield in den Fünfzigerjahren als ein Grundproblem Italiens und eine Hauptursache des Mafia-Systems definierte. Die „Amoralität“ ihres Familienclans manifestierte sich für Petra Reski darin, dass ihre jung verwitwete Mutter jahrelang als Ausgestoßene galt, weil sie sechs Jahre nach dem Tod ihres Mannes wieder einmal zum Tanzen gegangen war. Der Loyalitätskonflikt, über den sie als Kind mit niemandem sprechen konnte, machte die zukünftige Journalistin sensibel für mafiöse Strukturen und deren verbrecherische Konsequenzen – obwohl sie bekennt, dass auch sie zunächst den durch Kinofilme verbreiteten, romantisierenden Mafia-Klischees aufgesessen war.

 

Als Zwanzigjährige  führte ihre erste Italienreise sie „Von Kamen nach Corleone“; das wurde dann der Titel ihres 2010 erschienenen Buchs über die Aktivitäten der Mafia in Deutschland, die mit den Duisburger Morden der kalabrischen ‘Ndrangheta  im Jahr 2007 zumindest ansatzweise ins öffentliche Bewusstsein gedrungen waren. Doch schon seit 1989 recherchierte und schrieb sie über die sogenannte „ehrenwerte Gesellschaft“, die immer wieder zu einer Art  italienischer Folklore verharmlost wurde, während sie sich  schleichend globalisierte und ihren kriminellen Einflussbereich auf das internationale Wirtschafts- und Finanzwesen ausdehnte. 1994 erschien „Rita Atria“, die wahre Geschichte einer jungen Sizilianerin, die nach der Ermordung von Vater und Bruder mit der Justiz kooperiert und sich nach den tödlichen Attentaten auf die Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino 1992 das Leben genommen hatte. Doch erst der Reportagenband „Mafia“ aus dem Jahr 2008, für den Petra Reski zu Aktionsfeldern und Tatorten der gewaltbereiten Organisation gereist war, um mit Hinterbliebenen von Opfern, mit Justizvertretern und Politikern, aber auch mit korrupten Priestern sowie abtrünnigen und praktizierenden Mafiosi zu sprechen, wurde von einer breiteren Öffentlichkeit als Weckruf und zugleich als Dokument einer extrem mutigen Recherche wahrgenommen. Dass die Macht der Mafia längst auch in Deutschland bis in die Mitte der Gesellschaft reichte, zeigte sich dann darin, dass hier sogenannte „erfolgreiche italienische Unternehmer“, obwohl einschlägig vorbelastet, die Autorin vor Gericht ziehen und die Schwärzung von Buchpassagen erwirken konnten.

 

Petra Reski wurde im Gerichtssaal und bei Lesungen in mafiatypischer Manier öffentlich bedroht; sie wurde im Jahr 2017 nach einem Zeitungsartikel abermals in eine juristische Auseinandersetzung gezwungen, deren Rechtskosten sie durch Crowdfunding finanzieren musste, weil der Verleger ihr die Solidarität verweigerte. Sie ließ sich von all dem nicht einschüchtern – was unter anderem ihre drei Mafia-Krimis um die als Gastarbeitertochter im Ruhrgebiet aufgewachsene, in Palermo ermittelnde Staatsanwältin Serena Vitale belegen, der sie unübersehbar Züge von sich selbst verliehen hat: Es gelingt ihr darin, die eigenen Recherchen auf raffinierte Art zu fiktionalisieren, ohne deren Realitätsgehalt zu schmälern.

 

Die Mafia gründet ihre Funktionsweise auf ein System von Abhängigkeiten – Einschüchterung auf der einen Seite, Privilegien und Profit auf der anderen. Deshalb ist ein Denken und Handeln, das sich von beidem unabhängig macht, ihr größter Feind. Aber Petra Reski bringt ihre kämpferische Courage und investigative Zähigkeit auch dort in Anschlag, wo die Mafia nur unsichtbar oder indirekt mitmischt, oder dort, wo Konzerne und andere Wirtschaftsakteure sich das ehrenwerte System zum Vorbild nehmen, weil es sich so gut bewährt hat: Das betrifft etwa die großen Umweltskandale  Italiens, wie den Krieg gegen die apulischen Olivenbäume (nachzulesen im GEO-Magazin vom Dezember 2019), die schneeweißen Giftstrände der Toskana, (dokumentiert im mare-Heft Nr. 117) oder die sizilianische Petrochemie-Anlage Augusta, von der wir noch hören und lesen werden.

 

Und dann natürlich: Venedig. „Wenn Venedig stirbt“ hieß eine „Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte“, die der italienische Kunsthistoriker Salvatore Settis 2014 veröffentlichte. Dass Venedig stirbt und woran es stirbt, erlebt Petra Reski seit vielen Jahren am eigenen Leib. Und so hoffnungslos die Lage auch erscheinen mag, so mächtig auch die Interessen sind, die diesem einzigartigen menschlichen Siedlungsgebilde die Lebenskräfte abgraben wollen, um es bis auf den letzten Stein und den letzten Holzpfahl zu kommerzialisieren: Sie kämpft als eine der direkt Betroffenen, die täglich weniger werden, wie eine Löwin weiter um die Seele der Stadt, mit unablässiger Aufklärungsarbeit – aktuell in ihrem außergewöhnlichen Buch „Als ich einmal in den Canal Grande fiel“, dessen Titel lustiger klingt, als es die Erkenntnisse sind, die man daraus gewinnt. Wenn Venedig stirbt, bedeutet das mehr als nur den Verlust eines historischen Sehnsuchtsortes: Es ist ein Symptom dafür, dass die Menschheit dabei ist, sich selbst zu zerstören. Aber solange in der Wüste der Ahnungslosigkeit und Ablenkung noch rebellische Stimmen hörbar sind wie die von Petra Reski, sollten und dürfen wir die Hoffnung nicht aufgeben. – Herzlichen Glückwunsch zum Ricarda-Huch-Preis!