Ich gehöre zu den Journalisten, die den Prozess um die Verhandlungen – ich würde es lieber Pakt nennen – zwischen der Mafia und dem italienischen Staat vom ersten Tag an verfolgt haben – und ich erinnere mich heute noch an das Schweigen der italienischen Medien, die in all den Jahren verzweifelt versucht haben, den Prozess zu ignorieren, selbst dann noch, als das Urteil in erster Instanz gefällt wurde. Ich habe den federführenden Staatsanwalt Nino Di Matteo oft getroffen. Im Justizpalast von Palermo und im Gerichtsbunker von Ucciardone, inmitten von leeren Gitterkäfigen, Trikolore-Schärpen, kaugummikauenden Schöffen, abgelaufenem Plastiknoppenboden, einem Kruzifix über dem Gerichtspodest, die Beschwörungsformel „Das Gesetz ist für alle gleich“ in goldenen Lettern und flackernden Bildschirmen für die Videoschaltungen in die Hochsicherheitsgefängnisse. Einen Teil meiner Beobachtungen habe ich in meinem Roman Palermo Connection verarbeitet.
Im Prozess ging es um die Jahre 1992-1993, der Zeit der Morde an Falcone&Borsellino und der darauffolgenden Attentate in Rom, Mailand und Florenz. Für den Verzicht auf weitere Gewalt seien der Mafia nicht nur das Ende der Strafverfolgung, sondern auch politische Unterstützung garantiert worden, so hieß es im Urteil in der ersten Instanz, das alle, sowohl Mafiosi als auch Politiker und hohe Staatsbeamte zu hohen Haftstrafen verurteilte.
Jetzt wurde am 23. September 2021 in Palermo das Urteil in zweiter Instanz gesprochen. Was die Existenz dieses Paktes zwischen Mafia und Staat betrifft, so zweifelt das Gericht sie nicht an, der Unterschied zum erstinstanzlichen Urteil besteht jedoch darin, dass jetzt lediglich die Mafiosi verurteilt wurden, die Politiker und die hohen Staatsbeamten, die die Forderungen der Bosse überbrachten, aber nicht. Kurz gesagt: In Palermo wurde ein Berufungsurteil gefällt, das Zusammenarbeit zwischen der Mafia und dem italienischen Staat – ja, rechtfertigt. In diesen Zeiten der massiven Restauration, mit den „Besten“ in der Regierung, einschließlich der von Marcello Dell’Utri (Remember: Senator und rechte Hand von Silvio Berlusconi, vorbestraft wegen Unterstützung der Mafia) gegründeten Forza Italia, kann das Urteil zweiten Grades im Fall Trattativa nur als eine weitere durchschlagende Bestätigung der herrschenden Klasse, der „white collars“ betrachtet werden, wie der ehemalige Staatsanwalt Antonio Ingroia richtig sagte. Einmal mehr hat sich der Staat selbst freigesprochen. Die Restauration unter Draghi setzt sich weiter fort.
Für das Gericht ist es also völlig normal, dass hohe Staatsbeamte sich zum Botschafter mafioser Forderungen machten, die Bosse 1992 mit italienischen Politikern und diesen hohen Beamten verhandelten und ihnen eine Liste mit zwölf Forderungen übergaben, „papello“ genannt, mit der sie das Ende der Terrorakte und Wählerstimmen angeboten hatten – nicht aber ohne zuvor, wie es der Boss Totò Riina ausdrückte, dem italienischen Staat noch einen weiteren „Klaps“ zu versetzen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen: Der „Klaps“ bestand in der Ermordung des Staatsanwalts Paolo Borsellino und seinen Leibwächtern und den Attentaten in Rom, Mailand und Florenz. Die zwölf Forderungen der Bosse reichten von der Revision der Urteile des Maxiprozesses über das Ende der Beschlagnahmung von Mafia-Gütern bis zur Abschaffung der Kronzeugenregelung und der Hochsicherheitshaft für Mafiosi. Sie wurden, wie es jeder aufmerksame Zeitungsleser verfolgen konnte, beflissen umgesetzt. Nicht nur von der Berlusconi-Regierung, sondern auch von der demokratischen Partei.
Es ist nicht so, dass mich das Urteil zweiten Grades im Prozess um die „Trattativa“ oder den Pakt zwischen dem Staat und der Mafia überrascht hätte. Ich habe bereits den Andreotti-Prozess und das ebenso absurde Urteil verfolgt, als Andreottis Unterstützung für die Mafia als erwiesen und gleichzeitig verjährt erklärt wurde.
Tragischkomisch waren die Kommentare in den italienischen Zeitungen, die alle, ausgenommen „Il Fatto Quotidiano“, das Urteil bejubelten. Zu lesen war: Ob es da Verhandlungen zwischen dem italienischen Staat und der Mafia gegeben habe oder nicht sei im Grunde völlig unerheblich, und falls ja, auch in Ordnung. Denn schließlich sei es völlig normal, mit Verbrechern zu verhandeln, das sei eine bewährte Praxis, zum Beispiel, wenn man Geiseln eines Bankraubs befreien will. Ach ja, schrieb da Marco Travaglio, Chefredakteur von „Il Fatto Quotidiano“, es sei aber komisch, dass man bis heute keine Polizisten gesehen hat, die Bankräuber am Ende laufen lassen und das Polizeipräsidium darüber informieren, dass man den Räubern etwas geben muss, damit sie nicht wieder eine Bank überfallen, und die Bankräuber am Ende zu Bankdirektoren ernannt werden, damit sie nicht rückfällig werden.
Das Bündnis zwischen der Mafia und dem italienischen Staat ist so alt wie die Mafia selbst. Der Pakt ermöglichte die Landung der Alliierten auf Sizilien im Jahr 1943, schwächte die sizilianische Landarbeiterbewegung nach Kriegsende mit dem Massaker von Portella della Ginestra während einer Maidemonstration und bestimmt noch heute das Schicksal Italiens.
Worüber aber jetzt niemand spricht: Im Herbst 2017 wurden die bereits eingeleiteten Ermittlungen gegen Silvio Berlusconi und seine rechte Hand Marcello Dell’Utri wegen angeblicher Komplizenschaft bei den Morden an Falcone und Borsellino wieder aufgenommen.
Der Pakt zwischen dem italienischen Staat und der Mafia ist der Schoß, aus dem alles kroch. Es hat sich nichts geändert.
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