Die Mafia und die Macht

An dem symbiotischen Verhältnis zwischen Staat, Parteien und Organisierter Kriminalität in Italien wird sich auch unter Regierungschef Mario Draghi nichts ändern. Die Verfilzungen reichen so tief und sind so weit verbreitet, dass Reformen immer wieder ins Leere laufen.
Von Petra Reski

 

Es war im fernen Jahr 1961, als der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia einen Roman mit dem Titel „Der Tag der Eule“ veröffentlichte. Ein Kriminalroman ohne Lösung, eigentlich ein Anti-Kriminalroman. Seitdem gilt Sciascia als Schöpfer des Mafia-Krimis schlechthin – obwohl es ihm weniger um die Mafia ging als um das Ergründen der Macht. Er wollte, so schrieb er, „etwas über das Wesen der Macht aussagen, über die Macht, die immer undurchsichtigere Formen der Verflechtungen annimmt, wie sie in gewisser Weise für die Mafia eigentümlich sind“.

 

Sciascia war der erste Schriftsteller, der die Zusammenarbeit der Mafia mit der politischen und wirtschaftlichen Elite Italiens in seinen Romanen schilderte – und er war es auch, der mit der „Theorie der Palmengrenze“ schon Anfang der 1970er Jahre ein passendes literarisches Bild dafür fand, dass man sich außerhalb von Italien vor ähnlichen Entwicklungen nicht allzu sicher wähnen sollte: Gemäß einer geologischen Theorie verschiebe sich die Verbreitungsgrenze der Palme aufgrund der Erderwärmung jedes Jahr mehrere hundert Meter weiter nach Norden. Palmen würden also in absehbarer Zeit auch an Orten wachsen, an denen sie heute undenkbar seien. Und genauso verhalte es sich mit der Verbreitung der Mafia. Sie existiere bereits in Norditalien und werde weiter nach Norden ziehen. Weil sie kein Gegenstaat sei, sondern sich in den Eingeweiden des Staates einniste.

 

Genau das ist gerade jetzt besonders heikel, wenn mit dem europäischen Aufbauplan NextGenerationEU, dem bis dato größten Konjunkturpaket, das je aus dem EU-Haushalt finanziert wurde, ein warmer Regen auf die Länder der Europäischen Union niedergehen wird: 750 Milliarden Euro. Für Italien ist die größte Summe bestimmt: 209 Milliarden Euro, weshalb nicht nur italienische Ermittler, sondern auch die Europol-Direktorin Catherine De Bolle vor einer immer stärkeren Infiltration der Wirtschaft durch die Mafia warnen.

Unglücks-Gewinnler

 

Die historische Erfahrung hat die Italiener gelehrt, dass der Gewinner eines großen Unglücks immer die Mafia ist. Bei jedem Erdbeben wurde die Mafia reicher, jedes Notstandsgesetz entwickelte sich für sie zu einem Geschäft, schließlich ist das Umleiten öffentlicher Gelder in ihre Taschen die Königsdisziplin der Mafia – die sie seit Jahrzehnten auch sehr erfolgreich im Rest der EU betreibt. Die Corona-Krise hat Italien, wo die Wirtschaftskrise zu einem chronischen Zustand geworden ist, einen weiteren Schlag versetzt: Das Land, das vom Tourismus lebt, wurde empfindlich getroffen – und von dieser Schwäche profitiert die Mafia.
Nicht nur dadurch, dass sie der Bevölkerung gegenüber als Wohltäter auftritt und in Süditalien Pasta verteilt, sondern auch weil die Covid-19-Krise der neoliberal geprägten, marktwirtschaftlich handelnden Mafia in die Hände spielt: Sie ist der einzige Akteur in dieser weltweiten Krise, der kein Liquiditätsproblem hat. Aus Sicht der Mafia ist die Pandemie ein Glücksfall, zumal das Gesundheitswesen traditionell ein bewährtes Geschäftsfeld der Mafia ist. Bereits im vergangenen Jahr deckten Ermittler große Geschäfte der Mafia auf – mit Masken, Schutzausrüstungen und serologischen Kits bis hin zum Bestattungswesen.

 

Nicht nur Antimafia-Ermittler, sondern auch der Unternehmerverband Venetiens beklagen, dass die Mafia auf Shoppingtour ist: Egal ob Immobilien, Aktienanteile, Unternehmen – Geld ist genug da. Wobei die Mafia natürlich nicht einfach nur verschuldete Unternehmen aufkauft, sondern vor allem in Not geratenen Unternehmern eine „Hilfe“ anbietet, um die Krise zu überwinden. Sie weiß dabei die byzantinisch anmutende Bürokratie auf ihrer Seite: Bis der italienische Staat eine Unterstützung zahlt, ist manches Unternehmen bankrott.

 
Geld mit Bedingungen

 

Allerdings möchte die Mafia nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in politischer Hinsicht zum Nutznießer des europäischen Aufbauplans NextGenerationEU werden. Denn das Geld für Italien ist an Bedingungen gebunden, an Reformen, die vor allem die überbordende Bürokratie und die ineffiziente Justiz betreffen. Reformen, die nicht nur Premierminister Mario Draghi in seinem „Plan für Wiederaufbau und Resilienz“ dargelegt hat, sondern zuvor auch bereits die Regierung Conte. Reformen, an denen die Mafia naturgemäß größtes Interesse hat – um sie in ihrem Sinne umzugestalten.

 

Bis heute ist es der Mafia gelungen, sich mit allen politischen Parteien zu arrangieren, egal ob rechts oder links. Suspekt war ihr nur die Fünf-Sterne-Bewegung, die 2018 mit großem Aplomb und dem Schlachtruf „Onestà“ („Ehrlichkeit“) als größte Partei ins italienische Parlament einzog. Erst regierte sie an der Seite der rechtspopulistischen Lega von Matteo Salvini, die in ihrer Geschichte wenig Berührungsängste mit der Mafia gezeigt hatte. Dann als Mitte-Links-Koalition mit zwei kleinen Splitterparteien und der Demokratischen Partei, die sich zwei Jahrzehnte lang an Berlusconi abarbeitete – allerdings nicht in Auflehnung, sondern in Annäherung.

 


Weil der Kampf gegen Mafia und Korruption zur Geschichte und den Grundpfeilern des Wahlprogramms der Fünf-Sterne gehören, waren die Erwartungen ebenso groß wie die Widerstände gegen sie. Schon das Bürgergeld löste Unmut aus, obwohl es letztlich nichts anderes ist als eine Form von Hartz IV – und damit das Minimum in einem Land, in dem die Mafia im Süden immer noch die Menschen in Geiselhaft hält, weil es die Bosse sind, die darüber entscheiden, wer Arbeit bekommt und wer nicht.

 
„Korrupte wegfegen“

 

Justizreformen wie ein Antikorruptionsgesetz durchzusetzen (im typischen Fünf-Sterne-Duktus „Spazzacorrotti“ genannt: „Korrupte wegfegen“) stieß auf noch größere Widerstände: Korruption zahlt sich in Italien aus, weil unzählige Verbrechen bereits verjährt sind, bevor es zu einem endgültigen Urteil kommt. Die Verjährung von Korruptionsdelikten liegt bei siebeneinhalb Jahren. Wenn ein Staatsanwalt ein Verbrechen aufdeckt, das vor drei Jahren begangen wurde, ermittelt er mit drei Jahren Verspätung. Und in Italien setzt die Verjährungsfrist nicht aus, wenn ermittelt wird. In Italien sind unzählige Verbrechen verjährt, bevor es zu einem endgültigen Urteil kommt

 

Strafverfahren dauern bis zum rechtsgültigen Abschluss in dritter Instanz oft mehr als sechs Jahre, während in den meisten EU-Staaten vergleichbare Prozesse nach gut einem Jahr abgeschlossen sind. Die EU sollte also eigentlich darüber glücklich sein, dass die als populistisch gescholtenen Fünf-Sterne eine Reform zur Verkürzung der Prozessdauer durchgesetzt haben. Diese sieht eine grundsätzliche Aussetzung der Verjährungsfristen bei Gerichtsverfahren nach der ersten Instanz vor, während nach der zweitinstanzlichen Verurteilung die Verjährung gestoppt wird. Damit soll die Kunst des „Aussitzens“ bekämpft werden, die nicht nur von Silvio Berlusconi und seinen Anwälten meisterhaft beherrscht wird. Zehn Prozesse gegen Berlusconi kamen zu Fall, weil die Verfahren nicht bis zum Ablauf der Verjährungsfristen abgeschlossen werden konnten.

 

Das Parlament stimmte der Reform der Verjährungsfrist zu, allerdings ohne die Stimmen von Renzis Splitterpartei Italia Viva, dem kleinsten Koalitionspartner der Regierung Conte: Renzi kritisierte, dass damit die Rechte der Angeklagten beschnitten würden. Bald darauf entzog Renzi der Koalition sein Vertrauen und brachte so die Regierung Conte zu Fall.

 

Draghis „Regierung der Besten“

 

Es folgte der von den italienischen Medien zum Messias verklärte Mario Draghi als Regierungschef der „Regierung der Besten“, wie sie von Staatspräsident Sergio Mattarella bezeichnet wurde, und zu der alle italienischen Parteien bis auf die rechtspopulistischen Fratelli D’Italia ge- hören. Ein Regierungsbündnis, hinter dem allerdings weniger der hehre gemeinsame Kampf gegen die Pandemie steht als das Interesse an den 209 Milliarden Euro des europäischen Aufbauplans. Auch die Fünf-Sterne-Bewegung schloss sich dieser Regierung an, wie es hieß, um die von ihnen angestoßene Justizreform zu retten, verlor sich aber weitgehend in internen Richtungskämpfen, was viele ihrer Wählerinnen und Wähler enttäuschte.

 

Bei seiner Antrittsrede im Parlament erwähnte Mario Draghi die Mafia mit keinem Wort. Was umso mehr erstaunt, als auch Forza Italia zum Regierungsbündnis gehört, die Partei Berlusconis, der, wie Gerichtsurteile belegen, selbst in seiner Amtszeit als Ministerpräsident noch große Summen an die Mafia gezahlt hat. Seit zwei Jahren wird gegen ihn erneut ermittelt: wegen des Verdachts auf Beteiligung an den Mafia-Attentaten 1992 bis 1994.

 

In den italienischen Medien, die staatlich subventioniert werden und in überwältigender Mehrheit Parteien, parteinahen Unternehmensverbänden, parteinahen Industriellen und vorbestraften Multimilliardären mit eigener Partei gehören, war die Mafia bis vor Kurzem kein Thema mehr: Alles kreiste um Impfungen, Inzidenzzahlen, Mindestabstand, Astra-Zeneca ja oder nein.

 

Selbst der spektakuläre kalabrische Maxiprozess, in dem keineswegs nur Mafiosi angeklagt sind, sondern auch ein Ex-Carabinieri-General, Polizeispitzen, ein ehemaliger Forza-Italia-Abgeordneter, Bürgermeister, Regionalräte, Parteifunktionäre der Linken, Unternehmer, Anwälte und Steuerberater, fand kaum Aufmerksamkeit.

 

Der Prozess will das Herzstück der Macht zerlegen, die enge Beziehung zwischen der ’Ndrangheta und den Freimaurern: eine Art Mafia-Elite, für die die kalabrische ’Ndrangheta eine übergeordnete Instanz geschaffen hat, die „Santa“: Geheimlogen, in denen die Eliten der ’Ndrangheta gleichberechtigt zusammen mit Politikern, Unternehmern und Geheimdienstlern arbeiten. Seitdem Ausschreibungen europaweit erfolgen, somit der Zugang zu öffentlichen Geldern und die Vergabe öffentlicher Aufträge nicht mehr von lokalen Politikern abhängen, mit denen die traditionelle Mafia stets zusammengearbeitet hat, kommt diese Mafia-Elite zum Einsatz, die in den Schaltzentralen der Macht in Italien und Europa ein- und ausgeht.

 

Selbst über die spektakuläre Tatsache, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nach der Klage eines Mafioso zu dem Urteil kam, dass die in Italien für Mafiosi vorgesehene lebenslange Haft ohne Möglichkeit auf vorzeitige Entlassung als Verletzung der Charta für Menschenrechte anzusehen sei, wurde in den italienischen Medien kaum berichtet. Auch die Nachricht, dass das italienische Verfassungsgericht daraufhin im Jahr 2020 die lebenslange Haft für Mafiosi als verfassungswidrig einstufte – falls es das italienische Parlament bis Mai 2022 nichtschaffen sollte, den Artikel 4 des Strafvollzugsrechts zu reformieren –, sorgte nur unter Mafia-Opfern und Antimafia-Staatsanwälten für einen Aufschrei. (Und in dem Zusammenhang ist es vielleicht nicht ganz uninteressant zu erwähnen, dass die jetzige Justizministerin Marta Cartabia die ehemalige Präsidentin des italienischen Verfassungsgerichts ist.)

 
Falsche Empörung

 

Ein Sturm der Entrüstung brach hingegen aus, als im Mai bekannt wurde, dass der abtrünnige Mafioso Giovanni Brusca nach Jahrzehnten – rechtmäßig – aus der Haft entlassen wurde. Freigelassen wurde er nur eine Woche nach dem 29. Todestag von Giovanni Falcone, dem Mafia-Jäger, an dessen Ermordung Brusca beteiligt war. Nahezu das gesamte italienische Establishment gab sich empört und unterschlug dabei, dass es der ermordete Antimafia-Ermittler selbst war, der das Gesetz auf den Weg gebracht hatte: Mafiosi kommen nur dann in den Genuss von Hafterleichterungen und der Aussicht auf vorzeitige Entlassung, wenn sie mit der Justiz zusammenarbeiten. Und genau das hat der ehemalige Mafioso Giovanni Brusca getan.

 

Die Forderung nach Abschaffung lebenslanger Haft stand auf der Liste der Mafia-Bosse 

 

Falls die Reform des Artikels 4 des Strafvollzugsrechts misslingt, wird demnächst eine Gruppe von unbeugsamen Mafiosi das Gefängnis als freie Männer verlassen, ohne je mit der Justiz kooperiert zu haben: Männer wie Giuseppe Graviano oder Leoluca Bagarella, Totò Riinas Schwager, die alle an den Mafia-Attentaten der 1990er Jahre beteiligt waren.

 

Kein Mafioso wird mehr mit der Justiz zusammenarbeiten, weil die Notwendigkeit zur Kooperation mit der Justiz kein Anreiz mehr für Hafterleichterungen ist, warnte Roberto Scarpinato, der bis April dieses Jahres Generalstaatsanwalt von Palermo war. „Nach und nach werden im allgemeinen Schweigen einige der Hauptziele der Mafia-Massaker von 1992 bis 1994 verwirklicht: die Zerschlagung des gesamten Systems zur Bekämpfung der Mafia-Organisationen, das von Giovanni Falcone erdacht und von ihm gewünscht wurde“, sagte der Antimafia-Staatsanwalt Nino Di Matteo.

 

Di Matteo hat den Prozess um die „Trattativa“ geführt, den Pakt zwischen dem italienischen Staat und der Mafia: Dank dieses Prozesses sowie der Aussagen vieler abtrünniger Mafiosi wissen die Italiener, dass das Blut der beiden Richter noch nicht getrocknet war, als der italienische Staat bereits kapituliert hatte und weiter mit der Mafia verhandelte – so wie er es von Anfang seines Bestehens an getan hat. Die Abschaffung der lebenslänglichen Haft stand auf der Liste der zwölf Forderungen, mit der die Bosse das Ende der Terrorakte und Wählerstimmen anboten. Am Ende des Prozesses um die „Trattativa“ wurden im April 2018 Politiker wie der ehemalige Senator Marcello Dell’Utri, hochrangige Geheimdienstler und Mafiosi zu hohen Haftstrafen verurteilt. Im Laufe dieses Jahres wird das Berufungsurteil erwartet.

 

Die Erkenntnisse aus diesem Prozess sind verheerend, nicht nur für den italienischen Staat, sondern auch für die Mafia – deren Nimbus zerstört wird, wenn bekannt wird, dass sie sich hat benutzen lassen, als bewaffneter Arm des Staates, im Grunde als eine Art Dienstleister, um fremde politische Ziele durchzusetzen. Nachzulesen ist all das in der Urteilsbegründung des Prozesses der „Trattativa“. Diese Erkenntnisse zu verbergen, daran sind Teile des italienischen Staates und der Mafia bis heute extrem interessiert.

 
Ein verheerender Pakt zwischen Staat und Mafia: Der Prozess um die „Trattativa“ brachte Undenkbares ans Licht

 

Es war ein ehemaliger Informant der italienischen Geheimdienste, Elio Ciolini, der die Attentate bereits im März 1992 vorausgesagt hatte. Er stand im Verdacht, mit rechtsextremen Gruppierungen und einigen Protagonisten der Geheimloge Propaganda Due zusammenzuarbeiten und saß wegen Betrugs im Gefängnis. Aus der Zelle heraus hatte er an den Untersuchungsrichter einen Brief geschrieben, mit dem Betreff „Neue Strategie der Spannung“. Darin kündigte er Ereignisse an, welche die öffentliche Ordnung destabilisieren würden: Attentate an öffentlichen Orten, Morde an Politikern mit dem Ziel der politischen Neuordnung.

Ciolini wurde als Schmierfink bezeichnet, als Wichtigtuer, als irrer Verschwörungstheoretiker – und hatte fast alle Attentate jenes Jahres präzise vorausgesagt, einschließlich der Morde an den beiden Richtern und der darauf tatsächlich folgenden politischen Neuordnung. Die einzigen, die Elio Ciolinis Brief eine außerordentliche Bedeutung beimaßen, waren junge Staatsanwälte in Palermo wie Nino Di Matteo und Roberto Scarpinato.

 

Manchmal übertrifft die Realität die Fiktion.

 

Mein Beitrag „Die Mafia und die Macht“
wurde im IP Special • 5/2021 „Schattenhandel“ der Internationalen Politik veröffentlicht.