Acqua alta. Von Menschen gemacht.

 

Es ist der Alptraum schlechthin. Ich habe so ein Hochwasser noch nie erlebt, in 30 Jahren in Venedig. Höchststand um 23 Uhr: 1,87 Meter, knapp unter dem Höchststand des katastrophalen Hochwassers von 1966, wie man auf diesem Foto sehen kann.

Hochwasser 1966 – 2019

Der Bürgermeister will den Klimawandel verantwortlich machen – aber was steckt dahinter?

Ich fand es ja bemerkenswert, dass der venezianische Bürgermeister erstens den Klimawandel entdeckt hat und zweitens festgestellt hat, dass die Hochwasserschleuse MOSE noch nicht funktioniert.

Sie werden Bilder von dem Hochwasser im Fernsehen gesehen haben. Weshalb an dieser Stelle erwähnt werden muss, dass das venezianische Hochwasser von Menschen gemacht ist: Das delikate Gleichgewicht der Lagune geriet spätestens seit der Grabung des Canale dei Petroli ins Schwanken, einer tiefen Fahrrinne für die Erdöltanker. Durch diesen Kanal haben sich die Strömungsverhältnisse und die Morphologie der Lagune radikal verändert: Wenn der Wind das Meer in die Lagune drückt, dringt schneller und mehr Hochwasser in die Stadt. Der Kanal hat auch die “Barene” weggespült, die sumpfartigen Inseln, die bei Hochwasser wie ein Schwamm wirkten.

Fahrrinnen für Erdöltanker und Kreuzfahrtschiffe

Venedig befindet sich in einer Lagune, die im Schnitt nicht tiefer als 1,50 Meter ist. Also nicht gemacht für Schiffe mit Tiefgang, was notwendig wurde, seitdem eine Clique geschäftstüchtiger Unternehmer im Faschismus nicht nur Porto Marghera schaffte, sondern auch den „Großraum Venedig“, also Venedig zu dieser Zwangsehe mit dem Festland nötigte, die bis heute besteht: der überwiegende Teil der Bevölkerung dieses Großraums lebt auf dem Festland (180 000), die Venezianer mit knapp 52 000 Einwohnern sind in der Minderheit – weshalb sie bei Wahlen ihren politischen Willen nicht zum Ausdruck bringen können.

Um den Hafen für die Erdöltanker nutzen zu können, wurde der Canale dei Petroli ausgebaggert – und schon bei dem verheerenden Hochwasser von 1966 wurde der Kanal für die Erdöltanker als eine entscheidende Ursache für das Hochwasser genannt.

Seitdem wurde der Industriehafen immer mehr ausgebaut, die Kanäle in der Lagune immer tiefer ausgegraben, zuletzt vor allem für die Kreuzfahrtschiffe. Bis vor kurzem wurde darüber diskutiert, einen weiteren Kanal für die Kreuzfahrtschiffe auszugraben.

Durch die tiefen Fahrrinnen hat sich die Morphologie der Lagune verändert, die Erosion spült den Boden der Lagune ins Meer, so dass die Lagune sich zunehmend in einen offenen Meeresarm verwandelt hat.

Die Rolle der Hochwasserschleuse MOSE

Einen weiteren Beitrag zum Hochwasser hat die Hochwasserschleuse MOSE geleistet: Hier wurden die Öffnungen der Lagune zum Meer tiefer ausgegraben und verengt, was zur Folge hatte, dass bei Flut noch mehr Wasser in kürzerer Zeit nach Venedig eindringt – und langsamer abläuft.

Nach Einschätzung der Venezianer wird diese Schleuse nie funktionieren. Zuletzt sollte sie vor kurzem anlässlich des Jubiläums des Baubeginns getestet werden: Sie hat nicht funktioniert. Hier kann man dank einer Unterwasserdrohne sehen, dass die unter Wasser liegenden Schleusentore schon völlig verrottet sind.

Hochwasserschleuse MOSE Bocca di Porto di Lido. Foto Jost Wischnewski

Seit 1983 kümmert sich die Aktiengesellschaft Consorzio Venezia Nuova um das Projekt, ein Zusammenschluss privater Bauunternehmer. Ein Monopol. Was ich übrigens erst spät entdeckt habe: Hinter dem schönen Namen Consorzio Venezia Nuova verbirgt sich  keineswegs wie ich blauäugig deutsch vermutet hatte, ein unabhängiger wissenschaftlicher Rat, sondern ein Zusammenschluss privater norditalienischer Bauunternehmer, eine Aktiengesellschaft, ein Monopol, der den Auftrag zum Bau der Schleuse ohne jede Ausschreibung bekam.

Ich dachte: Das ist ja kurios. Den Bock zum Gärtner machen, auf Venezianisch. Denn was will ein norditalienischer Bauunternehmer? Er will möglichst viel Zement in der Lagune versenken. Genauer gesagt, im Wert von acht Milliarden Euro.

Acht Milliarden Euro im Meer versenkt

Glücklich gemacht hat das Projekt vor allem eine ganze Reihe von Politikern von rechts bis links, die Schmiergelder in Höhe von einer Milliarde Euro eingenommen haben. Spezialisten haben von Anfang an darauf aufmerksam gemacht, dass das Projekt MOSE schon veraltet war, bevor die Arbeiten dazu überhaupt begonnen haben. Sie machen auch heute deutlich, dass die Schleuse, selbst wenn sie in Betrieb genommen werden sollte, keine Lösung darstellt: Die Schleusen können nicht tagelang geschlossen bleiben, die Lagune braucht den kontinuierlichen Austausch mit dem Meer, sonst verkommt sie zur Kloake.

Der Bestechungsskandal

Im Jahr 2014 wurde der Bestechungsskandal rund um die MOSE-Schleuse bekannt,  35 Politiker, Unternehmer und Beamte wurden verhaftet, die kurz hinter Gitter kamen und heute bereits auf freiem Fuß sind, darunter der ehemalige Bürgermeister Venedigs, Giorgio Orsoni und der ehemalige Regionalpräsident Giancarlo Galan, gegen weitere 100 ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen  Amtsmissbrauch, Bestechung, illegaler Parteienfinanzierung und Geldwäsche. Beim MO.S.E.-Kartell, so der damalige Generalstaatsanwalt Nordio, ließen sich Beamte und Politiker systematisch bestechen – auf lokaler und auf nationaler Ebene. Einschließlich der katholischen Kirche, die Geld für eine Stiftung des Kardinals bezog.

Und so konnte es passieren, dass 53 Jahre nach der verheerenden Hochwasserkatastrophe nichts zur Rettung Venedigs geschah und gestern diese weitere katastrophale Flut die Stadt ruinieren konnte: Höchststand durchschnittlich 1,87 Meter, an manchen, tieferen Stellen lag das Hochwasser sogar bei 1,90-1,95 Meter.

Es ist alles sehr traurig – der Klimawandel trägt natürlich dazu bei, vor allem in dem Sinne, dass der gestiegene Meeresspiegel in keiner Weise in die Berechnungen der Hochwasserschleuse eingegangen ist. Sicher, auch der venezianische Bürgermeister wird sich gesagt haben: Es kommt immer gut, wenn man den Klimawandel für etwas verantwortlich macht – auf jeden Fall besser, als eine korrupte Kaste von Politikern und Unternehmern zur Rechenschaft zu ziehen.

Das Hochwasser ist, kurz gesagt, eine Katastrophe. Aber eine von Menschen gemachte.