Ja zur Autonomie Venedigs

Tatsächlich bewegt sich was in Venedig. Nach jahrelangem Ringen hat der italienische Staatsrat durchgesetzt, dass in einer Volksabstimmung über die Autonomie von Venedig und Mestre abgestimmt wird. Die Volksabstimmung findet am 1. Dezember statt, ein wichtiger Tag für Venedig: Wir hoffen, endlich wieder über unser Schicksal selbst zu bestimmen – und ganz besonders freue ich mich darüber, dass Beppe Grillo diese Volksabstimmung unterstützt.

Es ist das fünfte Mal, dass Venedig versucht, der Zwangsehe mit Mestre zu entkommen, die im Übrigen ein Überbleibsel des Faschismus ist: Das unter Mussolini geschaffene Großvenedig war von Anfang an eine Missgeburt: eine Stadt im Wasser, die aus nichts als aus flirrender Poesie besteht, wurde mit einer Schlafstadt samt angehängter Petrochemieanlage zwangsvereinigt.

Anders als behauptet, ist Venedig keine Altstadt, sondern eine Stadt, mit präzis gezogenen Grenzen: Wer sie überschreitet, fällt ins Wasser. Aber auch Mestre leidet unter dieser Zwangsehe, weil ihr der Status als Stadt versagt wird, Mestre wird lediglich als Anhängsel von Venedig betrachtet, eine Schlafstadt ohne jede städteplanerische Vision, wie man auch an den kürzlich erbauten Hotelsilos in der Via Marcello sehen kann.

Mestre Via Marcello

Wie die teuren Leser meines Blogs wissen, wohnt die Mehrheit der zur Stadt Venedig zählenden Kommune auf dem Festland, genauer gesagt: in Venedig leben nur noch 52 000 Einwohner, in Mestre hingegen drei mal mehr. Folglich können die Venezianer auch nicht über ihren Bürgermeister abstimmen.

Jetzt fragt man sich natürlich: Warum wird an dieser Zwangsehe zwischen zwei so unterschiedlichen Ehepartnern festgehalten?

Der Grund ist zu offensichtlich: Wären Venedig und Mestre autonome Gemeinden, könnten die Wähler ihre Politiker besser kontrollieren. Anders ist es nicht zu erklären, warum alle venezianischen Politiker sofort auf die Barrikaden gestiegen sind, nachdem der Staatsrat grünes Licht für die Volksabstimmung gegeben hat: Mit Schaum vor dem Mund wüteten: der von den Medien stets gehätschelte „Philosophenbürgermeister“ Cacciari, Erfinder des „Venedig privatisieren“ und damit des Ausverkaufs Venedigs, der Berlusconi-Hofnarr Renato Brunetta und last, but not least, der sich als eine Art Mini-Trump gerierende Bürgermeister Brugnaro, der seine Wahl vor allem der Tatsache verdankt, dass er im Wahlkampf genau diese Volksabstimmung versprochen hat. Ein Versprechen, das er, kaum war er gewählt, natürlich sofort gebrochen hat.

Die Tatsache, dass alle venezianischen Politiker, die verantwortlich sind für das Desaster der letzten Jahrzehnte, die Wähler aufgefordert haben, an der Volksabstimmung NICHT teilzunehmen, könnte sich für sie zu einem Bumerang auswachsen. So wie für Craxi damals, als er den Italienern empfahl, lieber ans Meer zu fahren, anstatt über das Wahlrecht abzustimmen: Das Referendum wurde zur Volksabstimmung gegen Craxi und seine Seilschaften.

Denn so versteht hier in Venedig auch die frömmste Seele, dass sich hinter der Zwangsehe zwischen Venedig und Mestre handfeste Interessen verbergen – weshalb dringen geboten ist, mit Sì für die Autonomie von Venedig und Mestre zu stimmen.

Hier auch der sehr interessante Text des Komitees für das Autonomiereferendum, den Grillo veröffentlicht hat: 

Ich teile und unterstütze den Appell des Komitees für die Autonomie Venedigs für das Referendum am Sonntag, dem 1. Dezember (Beppe Grillo)

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Die Situation, in der sich die Stadt Venedig auch jenseits aller Rhetorik  befindet, wird von Jahr zu Jahr dramatischer. Weitgehend bekannt sind auch im Ausland die Umweltprobleme, die Schwierigkeiten des architektonischen Erhalts, die Verarmung der Wirtschaftsstruktur und des sozialen Gefüges und die schlechte Koordination der Touristenströme, die Venedig belasten. Der eklatanteste Fall ist die Passage der Kreuzfahrtschiffe am Markusplatz vorbei, auf die sich seit Jahren die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit konzentriert.

Darüberhinaus aber gibt es ein Problem, das im Ausland weniger bekannt ist, obwohl es im Grunde Ursache und Auswirkung all seiner anderen Übel ist: die Abwanderung der Einwohner.

Dieser Verlust der Einwohner hat in Venedig einen regelrechten demokratischen Notfall ausgelöst.

Denn im Ausland ist sich niemand darüber bewusst, dass Venedig und Mestre verwaltungstechnisch zur gleichen Stadt gehören. So hat es das faschistische Regime 1926 gewollt. Aber damals war Mestre ein Dorf. Heute hingegen wohnt die Mehrheit der Einwohner dort, im Verhältnis eins zu drei. Deshalb hat Venedig de facto keine politische Vertretung, der Bürgermeister muss notwendigerweise die Interessen seiner Wähler bedienen und die befinden sich auf dem Festland. So werden den Venezianern die elementarsten demokratischen Rechte vorenthalten. Und das ohne zu bedenken, dass Mestre nicht nur eine andere Stadt, sondern auch eine andere Welt darstellt. Venedig und Mestre stellen zwei völlig verschiedene Kulturen dar, die eine rollt auf Gummi, die andere schwimmt auf dem Wasser. Für einen Venezianer, der seine Zeit-Raum-Dimension in Schritten und Bootslängen bemisst, kommt ein Umzug nach Mestre dem eines Indianers gleich, der gezwungen ist, seine Prärie zu verlassen, um in die Bronx zu ziehen.

Die wesentliche Konsequenz des fehlenden politischen Einflusses auf das Schicksal der eigenen Stadt besteht darin, dass Venedig spekulativen Interessen schutzlos ausgeliefert ist und seine kommunale Souveränität extrem schwach ist.

Es reicht schon, nur daran zu denken, dass die Stadt Venedig über keinerlei Autorität verfügt, um über ihre Lagune und das Markusbecken zu bestimmen, dem wichtigsten Ort ihres Stadt. Was ungefähr so ist, als müsse London machtlos zusehen, was auf dem Trafalgar Square passiert. Und nicht nur das: Als der italienische Staat nach der Hochwasserkatastrophe 1966 die Schäden der Stadt bekämpfen wollte, versickerten viele seiner Gelder auf dem Festland, das nichts mit Venedig zu tun hat. Ein Betrug zu Lasten des italienischen Steuerzahlers.

Das Komitee für die Autonomie von Venedig will Venedig wieder seine Würde als Stadt zurückgeben – indem es die Legitimität anerkennt, wieder eine autonome Gemeinde zu sein, ohne das Anhängsel auf dem Festland und mit Autorität über die Lagune. Nur so ist es möglich, die nötigen Gesetzesannahmen für diese auf der Welt einzigartigen Stadt zu ergreifen.

Deshalb appelliert das Komitee auch an die Unterstützung aller internationalen öffentlichen und privaten Organisationen zur Rettung Venedigs, an die Unesco, an die Europäische Gemeinschaft und an alle, denen Venedigs Schicksal am Herzen liegt. Wir sind überzeugt, dass Venedigs Rettung nur  durch die Rückkehr zu einer wirklichen Polis möglich ist.

Hintergründe hier:

Warum beim Referendum am 1. Dezember 2019 mit „Ja“ stimmen (italienisch)

10 Gründe für die Autonomie Venedigs (italienisch)

Veniceland und kein Ende in Sicht. Artikel von Petra Reski 

 

 

 

4 Kommentare

  1. Ach wenn ich doch mitwählen könnte, ich wär‘ dafür dass Venezia sich von der offenbar gewachsenen politischen Dominanz Mestres befreit. Aber wie werden dann die Massnahmen im Centro Storico finanziert, die bisher aus Steuereinnahmen Mestres gespeist werden? Als ich (vor 30 Jahren) noch in Venedig lebte, wurde die Co-Finanzierung aus Mestre eher positiv gesehen, aber da gab es auch noch nicht diesen enormen Druck auf die Altstadt wie heute. Das Stadtsäckel von Venedig Centro Storico müsste also anders gefüllt werden als von Mestre aus. Muss man aber drüber nachdenken, wie.

  2. Sind oben die Bilder nun tatsächlich von Banksy, und der Herr auf dem Stuhl hinter der Zeitung der Meister höchst selbst? Kurz darauf soll er ja wieder verschwunden sein – heißt es.

    Einen schönen Abend noch

    Kurt Noll

  3. Sehr verehrte Frau Reski,
    von den drei Links am Ende Ihres Artikels funktionieren die oberen zwei (zu Herrn Grillo) nicht. Über die beiden anderen „Grillo-Links“ im laufenden Text kommt man zu dem Artikel „Per l’autonomia di Venezia!“ und an dessen Ende findet man noch einmal die drei Links von Ihrer Seite – hier funktionieren sie.
    Sonntägliche Grüße

    Kurt R. Noll

    PS.: Sehe ich das richtig, dann bekäme „Klein-Venedig“ eine ganz eigene Bürgermeisterin?

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