Aus gegebenem Anlass (weil Ferienzeit ist und weil Davide Brocchi so schöne Fotos von Solvay auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht hat, hier noch mal meine Geschichte über die „Weißen Strände“ von Rossignano-Marittimo, über die ich 2016 für Mare geschrieben habe.
Die Idee, vor einer Chemiefabrik zu baden, fand ich schon damals bizarr. Es war der Sommer 1989, und ich lernte Italienisch in dem kleinen toskanischen Seebad Castiglioncello, einem Ortsteil von Rosignano Marittimo, unweit von Livorno. Nachmittags, wenn wir uns von den Tücken des Konjunktivs erholen wollten, gingen wir an den Strand von Castiglioncello – und lehnten empört ab, mitzukommen an die „weißen Strände“ von Rosignano Solvay – die ihre Farbe nicht der Natur, sondern den Einleitungen des Chemiemultis Solvay verdankten.
Wir schüttelten den Kopf, wenn die Italiener von dem gleißend weißen Sand und dem türkisblauen Wasser schwärmten. In Deutschland verging kein Tag, an dem nicht über Waldsterben und sauren Regen geklagt wurde, und hier sollten wir uns an einen Chemie-Strand legen?
Die Italiener belächelten uns. Gott, ja, das bisschen Soda wird doch niemanden umbringen. Wird doch schon seit Jahrzehnten hier eingeleitet.Zukunftsgläubig, wie wir in jenem Sommer waren, hielt ich den Strand von Rosignano Solvay für ein überkommenes Relikt: Kurz vor dem Fall der Mauer glaubten wir an den Aufbruch in eine bessere, gerechtere und auch saubere Welt – und warum sollte das nicht auf für von Chemiemultis verpestete Strände gelten?
Nahezu drei Jahrzehnte später stehe ich wieder hier. Vor rauchenden Schloten, Kühltürmen und Abgasrohren, aus denen ein weißer Schleier aufsteigt.
Ein kleines Mädchen gräbt sich bis zum Hals in den Sand ein. Ein Junge stürzt sich kopfüber in die Fluten.„Karibikfeeling in der Toskana“, schreibt einer auf Tripadvisor. Ein anderer: „Sand, weiß wie Puderzucker und weich wie Samt“.Tja. Kann man so sehen. Wenn man es schafft, den weißen Abwasserkanal zu übersehen, dessen trübe Brühe auch heute noch ins Meer fließt, und das Verbotsschild auch. „Divieto di balneazione e stazionamento“, steht da, womit nicht nur das Baden verboten ist, sondern auch das Stehenbleiben. Jedenfalls auf den hundert Metern rechts und hundert Metern links des Abwasserkanals. Ein Meter weiter rechts und ein Meter weiter links ist das Baden und Stehenbleiben völlig okay.
Also kann es so schlimm ja nicht sein, denken viele hier immer noch. Sodafabrik hin oder her, wen jucken Kühltürme und Schlote, wenn vor dir türkisblaue Unendlichkeit glitzert und du dieses Juwel zu allem Überfluss nicht mal teilen musst, mit den Horden von Florentinern und Livornesen, die dieses Wunder am Wochenende bevölkern? Heute ist Montag, ein paar Familien haben es sich samt ihrer Kühltaschen auf Klappstühlen und Handtüchern unter Sonnenschirmen bequem gemacht. Ein Afrikaner wartet im Schatten seines Verkaufsstands auf Kunden für Bikinis, Spiegelbrillen und Strohhüte, zwei Hunde apportieren Treibholz, ein Kitesurfer zieht durch die Wellen: Liebespaare, Strandwanderer und Sonnenanbeter haben die „spiagge bianche“ ganz für sich allein.
Neben mir steht Francesco Serretti, Gemeinderat der oppositionellen Fünfsterne-Bewegung – derzeit der einzigen Partei in Italien, die sich den Umweltschutz auf die Fahne geschrieben hat. Die Grünen sind in Italien seit 2009 abhanden gekommen – der letzte grüne Umweltminister fiel vor allem durch Privatflüge mit Regierungsmaschinen und Hubschraubern auf und wurde wegen illegaler Parteienfinanzierung angeklagt.
Bis heute fällt das Umweltbewusstsein vieler Italiener schlagartig von ihnen ab, sobald sie aus ihrer Wohnungstür schreiten. Francesco erinnert sich noch daran, wie er als Kind versuchte, an den „weißen Stränden“ Quecksilberkügelchen aufeinanderzustapeln – bis ihnen der Hausarzt dazu riet, zwei Handtücher auf dem Sand auszubreiten und nicht ungeschützt im Sand zu spielen – ein Ratschlag, der auch heute noch als frevelhaft gilt: „Mamma Solvay“ wird die Sodafabrik hier genannt. Es ist die größte Europas. In den Sechzigerjahren, als Rosignano Marittimo nur 20 000 Einwohner hatte, arbeiteten 4000 Menschen hier – heute kommen auf 30 000 Einwohner nur noch 650 Beschäftigte. Rosignano Marittimo verdankt „Mamma Solvay“ nicht nur Häuser, Schulen und ein Krankenhaus, sondern auch einen Ruderclub und ein Theater – weshalb ein ganzer Ortsteil nach dem Chemieriesen benannt wurde.
Auf Luftaufnahmen sieht der Strand aus, als hätte jemand Bleichlauge ins Meer geleitet – und liegt damit gar nicht so falsch. Der belgische Chemiemulti stellt hier nicht nur Natriumcarbonat her, sondern auch Wasserstoffperoxid, Polyethylen, Chlormethan, Calciumchlorid, Natron und Salzsäure. Außer Kalziumkarbonat werden auch andere Schwermetalle und Chemikalien ins Meer eingeleitet, weshalb die toskanische Umweltbehörde Arpat im Jahr 2014 den chemischen Zustand des Wassers um den Abwasserkanal herum als „Nicht gut“ bezeichnete, wegen der Belastung durch hochgiftige Chemikalien, besonders durch Quecksilber und TBT: Tributylzinnverbindungen – einem Giftstoff, der unter anderem als Unterwasser-Schiffsanstrich verwendet wird. Und nicht nur hier sei die Belastung zu hoch, sondern auch „im größten Teil der Beobachtungspunkte der ganzen toskanischen Küste“.
Einem Bericht der Umweltschutzorganisation Legambiente zufolge liegen hier mindestens 500 Tonnen Quecksilber auf dem Meeresboden – auf einer ausgedehnten Fläche bis 14 Kilometer vom Küstenstreifen entfernt. Quecksilber, das keineswegs begraben und ungefährlich ist, sondern infolge von Sonneneinstrahlung und schwerem Seegang in die Atmosphäre eingeht, wie eine Studie bewies.
Was am Strand aber niemanden zu stören scheint – genauso wenig wie die Tatsache, dass die Düne keine Düne, sondern eine Müllhalde aus Industrieabfällen ist: Die weißen Strände von Rosignano Marittimo gehören zu den meistbesuchten Stränden der Toskana – vier Kilometer „Karibikfeeling“ am Ligurischen Meer, zwischen den Ortsteilen Rosignano Solvay und Vada. Am Wochenende findet hier kein Handtuch mehr Platz. Wohl auch deshalb sieht die Pressestelle der Solvay keinen Grund, auf unsere Anfragen zu antworten.
Der online-Auftritt der toskanischen Umweltbehörde Arpat gleicht einem digitalen Nebelhafen: Die „Badetauglichkeit“ der „Spiagge bianche Nord“ und „Spiagge bianche Sud“ wird als „Exzellent“ bezeichnet. Einzig von dem Bad auf den zweihundert Metern vor dem Abwasserkanal wird abgeraten. Aber nicht wegen der Verseuchung durch Quecksilber und anderen Giften, sondern wegen der Belastung des Wassers durch Kolibakterien und Darmenterokokken. Um an alle anderen Informationen zu gelangen und sie auch zu verstehen, benötigt man ein Diplom als Chemiker und ein juristisches Staatsexamen möglichst noch dazu.
„Gott ja, Gift ist doch überall“, sagt ein älterer Mann, der mit seiner Frau eine Strandwanderung macht. Seine Frau stimmt ihm so heftig zu, dass ihre grünverspiegelte Brille etwas auf der Nase herunterrutscht: „Das ist doch überall so, wir sind daran gewöhnt.“ Und was heißt denn überhaupt vergiftet? Ist doch alles relativ. Begeistert berichtet sie von der wundersamen Heilung einer Freundin aus Cremona, die an Schuppenflechte litt, bis ein Arzt ihr geraten hat, den Urlaub an den „weißen Stränden“ zu verbringen: „Und seitdem ist sie geheilt.“
Ja, Wunder vollbringt dieser Strand in der Tat. Wie sonst ist zu erklären, dass ein Strand, den die Uno in ihrem Bericht von 2002 zu den 15 am meisten verschmutzten Küsten Italiens gezählt hat, ungebrochen immer noch zu den Lieblingsstränden der Italiener zählt?
Bloß keine Panikmache – das finden auch die Führungskräfte der toskanischen Umweltschutzbehörde Arpat, die auf Nachfragen so ausweichend reagieren, als versuchte man sie für einen ausländischen Spionagedienst anzuwerben. Generaldirektorin, technischer Direktor und Pressesprecher sitzen um den Konferenztisch herum, auf dem sich ihre Berichte stapeln. Quecksilber? Ja, gut, ist noch da. Aber. „Die Situation ist unter Kontrolle“. Die wesentlichen Umweltschäden durch die Quecksilber-Einleitungen seien in den Siebzigerjahren verursacht worden, jetzt sei das Quecksilber praktisch im Meeresboden begraben, in 15 Zentimetern Tiefe und mehr. Und seit der Modernisierung der Produktionsanlage im Jahr 2007 werde kein Quecksilber mehr ins Meer eingeleitet.
Wenn überhaupt etwas ein Problem sein könnte, dann höchstens die „Schwebstoffe“, ein Wort, das auf Deutsch genauso euphemistisch klingt wie auf Italienisch: solidi sospesi. Aber bei einer Einleitung von 200 000 Tonnen jährlich schwebt gar nichts mehr.
Seitdem sich die Chemiefabrik Solvay 1914 hier niederließ, sind mehr als 13 Millionen Tonnen Schwebstoffe ins Meer geflossen: Schwermetalle wie Kadmium, Nickel, Chrom und Blei, Dioxine, chlorierte Pestizide, Arsen, der Giftstoff TBT – eine gigantische Giftmüllhalde liegt hier auf dem Meeresgrund. Die größte Einleitung von Industrieabwässern in Mittelitalien.
Weshalb die wenigen Meter Strand vor dem Abwasserkanal eben nur ein „Non buono“ bekamen, weil die Konzentration aller Schwermetalle in den Sedimenten alle zulässigen Grenzen übersteigt.
Aber dennoch: nichts für ungut, meinen die Arpat-Offiziellen. Wenn überhaupt, dann stelle höchstens die unzureichende Kläranlage der Stadt Rosignano Marittimo ein Problem dar.
Ob sie hier auch baden würden? „Ich schon“, sagt der technische Direktor und lacht. Die Generaldirektorin lacht auch. Die größte Gefahr der „spiaggie bianche“ liege im Sonnenbrand. Weil der weiße Sand die Sonne so stark reflektiere. Krebsrisiko? „Diese Einschätzung überlassen wir den Medizinern“, sagt der Pressesprecher.
Gefahr erkannt, Gefahr gebannt.Die Mediziner sorgen sich allerdings nicht um den Sonnenbrand, sondern um die Krebsrate. Allein für die von Asbest ausgelösten Tumore ist die Krebsrate in Rosignano Marittimo um 300 Prozent angestiegen. Die drei Ratsmitglieder der oppositionellen Fünf-Sterne-Bewegung beantragten, für die Gemeinde Rosignano Marittimo ein Tumorregister der Bevölkerung anzulegen – was von der Mehrheit der regierenden Renzi-Partei PD im Gemeinderat abgelehnt wurde.
Italien im Kleinen funktioniert wie Italien im Großen. Die „weißen Strände“ sind nicht der einzige Umweltskandal: Im apulischen Taranto steht das Stahlwerk Ilva unter Zwangsverwaltung der Regierung: Und während gegen die Eigentümer ein Gerichtsverfahren wegen Steuerhinterziehung sowie Umweltverseuchung mit vielhundertfacher Todesfolge läuft, bläst das Stahlwerk seinen giftigen Staub weiter in die Luft. Venedigs Lagune wurde durch die Petrochemieanlage in Marghera verseucht, die Altlasten sind bis heute nicht entsorgt – und was die illegale Müllverklappung durch die Camorra in Kampanien betrifft, das möchten die etablierten Parteien Italiens gar nicht so genau wissen.
Am Wochenende treffen sich die drei Ratsmitglieder der Fünfsterne-Bewegung von Rosignano Marittimo in einer leerstehenden Villa in Castiglioncello: Francesco Serretti, Mario Settino und Elisa Becherini – die im Grunde ehrenamtlich Politik machen, weil sie die 35 Euro, die ihnen als Aufwandsentschädigung für jede Ratssitzung gezahlt werden, der Schule von Rosignano Marittimo spenden.
Sie bringen etwas Wein und Pasta mit und sitzen oft noch bis tief in der Nacht zusammen – um die wissenschaftlichen Unterlagen zu dechiffrieren, die von den ökologischen Bomben im Meer vor den „weißen Stränden“ berichten. Sie versuchen Medien für die Umweltprobleme zu sensibilisieren und klarzumachen, wie umweltschädlich und archaisch eine Soda-Herstellung ist, die so viel Grundwasser wie die Stadt Livorno verbraucht und Salz, das in den Salinen von Volterra abgebaut und umständlich nach Rosignano Solvay transportiert werden muss – anstelle von Salz, das aus Meerwasser gewonnen wird. „Wir sind nicht gegen Industrie, wir sind gegen Umweltverschmutzung“, versucht Elisa zu rechtfertigen, denn Umweltschützer gelten in Italien immer noch als hoffnungslose Romantiker, wenn nicht gar als Staatsfeinde. „Was „Mamma Solvay“ betrifft, herrscht hier ein Schweigegebot“, sagt Mario Settino – und beschreibt, wie genussvoll sich manche Badende sogar in den Abwasserkanal legen, weil der so schön warm sei wie Thermalwasser.Tatsächlich erscheint das ökologische Engagement der Fünf-Sterne-Gemeinderäte vielen in Rosignano Marittimo immer noch als Zeitverschwendung: „Sie sagen uns: ‚Kümmert Euch lieber um die Löcher in den Straßen’“, sagt Francesco Serretti und lacht.
Er lacht etwas bitter. Weil in dieser Landschaft voll perfekter, zypressenbestandener Hügelketten nicht in den Tourismus, sondern in Chemieindustrie investiert wird.
Und das an einem Ort, der Italien-Sehnsucht in Tüten verkaufen könnte.