Kleines Stimmungsbild aus Italien: Salvini, Fünfsterne, der vergreiste B., die PD, die vergeblich nach der Reißleine sucht, und wie es dank des Stabilitätspakts gelang, die Italiener ärmer und die Mafia reicher zu machen.
Nur Europa kann uns retten, hieß es einst in Italien. Retten vor der Mafia, vor korrupten Politikern, vor der Vetternwirtschaft im öffentlichen Dienst und hoher Jugendarbeitslosigkeit. Die Italiener verlangten damals nicht weniger, sondern mehr Europa. Europa war noch kein Theorem der Hochfinanz, sondern ein Synonym für Freiheit und Demokratie, für Menschenrechte und Vielfalt. Die Wende kam mit der Eurokrise. Da die italienischen Banken kaum Kredite vergaben, endeten unzählige norditalienische Familienbetriebe – das Rückgrat der italienischen Wirtschaft – in den Händen mafioser Wucherer. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt 1997, der in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion für finanzpolitische Stabilität sorgen sollte, diente der damaligen italienischen Regierung als Begründung, nicht nur Kulturgüter, sondern auch die Infrastruktur des Landes zu privatisieren. Was vorher allen gehörte, floss fortan in die Taschen weniger. Kurz: Die Sparpolitik der vergangenen Jahrzehnte hat die Italiener ärmer und die Mafia noch reicher gemacht.
Während der Flüchtlingskrise 2015 ist die Bevölkerung zudem Zeuge geworden, wie sich die europäischen Partner hinter der Dublin-Verordnung von 1990 versteckten, nach der ein Geflüchteter in jenem Staat um Asyl bitten muss, in dem er den Raum der EU erstmals betreten hat. Das stellt ein küstenreiches Land wie Italien vor Probleme: Migranten und die mangelnde Bereitschaft Europas, Bootsflüchtlinge aufzunehmen, waren die Themen, mit denen Salvini, Chef der rechtsnationalistischen Lega, seinen populistischen Wahlkampf bestreiten konnte. Seine Strategie funktioniert auch deshalb, weil die italienischen Medien die Menschen vergessen ließen, dass es die Lega selbst war, die 2003 mit Silvio Berlusconi in der Regierung das Dublin-Abkommen unterzeichnet hatte.
Vor den Wahlen 2018 empfahl EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) den Italienern zudem, „keine Populisten“ zu wählen, weil dies von den Kapitalmärkten bestraft würde. Anders formuliert: Wählt richtig, sonst wird euch der Geldhahn zugedreht! Auch die deutschen Medien sparten nicht mit Ratschlägen: „Europas Sorgenkind wählt“, mahnte die Berliner Zeitung, die WELT warnte vor „italienischem Klamauk“ und wusste, dass die meisten Italiener „einen schwierigen Aufbruch“ nicht wollten. Die Süddeutsche Zeitung beschwor die Gefahren, die vom „todernsten Geifer-Clown“ Beppe Grillo und seiner Fünf-Sterne-Bewegung ausgingen.
Wie wäre es mit dem Versuch, Italien einmal nicht aus der deutschen Perspektive zu beschreiben? Berlusconi war der erste Populist in Europa, der die Politik ausschließlich für seine persönlichen und unternehmerischen Interessen nutzte und nutzt: eine Anomalie, die sich durch die italienische Politik der vergangenen 25 Jahre wie ein roter Faden zieht. Als sich die Europäische Volkspartei (EVP) 1976 gründete und Berlusconis „Forza Italia“ unmittelbar nach deren Gründung 1994 an ihre Brust drückte, waren aus den anderen EU-Staaten kaum kritische Stimmen zu vernehmen. Über Berlusconis Mafia-Verbindungen verlor man kein Wort. Von Berlusconi hat Salvini gelernt, als er das „Italien zuerst“ zu seinem Leit-Motto machte: Berlusconi ist bis heute mit Salvini eng verbunden – und Helfer in der Not, falls die Regierungskoalition von Lega und Fünf-Sterne-Bewegung auseinanderbrechen sollte.
Ständiger Wahlkampfmodus
Wie einst Berlusconi ist heute Salvini im ständigen Wahlkampfmodus, sein Mitteilungsstrom auf Twitter, Facebook und Instagram versiegt nie: Salvini beim Händeschütteln mit Werft-Arbeitern in Monfalcone, Salvini bejubelt in der Mafia-Hochburg San Luca. Er lernte auch von Rechtspopulisten wie Marine Le Pen, Geert Wilders oder Viktor Orbán. Aber er zählt auch Wladimir Putin zu seinen Freunden; als Gegner der Russland-Sanktionen, die die EU verhängte, kam Salvini dem russischen Präsidenten entgegen. Das brachte ihm viele Stimmen italienischer Unternehmer ein. Bis der US-amerikanische Botschafter in Rom Salvini klarmachte, dass es keine gute Idee sei, dass einige seiner engsten Mitarbeiter Männer sind, in denen die US-Regierung Handlanger des Kreml sieht.
Als Resonanzboden für Salvinis Mitteilungswut stehen die von Korrespondenten stets als Referenz zitierten Medien bereit: „Repubblica“, „Corriere della Sera“ oder „La Stampa“, einschließlich der staatlichen und privaten Fernsehsender. Medien, die überwiegend Parteien, parteinahen Unternehmensverbänden und Industriellen gehören. Die einzige Partei im italienischen Parlament, die weder eine Tageszeitung noch einen Fernsehsender besitzt, ist Grillos ebenfalls als populistisch bezeichnete Fünf-Sterne-Bewegung.
Da erstaunt es nicht, dass Salvinis Lega in aktuellen Umfragen zur Europawahl über 30 Prozent liegt, was hieße, dass sie das im vergangenen Jahr bei den nationalen Wahlen erzielte Ergebnis verdoppeln könnte. Während Grillo und seine Mitstreiter, die als Sieger der italienischen Wahlen mit fast 33 Prozent der Stimmen ins Parlament gezogen sind, zunehmend an Strahlkraft verlieren: Im Schleudergang der Salvini-Tweets ging unter, dass es die Fünf-Sterne waren, die zuallererst auf die Absurdität der Dublin-Verordnung aufmerksam gemacht, ein Antikorruptionsgesetz und ein Grundeinkommen für Bedürftige – zwischen 780 Euro (für Singles) und 1.950 Euro (für Familien mit zwei Kindern) – durchgesetzt haben. Es stellt eine Revolution in einem Land dar, in dessen Süden immer noch die Bosse darüber entscheiden, wer eine Arbeit bekommt und wer nicht.
Wenn es aber darum geht, Grillos Bewegung zu bekämpfen, sind sich in Italien die politischen Lager von links bis rechts einig – was trotz der heutigen Koalition aus Fünf-Sternen und Lega nicht verwunderlich ist: Letztlich war es die große Koalition aus Berlusconis Forza Italia, der Lega und dem sozialdemokratischen Partito Democratico, die Italien die vergangenen 25 Jahre regiert hatten – erst als „Ehe ohne Trauschein“, dann offiziell: Die Regierungen ändern sich, aber die Gesichter sind die gleichen.
„Scheinwandel“
Das Zauberwort der italienischen Politik heißt „Trasformismo“. Was wie eine Zeitenwende klingt, bedeutet das Gegenteil: „Scheinwandel“. Die 64 italienischen Nachkriegsregierungen waren nie Ausdruck mediterranen Wankelmuts, sondern verkörperten immer die Maxime aus Tomasi di Lampedusas Roman „Der Leopard“: „Alles ändert sich, damit alles bleibt, wie es ist.“
Erst die jetzige 65. Nachkriegsregierung war ein Novum, aber nur aufgrund von Grillos Fünf-Sternen, dem Eindringling. Die Lega regierte Jahrzehnte harmonisch mit Berlusconi, zeichnete seine auf seine Person zugeschnittenen Gesetze („ad-personam-Gesetze“) klaglos ab. Bis heute steht sie ihm politisch nahe. Die Fünf-Sterne hingegen gewannen politischen Einfluss, weil sie sich dagegen auflehnten, dass es über einen sehr langen Zeitraum keine echte Opposition gegen Berlusconi gab. Deshalb ist sie der Fremdkörper in der italienischen Politik mit ihrer DNA aus Antimafia-Aktivisten, Umweltschützern, Kämpfern gegen Großprojekte und für Bürgerrechte. So gehört der Kampf gegen den Bau der umstrittenen Hochgeschwindigkeitsstrecke TAV zum Gründungsmythos der Fünf-Sterne. Wenn sie diesen verlieren sollte, verliert sie ihr höchstes Gut, ihre Glaubwürdigkeit.
Salvini hat dieses Problem nicht. Seinen Anhängern genügt ein Tweet, egal, ob es dabei um Flüchtlingsschiffe oder Pizzabrot geht: „Lasst es euch schmecken, ich habe euch gerne, Freunde!“ Da das Flüchtlingsthema aufgrund gesunkener Zuwanderzahlen an Bedeutung verloren hat, benötigte Salvini ein neues Wahlkampfthema: Er präsentierte sich als Hüter großer Bauprojekte und damit als Ansprechpartner der Mafia und der Wirtschaftslobbyisten, deren einstige Gönner ihnen abhandengekommen sind: Die demokratische Partei (Partito Democratico, PD) befindet sich im freien Fall, Berlusconi vergreist samt seiner Forza Italia und die Fünf-Sterne haben mit ihrer Gegnerschaft gegenüber Großprojekten die letzten Wahlen gewonnen. Bleibt ihnen nur Salvini. Der Mann der Stunde.
Diesen Text habe ich für den Europa-Schwerpunkt von Erziehung und Wissenschaft im Mai geschrieben.