Die digitale Schublade

Ich war in meinem ganzen Leben nie mehr so alt wie mit achtzehn. Wenn ich nur an das Foto denke, das in meinem Führerschein klebte, bis ich ihn dankenswerterweise verloren habe: Da lächelte mir eine junge Hausfrau entgegen, die in einem karierten Hemd und mit nach innen geföhnten Haaren gerade noch geschworen hat, dass sie ihre Pullover nur mit Perwoll wäscht und ihr Brot mit Dinkel selbst backt.

Oder diese leicht betäubte Mona Lisa, die viel Zeit damit verbracht hat, ihre Augenbrauen dünn zu zupfen, das soll ich sein? Diese Wollpullover-Tussi? Nein, dieses Foto stammt nicht aus meiner Vergangenheit. Sondern von einem anderen Planeten. Einem Planeten, auf dem es üblich war, zu zelten. Meine Freundin, mein Jugendfreund und ich liegen auf Luftmatratzen, im Vordergrund des Fotos sieht man einen Flaschenhals, wahrscheinlich haben wir gerade Persico oder Sauren Paul getrunken. Ich habe mich ganz anders in Erinnerung. Irgendwie wacher, energischer, dynamischer. Gibt es denn kein altes Foto von mir, auf dem ich aussehe wie ein herzloses Biest? Von mir aus auch in Lack und Leder? Schließlich erinnere ich mich daran, schon mit sechzehn die Lippen mit Rouge Noir geschminkt zu haben. Aber auf den Fotos ist davon keine Spur zu sehen. Stattdessen: Wollpullover, kariertes Hemd und Innenrolle. Ja, die Jugend kann ein Fluch sein. So dünngezupft, so glattgeföhnt, so züchtig.

An die glattgeföhnte Phase schloss sich die lockige an, also Haare, die mit drei Liter Haarschaum geknetet und mit drei Kilo Haarlack festbetoniert wurden, bis ich mit meinem Kopf eine Tür hätte einrammen können. Von der Form her hatte meine Frisur etwas dezidiert Botanisches, sie erinnerte an den Hut eines Steinpilzes, Boletus edulis: dickfleischig, jung halbkugelig, später polsterförmig, konvex bis abgeflacht ausgebildet; der Rand kann auch aufgebogen sein: Es gibt Fotos von mir (war das auf dem Schulausflug nach Bad Driburg?), da sah ich aus, als wäre ich im Moos gewachsen, auch was die Farbe betrifft. Auf die haselnuss- oder maronenbraune Epoche folgte die brünette, vulgo kastanienbraune Zeit, mit der ich bei jedem Herbstmanöver der Bundeswehr eine gute Figur gemacht hätte. Und vermutlich wäre ich heute immer noch nicht blond, wenn die Brünetten nicht irgendwann als „natürlich und unkompliziert“ gepriesen worden wären. Das wollte ich mir auf keinen Fall nachsagen lassen. Weshalb ich zum Friseur ging und „Ein Mal blond, bitte“ verlangte.

Bis heute zucke ich zusammen, wenn so ein Herbstlaub-Foto von mir auftaucht. Wobei ich alte Fotos nur heimlich betrachte, mit guten Freundinnen, die mir Trost zusprechen, ganz anders als der Italiener an meiner Seite, der herzlos behauptet, dass er sich nie in mich verliebt hätte, wenn er mich in der Wollpullover-Phase kennengelernt hätte. (Und das traut sich einer zu sagen, von dem ich neulich ein Foto gefunden habe, auf dem er Schlaghosen trug, was ihm etwas ausgesprochen Tom-Jones-haftes gab.)

Jetzt könnte man sagen: Lasst die Vergangenheit ruhen. Wozu in alten Wunden herumstochern? Schublade schließen und fertig. Wenn es so einfach wäre. Aber leider gibt es noch die digitale Schublade – die sogar meine Mutter neulich entdeckt hat und mich erschreckt fragte: Woher haben die denn diese ganzen Fotos von dir?

Genau diese Frage stelle ich mir auch. Ich meine: Ok, Autorenfotos. Von mir aus auch Autorenfotos, die schon etwas länger her sind. Aber warum endet jedes Wasserleichenfoto von mir online? Jede Vorstrafe wird irgendwann getilgt, warum nicht auch dieses Foto, auf dem ich diese Stachelhaarfrisur hatte? Gibt es kein Recht auf Vergessen?