Zechen. Sterben.

Dieses Bild zeigt meinen Vater, meine Großmutter und mich vor der Zeche, auf der mein Vater starb, mit 27 – unter Tage, wie es so schön heißt. Deshalb habe ich es nicht so, mit dieser ganzen Nostalgiewelle rund um das Ende der Ruhrkohle. Und auch nicht mit dem Steigerlied. Als es auf der Beerdigung meines Vaters gesungen wurde, verließ meine Mutter den Friedhof.

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Mein Großvater bekam im Schwarzwald immer Erstickungsanfälle. Wenn er keine Zeche mehr sah, blieb ihm die Luft weg. Im Schwarzwald wohnte seine Tochter Renate, die meine Großeltern jeden Sommer besuchten. Allerdings erwies sich die reine, staatlich geprüfte Luftkurort-Luft für die Staublunge meines Großvater als derart unbekömmlich, dass meine Großeltern immer früher als beabsichtigt ins Ruhrgebiet zurückkehren mußten. Erst wenn mein Großvater den Förderturm sah und jene Luft atmen konnte, die nach Höllenfeuer roch und an manchen Tagen rußgesprenkelt war, kam wieder Leben in ihn. Dann stand er wieder am Heidekrug an der Theke, trank ein Bier, vielleicht auch zwei, mit den Kumpeln, die von der Arbeit kamen und die ihn damit aufzogen, dass er als Frührentner ja das Geld von der Post bekommen würde. Wenn er sah, dass ich mit dem Fahrrad vorbeifuhr, winkte er mich herein und stellte mich den Männern vor. Das ist meine älteste Enkelin. Die Tochter vom Heine, sagte er.

Im Heidekrug roch es nach abgestandem Bier und Rauch, und die Männer guckten mich etwas bedrückt an. Sie kauften mir Erdnüsse, als könnten sie damit jenen Moment der Verlegenheit überbrücken, den mein Anblick bei ihnen auslöste. Sie servierten mir die Erdnüsse in einem Bierdeckel, dessen Ecken hochgebogen waren und schwiegen. Eine Weile hörte man nichts anderes als das Surren des Kühlschranks.

Ach, der Heine, sagte schließlich einer in die Stille. Ja, sagte mein Großvater gedehnt. Dann räusperte er sich und erkundigte sich nach einem Skatbruder, einem ehemaligen Kumpel, der, wie mein Großvater fand, in seinem Leben noch nie richtig gearbeitet habe – eine Ansicht, welche die Runde sofort belebte – Der arbeitet doch jetzt über Tage, der hat sich doch noch nie kaputtgemacht! – und sie mich vorübergehend vergessen ließ.

Sie sprachen von Strebmeistern, von Rutschenbären, vom Alten Mann, von Reviersteigern, von Vorfällen – damals, als der alte Kokoschinski unter den Bruch kam und dann ein Vierteljahr lang im Bergmannskrankenhaus auf einem Brett liegen mußte. Damals in der Weißkaue, in der Schwarzkaue, im Wetterschacht, und mir schien, als wären sie Außerirdische, die über ihr Leben auf einem anderen Planeten redeten. Auf Monopol. Auf Grillo. Auf Saturn.

Ich saß mit baumelnden Beinen auf einem Hocker, aß die leicht muffig schmeckenden Erdnüsse aus meinem Bierdeckel und forschte in den Gesichtern der Männer nach ihrem Geheimnis. Auf den ersten Blick sahen alle frischgewaschen und unschuldig aus. Die obersten Hemdknöpfe trugen sie geschlossen. Die Haare waren naßglänzend zurückgekämmt, ihre Gesichter blaß, mit kleinen, bläulichen Narben. Manche hatten noch schwarze Ringe aus Kohlenstaub in dem Wimperkranz um die Augen, was ihrem Blick eine eigentümliche Tiefe gab. Alle hatten Aktentaschen bei sich, die sie auf dem Boden abgestellt hatten, Aktentaschen, in denen sich jedoch keine Akten befanden, sondern Henkelmänner und Thermoskannen. Sie kamen nicht von der Arbeit, sondern aus einem Universum mit eigener Zeitrechnung. Wo ein Tag in Frühschichten, Mittagschichten und Nachtschichten gemessen wurde.

Unter Tage. Es klang, als lebten sie dort ihr wahres Leben. In jener fernen Galaxis, zu der sie der Bus morgens von der Fritz-Erler-Straße aus brachte. Auf Planeten, zu denen Frauen keinen Zugang hatten. So sehr ich mich auch anstrengte, ich bekam davon nicht mehr zu Gesicht, als die Steinhalde und das sich drehende Förderrad unserer Zeche, das nachts leuchtete wie ein Stern. Ab und zu sah ich die Klöcknerbahn vorbeifahren, mit Kohle beladene Waggons, stählerne Gürteltiere, die über die Trasse krochen, und wenn ich mit mit meiner Mutter, meiner Tante Ruth und meinem Onkel Heinz zum Einkaufen fuhr, sah ich in der Ferne qualmende, abgestürzte Zeppeline, ich sah mitten in Dortmund gigantische, gestrandete U-Boote am Stadtrand liegen, ich sah kurz vor Hamm die Panzer von Urzeitungeheuern glühen, die ein Vulkan ausgespuckt hatte. Alles war groß, riesig, endlos – höher und größer als die Herz-Jesu-Kirche, in der ich mich schon ganz verloren gefühlt hatte, und wo mir immer schwindlig wurde, wenn ich versuchte, an die Decke zu gucken.

Ich saß im Fond von Onkel Heinz‘ VW und sah, wie all diese Fabelwesen den Himmel dazu brachten, sich zu verfärben, wie er nachts rosa wurde und tagsüber manchmal gelb. An manchen Tagen schafften sie es sogar, die Sonne zu verdüstern, und ich wunderte mich, wie gleichmütig, ja gedankenverloren die Erwachsenen sich dieser Macht beugten.

Menschen sah ich nie in der Nähe dieser Ungeheuer. Jedes Zechengelände war weitläufig umzäunt und von hohen Mauern geschützt, so dass ich mir nur auf Sichtweite ein Urteil machen konnte, alles endete vor dem Zechentor. Und dort hatte ich mit eigenen Augen gesehen, wie alle meine Onkel, auch die angeheirateten, dazu sämtliche Männer unserer Siedlung, darunter der Vater und die Onkel meiner Freundin Gabi Evers, der Vater von Martina Josuweit und selbst der taubstumme Herr Patschkowski aus der Wohnung über uns jeden Tag hinter diesem Zechentor verschwanden.

Ich erklärte mir ihr unaufgeregtes Verschwinden damit, dass die Männer unter Tage einen geheimen, unterirdischen Krieg führten. Einen Krieg gegen die brüllenden, fauchenden, glühenden Ungeheuer. Einen Krieg, über den sie nicht sprechen konnten, weil sie sonst den Sieg leichtfertig aufs Spiel gesetzt hätten, und über dessen Fortgang sie sich mit Codewörtern verständigen mußten: Die Richtstrecke. Der Querschlag. Der Hobelstreb. Deshalb verhielten sie sich auch so gleichmütig, ja vertraut gegenüber den Urzeitungeheuern. Sie fühlten sich ihnen überlegen. Der Sieg war nah.

Die Männer hatten meine Anwesenheit fast vergessen. Sie waren in alten Zeiten versunken. Einer erzählte von seiner Arbeit als Stahlkocher auf Hoesch und sagte: Als ich noch auf Oma Hoesch war – eine Vertraulichkeit, die ich trotz aller Siegesgewißheit als leichtsinnig empfand und die mich zusammenzucken ließ. Selbstvergessen kicherten sie, weisse noch, Alfred Czichon, Heinz Kaminski, Willi Pollakowski?, schon die alleinige Nennung der Namen brachte sie zum Lachen wie ein guter Witz. Sie erinnerten meinen Großvater daran, dass er seine Arbeit immer verflucht habe, auf dem Weg zur Zeche habe er geflucht, auf dem Weg nach Hause habe er geflucht, unter Tage habe er geflucht, und das, obwohl er sich keineswegs kaputtgemacht habe, weil er auf dem obersten Knapp gearbeitet habe, da, wo sie die Halbtoten hinstellten. Sie sprachen von Kriegshelden, von eingeschlossenen Kumpeln, die nach zehn Tagen in der Finsternis wie durch ein Wunder gerettet wurden, sie sprachen über schlagendes Wetter und darüber, auf welchem Streb sie gerade arbeiteten, als damals der Heine verunglückt ist. Wie ein Lauffeuer war das, sagte einer. Wie eine Lähmung, sagte ein anderer.

Ich rutschte langsam von meinem Barhocker herunter. Ich wischte meine Finger, an denen noch etwas Salz von den Erdnüssen klebte, an meinem Rock ab und sagte meinem Großvater, dass ich jetzt nach Hause gehen müsse. Überrascht bemerkten die Männer, dass ich noch da war. Sie blickten sich an, als würden sie sich schämen. Willst Du noch ein Eis, fragte einer. Und ich sagte: Nein, Danke.

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Wer mehr darüber wissen will, wie es ist, im Ruhrgebiet ohne Vater aufzuwachsen, kann das in meinem Buch „Meine Mutter und ich“ nachlesen. Die Zeche, auf der mein Vater starb, hieß „Monopol“.