Aus gegebenem Anlass: Den Text unten habe ich für den Band „Wellen schlagen. Die Geschichte danach – Reporter erzählen“ geschrieben – einem Sammelband, für den, wie ich erst jetzt entdeckte, der Meisterfälscher Claas Relotius auch einen Beitrag schrieb. Von dem, wie der Spiegel vermerkt, anzunehmen ist, dass dieser ebenso erfunden ist wie die Spendenaktion, die er in dem Beitrag beschreibt.
Das ist einerseits schmerzlich für uns alle, andererseits auch ein Dokument – für eine Branche, die (erneut) zum Opfer ihrer eigenen Hybris wurde.
Die Sternschnuppe und die harten Jungs
Um ehrlich zu sein: Die meisten von ihnen hielt ich für Kotzbrocken.
Neulich habe ich nach langer Zeit wieder an sie gedacht, an die Starautorenriege, die Korrespondentenkoryphäen und die Ressortleiter, auf deren gramgebeugten Schultern die Last der westlichen Hemisphäre ruhte. An die Kriegsreporter, die nach jeder Rückkehr von der Pfütze berichteten, in die sie sich verdurstend geworfen hatten. Monumente des Journalismus. Mir war es scheißegal, dass sie den Nationalsozialismus, Vietnam und die Hitler-Tagebücher überlebt hatten. Ich wollte nur schreiben. Ich hatte einen Auftrag.
Mein Vater ist als Bergmann unter Tage gestorben, als ich drei Jahre alt war. Kurz nach meiner Taufe hatte er mich unter die Küchenlampe gehalten und „Schaut sie euch an, sie wird mal Auslandskorrespondentin“ gerufen, obwohl niemand in der Familie wusste, was das war.
So kam es, dass ich mich nach der Journalistenschule am unteren Ende der Rangordnung des STERN-Auslandsressorts befand, als Reporterin zuständig für kommunistische Regime im November, afrikanische Bürgerkriege und Katastrophen, die an Feiertagen stattfanden. Mein erster Einsatz war Aberdeen, Explosion der Ölbohrinsel Piper-Alpha. Wir flogen zu fünft in einer gecharterten Cessna nach Aberdeen. Die Cessna hatte Wurzelholzfurnier und weiße Ledersessel. Nach dem Start wurde Mumm-Sekt serviert. Es war die Spätphase des goldenen Zeitalters des Journalismus – eine Epoche, heute so fern wie die Spätantike oder das Heilige Römische Reich, ein Zeitalter, in dem man in der Business Class von Hamburg nach Nairobi flog oder First Class von Warschau nach Hamburg. Weil die Business Class ausgebucht war.
Wir flogen zu fünft: Ich war nicht nur dem Alpha-Wolf (Starautor) und dem Beta-Wolf (Starautor und Ressortleiter) untergeordnet, sondern auch den beiden Fotografen, Gamma- und Delta-Wolf – der, als wir im Interconti nicht schnell genug einchecken konnten, polternd seine Fototasche abwarf und sich zu dem Mädchen an der Rezeption beugte, mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger auf seine Augen deutete und sagte: Listen to me darling, we are not on holidays here.
Während der Beta-Wolf zusammen mit den Fotografen und dem Starautor einen Erkundungsflug über die feuerspeiende Bohrinsel machten, musste ich im Hotel die Stellung halten und die schottischen Zeitungen nach Adressen von Hinterbliebenen flöhen. Meine Aufgabe war, dem Alpha-Wolf ein paar bunte, möglichst menschelnde Details zu liefern und überhaupt für etwas Farbe zu sorgen, wenn wir an die Türen der Hinterbliebenen klopften und die Leute nicht auf zwei dicke Bärtige blicken mussten, sondern auf einen dicken Bärtigen und eine junge Frau mit dünnen Beinen und lilafarbenen Lippenstift.
Am Ende tauchte mein Name in der Bohrinselgeschichte zwar nur unter der Rubrik Dokumentation auf, aber ich hatte mich bewährt. Zur Belohnung durfte ich über die Hochwasserkatastrophe im Sudan berichten. Allein. Auch weil das restliche Wolfsrudel nicht scharf darauf war: islamisches Land, kein Alkohol, nur Fruchtsäfte. Außerdem: Afrika. Afrika war immer scheiße. Voller Blendenfresser. So nannten die Fotografen die Afrikaner.
Unser Hauptquartier war das Hilton in Khartum, wo bereits die Weltpresse versammelt war: Amerikanische Starfotografen in Safarijacken, amerikanische Fernsehteams mit hünenhaften Kameramännern, die ihre Kameras wie gigantische Nebelmaschinen schulterten, ein rothaariger BBC-Reporter, der an Lawrence von Arabien erinnerte, weil er einen Tropenhut mit Nackenschutz trug, kettenrauchende französische Fotografen und ein ägyptischer Agenturjournalist namens Adel, der sich in Aussicht auf das sudanesische Hochwasser auf dem Basar in Kairo kurze, weiße Gummistiefelchen gekauft hatte. Alle scharten sich in der Lobby um einen hochgewachsenen Sudanesen in weißer Djellaba, dem für uns wichtigsten Mann in Khartum: Als Abgesandter des Informationsministeriums entschied er darüber, wer an dem bevorstehenden Ausflug in den Norden des Sudans teilnehmen würde.
Die Amis drängelten sich wie immer vor, und die Sudanesen verfluchten uns, als wir zu ihnen in die Antonov stiegen, zu den Decken, Zelten und Medikamenten, die diese libysche Militärmaschine in den Norden brachte. Bei 45 Grad im Schatten fuhren wir in Jeeps über Sandpisten, Schutt und Geröll am Rande der lehmig-braunen Nilflut zu einem Dorf, das von der Außenwelt abgeschnitten war, vorbei an Papyrusmatten und obdachlosen Sudanesen, die unseren Anblick wie einen weiteren Schicksalsschlag ertrugen: nach dem Durchfall und der Malaria jetzt auch noch die Journalisten.
Ich war kurz vor dem Verdursten und starrte gierig auf Lawrence von Arabien, der eine Feldflasche an die Lippen setzte, während ich nicht mal auf die Idee gekommen war, aus der Minibar des Hilton eine kleine Flasche Mineralwasser mitzunehmen. Lawrence von Arabien war auch mit bis zur Brust reichenden Anglerhosen ausgerüstet, in denen er majestätisch den Nil durchschritt, der den Marktplatz des Dorfes überflutet hatte. Sein Mikrophon warf er aus wie eine Angel beim Fliegenfischen.
Einige französische Agenturfotografen und der kleine, dicke Ägypter wollten ihm nicht nachstehen und stiegen zu einem Jungen auf ein Floß, das er sich aus zwei Ölfässern und ein paar Brettern gebaut hatte. Als das Floß in der Mitte des Stroms trieb, riefen die am Ufer verbliebenen Fotografen dem Ägypter zu: Adel, pass auf, beweg dich nicht!, woraufhin sich Adel in seinen weißen Gummistiefelchen erschreckt aufrichtete, das Floß in Schieflage brachte, und die gesamte Gesellschaft in die braunen Nilfluten fiel.
Das war der Moment, an dem die Sudanesen wieder an die Existenz einer ausgleichenden Gerechtigkeit glaubten. Sie lachten, wie sie seit Monaten nicht mehr gelacht hatten, sie wieherten, hielten sich die Bäuche, klatschten sich vor Begeisterung auf die Oberschenkel und wischten sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln – besonders, als Adel in seinen kleinen weißen Gummistiefelchen triefend am Ufer stand. Und ich lachte selbst dann noch, als ich abends wieder in meinem tiefgekühlten Bett im Hilton lag.
Über all das schrieb ich natürlich nichts. Ich lieferte eine ergreifende Reportage über die Zerstörung des fruchtbaren Lebensraumes längs des Nils, in der ich mit biblischen Metaphern nur so um mich warf, verfasste einen Kasten über Afrikas größten Flächenstaat, den Bürgerkrieg im Südsudan, die Kontoverbindungen der Hilfsorganisationen und überstand siegreich die dreistufige Qualitätskontrolle bestehend aus Ressortleiter, Dokumentar und Chef vom Dienst
Die Geschichte war im Blatt: Ein Bericht von Petra Reski. Doppelseiten über Doppelseiten. Die wichtigste Reportage in der kommenden Ausgabe. Und das blieb sie auch, jedenfalls in der bereits ausgelieferten Auslandsausgabe. Denn dann passierte die Geschichte mit Cordes. Der Hoechst-Manager wurde nach einer 605 Tage dauernden Geiselhaft im Libanon freigelassen. Großer Jubel. Außer bei mir.
Mein Sudan fiel raus. Und der Hoechst-Manager rein.
Immerhin gehörte mir seitdem der Sudan. Afrikas größter Flächenstaat. Auch weil ihn keiner wollte. Die Welt war, abzüglich der Herrschaftsgebiete der Korrespondenten, unter uns Auslandsredakteuren aufgeteilt. Dem Kollegen Lehmann, auch Dalai Lehmann genannt, gehörte der Himalaya, es gab die harten Jungs für den Nahen Osten und einen Kriegsreporter, der gerade aus Afghanistan zurückgekehrt war. Seine Reportage begann mit dem Satz: Dumpf knirschte der Kies unter den Hufen meines Mulis.
Und hier fing das Elend an. Als der Chefredakteur nach der morgendlichen Lektüre der New York Times Interesse für die Operation Lifeline Sudan der Vereinten Nationen bekundet hatte, weil sich eine Hungersnot im vom Bürgerkrieg gebeutelten Südsudan abzeichnete, machte nicht nur ich meine Ansprüche geltend, sondern auch der Kriegsreporter. Die Chefredaktion kam zu dem salomonischen Schluss, uns beide zu schicken. Von Nairobi in die von den Rebellen belagerte Garnisonsstadt Juba.
Ein Wettrennen: Luft- gegen Landweg. Ich sollte versuchen, von einem Hilfsflieger mitgenommen zu werden. Der Kriegsreporter startete siegesgewiss zusammen mit einem Fotografen in einem Hilfskonvoi – überzeugt, dass ich gegen Mais- und Bohnensäcke ohnehin keine Chance hätte: „Dann mach’s mal gut, Petra“, sagte er.
Ich hing etwas in Nairobi herum. Kaufte mir einen grünen Turmalin, den ich in den Ehering meines Vaters einsetzen ließ, ging dem dicken Briten auf die Nerven, der die Hilfsflüge für das World Food Programme organisierte, lag am Pool und las das Archivmaterial über Juba. In dem über Juba gar nicht viel zu lesen war, im Wesentlichen ging es um den Landeanflug: Um von den Rebellen nicht beschossen zu werden, landete man in Juba nicht im Sink-, sondern im Spiralflug: Wie ein Korkenzieher schraubt sich die viermotorige Hercules in die Tiefe, schrieb der Newsweek-Korrespondent, der Reporter des Guardian beschrieb ausführlich die Härchen auf seinen Unterarmen, die sich während des spiralförmigen Manövers aufstellten, der Korrespondent der Times kreiste wie ein Adler über Juba, die New York Times drehte, wand und bohrte sich herab, und ich beschloss, den Spiralflug wegzulassen.
Nach zwei Tagen war es so weit: Ich bestieg einen grauen, dickbäuchigen Transportflieger, der von amerikanischen Kampfpiloten geflogen wurde, kriegsgestählte Muskelpakete, die mich anstarrten wie eine Luftspiegelung und fragten, ob ich tatsächlich alleine fliegen wollte, kein Kollege, nichts? Nichts. Ok then, let’s roll, sagte der Pilot und sorgte dafür, dass ich zwischen den Säcken mit Mais und Bohnen festgezurrt wurde.
Nach dem Start ließ er mich ins Cockpit holen, auf den Platz des Kopiloten. Er setzte mir Kopfhörer auf und erklärte mir über Sprechfunk, was wir sahen: Die mit grünem Samt bezogenen Ngong Hills (Karen Blixen! Denys Finch Hatton!), den Victoria-See mit dem rosa Schimmer an den Rändern, ein gigantischer Edelstein, der sich pulverisierte, als wir über ihn flogen und die Flamingos wie kleine rosa Punkte auf schwarzem Glitzer zerstoben. Wolken trieben im Himmel wie umgestülpte Eisberge. Wenn wir sie durchflogen, erwartete ich jedes Mal, dass die Fenster zerbersten würden.
Ich durfte sogar während der Spiralflugs im Cockpit bleiben, stehend hinter dem Sitz des Kopiloten. Wir kreisten sechs Mal über der Stadt. Ich hatte das Wettrennen gewonnen. Auch weil ich es da schon vergessen hatte.
Die erste Nacht verbrachte ich allein in einem Haus unweit des Weißen Nils. Ich packte mein Moskitonetz aus, aß einen der Kekse, die ich als Proviant mitgenommen hatte, und rechnete nicht damit, die Nacht zu überleben. Draußen brüllte Afrika. Und Schlangen gab es hier garantiert massenhaft.
Ich wurde in Krankenhäuser, Flüchtlingslager, zum Gouverneur und zu einem Hochwürden des Lutherischen Weltbunds geführt. Dem Gouverneur stellte ich kritische Fragen, auf die er nicht antwortete, mit dem Hochwürden trank ich Whisky. Als ich mit einem französischen Fotografen auf den Wochenmarkt ging, versuchte eine aufgebrachte Menge uns zu erschlagen. Nur weil wir Fotos von den ausgestellten Waren gemacht hatten.
Über all das schrieb ich nichts. Ich schrieb auch nichts davon, dass der Flug in der Hercules der schönste Flug meines Lebens war. Ich versuchte so gut es ging, das Elend zu protokollieren, die überquellenden Latrinen im Krankenhaus, die Maisration für die Flüchtlinge, die Stapel von Brennholz, die auf dem Markt angeboten wurden, kriegte aber nicht den richtigen Elendsporno-Sound hin, der dem Kriegsreporter nur so aus der Feder floss: Zwei Hände wie ausgedörrtes Leder. Ein Gesicht, zerknittert wie Papier. Gierige Augen. Dumpfes Betteln. Zwei Doppelseiten.
Der Ressortleiter kürzte meine Geschichte auf eine Seite und fragte mich, warum ich den Spiralflug weggelassen hätte.
„Weil ihn alle hatten“, sagte ich.
„Eben“, sagte er und redigierte ihn mir rein.
Bald darauf ging ich nach Italien. Meine Erinnerung an den STERN verblasste wie die an einen Mann, mit dem ich mal eine Affäre hatte.
In den Jahren danach schrieb ich Reportagen aus der ganzen Welt, über Bosnien und Südafrika, Polen und Weißrussland und immer wieder über die Mafia, was niemanden groß interessierte – weil man die Mafia in deutschen Redaktionen für eine der vielen italienischen Merkwürdigkeiten hielt, so wie Spaghetti mit Tintenfischtinte. Als ich auf die Idee kam, klarzustellen, dass die Mafia keineswegs allein ein italienisches Problem ist – ein Anliegen, bei dem mir die ‘Ndrangheta glücklicherweise entgegen kam, als sie das Mafiamassaker von Duisburg beging – wurde ich verklagt und bedroht. Mein Buch „Mafia“ wurde auf Geheiß einiger in Duisburg und Erfurt lebender „erfolgreicher italienischer Unternehmer“ geschwärzt. Die Aufregung darüber hielt sich in Deutschland in Grenzen.
Das änderte sich erst, als ich im letzten Jahr ein Crowdfunding gemacht habe, um meine Rechtskosten bezahlen zu können, nachdem mich der Erbe von Rudolf Augstein bei einer weiteren Klage eines „erfolgreichen italienischen Unternehmers“ aus Erfurt im Stich gelassen hatte.
Ich hätte niemals damit gerechnet, so viel Unterstützung aus Deutschland zu erfahren. Was meinen Glauben an die Menschheit im Allgemeinen, an Deutschland und den Journalismus im Besonderen wieder aufgerichtet hat. An dem Crowdfunding haben sich sogar etliche ehemalige STERN-Kollegen beteiligt, von Korrespondentenkoryphäen bis hin zum Chefredakteur, und das, obwohl ich für sie doch eigentlich nur eine Sternschnuppe war.
Ja, manche von ihnen waren Kotzbrocken. Aber mit Haltung.