„Ich bedauere diese beunruhigende Abweichung von der gängigen Auffassung der Rechtsprechung zutiefst“, stellte Richterin Tsotsoria am Ende des soeben ergangenen Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte fest.
Es ist in der Tat ein schwarzer Tag für die Meinungsfreiheit: Mit seinem soeben ergangenen Urteil hat der Europäische Gerichtshof die Beschwerde des Verlages Droemer Knaur abgelehnt, derzufolge die Schwärzung meines Buches „Mafia. Von Paten, Pizzerien und falschen Priestern“ (Droemer 2008) und die Geldentschädigung von 10 000 Euro gegen die freie Meinungsäußerung (Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention) verstoße. Ich stimme mit der Verlagsleiterin Margit Ketterle darin überein: Wenn sich Journalisten und Verlage für die Verdachtsberichterstattung nicht auf den Rückgriff auf qualifizierte Quellen verlassen können und Journalisten vor Gericht beweisen müssen, dass Verbrechen begangen wurden, dann ist die Pressefreiheit in Gefahr.
Mich hat dieses Urteil darin bestärkt, auch in Zukunft weiterhin Romane über die Mafia zu schreiben. Soeben ist bei Hoffmann&Campe erschienen: „Bei aller Liebe. Serena Vitales dritter Fall“ handelt vom Geschäft der Mafia mit Migranten.
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Richterin Tsotsoria legte Wert darauf, ihre abweichende Meinung im Urteil zur Kenntnis zu bringen:
I voted in favour of finding a violation of Article 10 of the Convention in this case.
The publication by the applicant company indisputably concerned a matter of great public interest – the activities of the mafia in Germany. In the book, S.P.’s alleged membership of the criminal organisation was presented as a presumption and not as a fact. This assumption was based on a variety of sources, including the official reports of the Federal Office of Criminal Investigation. In those circumstances, contrary to the findings of the present case, the case-law does not require that journalists undertake independent research. The case-law also provides that journalists must be free to report on events based on information gathered from official sources without further verification (see Koniuszewski v. Poland, no. 619/12, § 58, 14 June 2016, with references to other case-law).
I consider that the author of the book, a journalist who is renowned for her anti-Mafia publications, acted in good faith, in compliance with the duties and responsibilities enshrined in Article 10 of the Convention. Equally, I do not find it possible to reproach the applicant company for overstepping the allowed limits of exaggeration. Moreover, the possible meaning of “high level of suspicion” (see paragraph 47 of the judgment) in terms of the Court’s case-law is also unclear to me. Further, I am not convinced that the applicant company was given appropriate opportunities by the domestic courts to put forward arguments regarding the veracity of the information.
In a nutshell, based on the above arguments and sharing the rationale of the applicant’s reasoning, I find that the local courts failed to strike a proper balance between the applicant company’s freedom of expression and the right to respect for S.P.’s private life and reputation, as required by the criteria established by the Court’s case-law. In my view, the national judicial authorities did not give due consideration to the importance and the scope of the principle of freedom of expression, which should result in a narrow margin of appreciation being accorded to the decisions of the national courts. This fact meant that the Court ought to have substituted its view for that of the domestic courts (see Aksu v. Turkey [GC], nos. 4149/04 and 41029/04, § 67, ECHR 2012, and Palomo Sánchez and Others v. Spain [GC], nos. 28955/06, 28957/06, 28959/06 and 28964/06, §57, ECHR 2011).
I deeply regret this troubling departure from the prevailing understanding of the case-law of this Court.
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ABWEICHENDE AUFFASSUNG DER RICHTERIN TSOTSORIA
Ich stimmte dafür, in diesem Fall einen Verstoß gegen Artikel 10 des Übereinkommens festzustellen
Die Publikation der antragstellenden Firma betraf fraglos eine Angelegenheit, die von großem öffentlichem Interesse ist – die Aktivitäten der Mafia in Deutschland. Im Buch wird die angebliche Mitgliedschaft von S.P. in der kriminellen Organisation als Annahme dargestellt und nicht als Tatsache. Diese Annahme basierte auf verschiedenen Quellen, einschließlich der offiziellen Berichte des Bundeskriminalamts. Unter diesen Umständen, im Gegensatz zu den Erkenntnissen des vorliegenden Falls, erfordert es das Präzedenzrecht nicht, dass Journalisten unabhängige Recherchen betreiben. Das Präzedenzrecht setzt auch voraus, dass Journalisten frei sein müssen, über Ereignisse zu berichten, die auf Information basieren, die von offiziellen Quellen bezogen werden, ohne diese weiter zu verifizieren (s. Koniuszewski gegen Polen, Nr. 619/12, § 58, 14. Juni 2016, unter Bezugnahme auf anderes Präzedenzrecht).
Ich bin der Meinung, dass die Autorin des Buchs, eine Journalistin, die berühmt ist für ihre Mafia-kritischen Publikationen, guten Gewissens handelte, und in Übereinstimmung mit den Pflichten und Aufgaben, die in Artikel 10 des Übereinkommens verankert werden. Desgleichen sehe ich mich nicht in der Lage, der antragstellenden Firma den Vorwurf zu machen, die erlaubten Grenzen der Übertreibung überschritten zu haben. Überdies verstehe ich die mögliche Bedeutung von „hohem Grad an Verdacht“ (s. Paragraph 47 des Urteils) hinsichtlich der Rechtsprechung des Gerichts auch nicht. Außerdem bin ich nicht überzeugt, dass die antragstellende Firma von den einheimischen Gerichten ausreichend Gelegenheit bekam, Argumente bezüglich des Wahrheitsgehalts der Informationen vorzubringen.
Kurz zusammenfassend bin ich, basierend auf den obengenannten Argumenten und in Übereinstimmung mit der Logik der Beweisführung der Antragstellerin, der Meinung, dass es den örtlichen Gerichten nicht gelungen ist, die richtige Balance zu finden zwischen der freien Meinungsäußerung der antragstellenden Firma und dem Recht, das Privatleben und den Ruf S.P.s zu respektieren, so wie es die Kriterien verlangen, die das Präzedenzrecht des Gerichts festlegt. Meines Erachtens haben die deutschen Justizbehörden die Wichtigkeit und das Ausmaß des Prinzips der freien Meinungsäußerung nicht gebührend berücksichtigt, was darauf hinauslaufen sollte, dass den Urteilen der nationalen Gerichte ein enger Spielraum der Wertschätzung gewährt wird. Dieser Umstand bedeutete, dass dieses Gericht seine Ansicht mit der des deutschen Gerichts hätte substituieren sollen (s. Aksu gegen Türkei [GC], Nr. 4149/04 und 41029/04, § 67, ECHR 2012, und Palomo Sánchez und Andere gegen Spanien [GC], Nr. 28955/06, 28957/06, 28959/06 und 28964/06, §57, ECHR 2011).
Ich bedauere diese beunruhigende Abweichung von der gängigen Auffassung der Rechtsprechung zutiefst.