In memoriam Giovanni Falcone (1939 – 1992)

DIENSTAG, 23. MAI 2017
FAZ-FEUILLETON
In Deutschland gehört selbst die Mafia zum Markt
Die Mafia-Morde von 1992 beben bis heute nach, aber hierzulande wird die Gefahr immer noch sträflich unterschätzt / Von Petra Reski

Wie jedes Jahr wird in Palermo heute um 17.56 Uhr und 48 Sekunden Nini Rossos Trompetensolo „Il silenzio“ ertönen. Als die 572 Kilo schwere Bombe am 23. Mai 1992 in einem Abflussrohr unter der Autobahn vom Flughafen in die sizilianische Hauptstadt unweit von Capaci explodierte und den Richter Giovanni Falcone zusammen mit seiner Frau und drei Leibwächtern tötete, verzeichneten die Messstationen sizilianischer Seismographen die Bombenexplosion als ein kleines Erdbeben, mit Epizentrum bei Capaci. 57 Tage später, am 19. Juli 1992, wird Falcones Freund und Kollege Paolo Borsellino vor dem Haus seiner Mutter in die Luft gesprengt – zusammen mit seinen fünf Leibwächtern.

Die Nachbeben dieser Attentate sind in Italien bis heute zu spüren. Für viele Italiener sind die Morde an Falcone und Borsellino das Kainsmal der Republik. Niemand glaubt ernsthaft daran, dass ein halbes Dutzend Analphabeten in der Lage war, Attentate mit einer Präzision auszuführen, die selbst die Sprengstoffexperten des CIA vor Neid erblassen ließ. Wie immer wird an der Magnolie unter Falcones Wohnhaus in der Via Notarbartolo in Palermo die Nationalhymne gesungen, wie immer werden Politiker Reden halten – und wie immer werden sich viele Anti-Mafia-Staatsanwälte von diesem „Schaulaufen“ fernhalten.

In Deutschland erinnert sich kaum jemand daran, dass der letzte anonyme Brief mit einer Morddrohung für Falcone in Wuppertal abgestempelt wurde. Und dass Paolo Borsellinos letzte Reise vor seinem Tod nach Deutschland führte, wo er einen der Killer des jungen sizilianischen Staatsanwaltes Rosario Livatino verhörte, die in Leverkusen, Mannheim und Köln lebten. Sowohl Giovanni Falcone als auch Paolo Borsellino versuchten bis zu ihrem Tod die Hintergründe der Ermordung Livatinos zu ermitteln, der stets davon gesprochen hatte, dass man nach Deutschland gehen müsse, um die „neue Mafia“ zu verstehen. 1990 war Giovanni Falcone mit seinem neapolitanischen Kollegen Franco Roberti nach Düsseldorf gereist, um einen Waffen- und Sprengstoffhandel zwischen Italien und Solingen aufzuklären. Roberti, der heute Italiens nationale Anti-Mafia-Ermittlungsbehörde leitet, erinnert sich daran, dass es Falcone bereits damals um mehr ging: Er wollte verstehen, wie es der Cosa Nostra gelungen war, in Deutschland Wurzeln zu schlagen. Mit der ihm eigenen Weitsicht habe Falcone dafür plädiert, gemeinsam zu ermitteln und dauerhaft einen Informationskanal einzurichten, sei aber auf „eine Mauer aus eisiger Höflichkeit und totaler Kommunikationslosigkeit“ gestoßen: „Das Ergebnis unseres Rechtshilfeersuchens waren drei Verhörprotokolle, ausgeführt von einem deutschen Richter, gestempelt und versiegelt – und komplett nutzlos“, sagte Roberti. Die einzige Sorge der Deutschen sei die Angst vor einem Attentat gewesen, weshalb man bemüht gewesen sei, Falcone in einer Kaserne unterzubringen – was dieser aber rüde ablehnte und auf einem Hotelzimmer bestand.

Als der sizilianische Generalstaatsanwalt Roberto Scarpinato 22 Jahre später auf Einladung des Bundes deutscher Kriminalbeamter nach Deutschland kommt, berichtet er zum Erstaunen der anwesenden Presse von einem Italiener, der in Solingen als Unternehmer glänzte, in Italien als international tätiger Drogenhändler zu zwanzig Jahren Haft verurteilt wurde – und dessen Unternehmen in Deutschland weiter florierte. Die Deutschen erwiesen sich als beratungsresistent und verteidigten ihre heiligen Kühe: Abhören ist praktisch unmöglich und Mafia-Zugehörigkeit kein Strafdelikt. Anders als in Italien, wo die alleinige Zugehörigkeit bereits bestraft wird, muss in Deutschland die konkrete Vorbereitung einer Straftat nachgewiesen werden.

In der Praxis bedeutet das, dass die heutige, neoliberal geprägte, „marktwirtschaftliche“ Mafia, die zum internationalen Anbieter illegaler Güter (Drogen, Waffen, billige Arbeitskräfte) und Dienstleistungen (Investitionskapital, illegale Giftmüllbeseitigung) aufgestiegen ist, in Deutschland als Bestandteil des Marktes geschätzt wird. Dass niemand nachfragt, woher das Geld kommt, dafür sorgt die Beweislastumkehr: Der Polizist muss nachweisen, dass das Geld aus schmutzigen Quellen stammt, kann aber nicht einfach auf Verdacht ermitteln, anlassunabhängige Finanzermittlungen sind in Deutschland nicht erlaubt. Mafia-Güter zu beschlagnahmen ist nur theoretisch möglich, praktisch aber nicht, denn anders als in Italien, wo Güter bereits konfisziert werden können, wenn nur der Verdacht auf Mafia-Zugehörigkeit besteht, kann das in Deutschland erst dann geschehen, wenn ein definitives, letztinstanzliches Urteil wegen Mafia-Zugehörigkeit vorliegt. Was bei Mafiosi, die seit vierzig Jahren in Deutschland leben und gegen die in Italien nicht ermittelt wird, gar nicht der Fall sein kann. Aber nicht nur italienische Strafverfolger wundern sich, auch deutsche: „Für die Verbrecherkartelle ist Deutschland das gelobte Land, weil unsere Justiz die Aktivität der Mafia völlig unterschätzt“, schreibt Egbert Bülles, langjähriger Leiter der Abteilung Organisierte Kriminalität des Kölner Justizzentrums, in seinem Buch „Deutschland, Verbrecherland?“.

Im Juli 2015 wurden acht mutmaßliche ’ndranghetisti im Bodenseeraum festgenommen, Männer im Alter zwischen vierzig und 69 Jahren. Die Ermittlung hieß „Rheinbrücke“, die ersten Verhaftungen gingen zurück auf die Operation Crimine, als 340 Mitglieder der kalabrischen Mafia in der ganzen Welt verhaftet und ’ndrangheta-Zellen in Italien, Australien, Kanada, Deutschland und der Schweiz entdeckt wurden. Im deutschen Grenzgebiet zur Schweiz, in Singen, Rielasingen und Radolfzell, aber auch in Ravensburg und Frankfurt sowie in Frauenfeld und Zürich wickelten voll funktionstüchtige Clans ihre Geschäfte ab.

„Wichtiger Schlag gegen Mafia-Schläfer“ war in der deutschen Presse zu lesen. Tatsächlich ist es aber nicht die Mafia, die schläft, sondern Deutschland. Denn vier Monate später wurden sieben der mutmaßlichen ’ndranghetisti vom Oberlandesgericht Karlsruhe wieder freigelassen, weil die Verjährungsfrist für die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung in Deutschland nur fünf Jahre beträgt.

Und als die italienische Polizei vor wenigen Wochen aufdeckte, dass der kalabrische Clan Arena Millionen an einem Flüchtlingszentrum in Crotone verdiente, erinnerte sich in Deutschland niemand mehr daran, dass derselbe Clan hier seit langem ungestört glänzende Geschäfte macht: 2008 fiel der Clan in der Wahlfälschungsaffäre um den Senator Nicola di Girolamo auf, der nur durch die Stimmen der ’ndrangheta in Deutschland 2008 als Abgeordneter der Auslandsitaliener in den Senat einziehen konnte. Im Frühjahr 2010 wurde der Senator als Protagonist eines gigantischen Geldwäscheskandals festgenommen. Di Girolamo war dank der tatkräftigen Vermittlung des Clans Arena gewählt worden, dessen Wahlhelfer die Wahlzettel fälschten. So war es dem bis dahin völlig unbekannten, politisch zuvor nie aktiven römischen Rechtsanwalt Di Girolamo gelungen, sich als Kandidat der in Europa lebenden Auslandsitaliener aufstellen zu lassen und auf Anhieb 25000 Stimmen zu erlangen – darunter auffallend viele aus Stuttgart und Umgebung.

Und im Jahr 2012 fiel der Clan Arena in den Ermittlungen rund um den Windpark Isola Capo Rizzuto auf: Die mit Steuergeldern gerettete HSH-Nordbank hatte mit 200 Millionen Euro den Windpark in Kalabrien finanziert, der vom Clan Arena betrieben wurde, worüber der für Deutschland zuständige Staatsanwalt Carlo Caponcello vor der italienischen Anti-Mafia-Kommission berichtete: „Den Deutschen muss klargemacht werden, dass die Gefahr nicht abstrakt, sondern ganz konkret ist. Die ’ndrangheta ist auch in der Schweiz und in Belgien präsent – aber ohne die Situation zu überschätzen, können wir sagen, dass Deutschland das bevorzugte Ziel ist.“

Wie günstig sich die deutschen Gesetze für die Mafia auswirken, wissen in Deutschland alle Journalisten, die einmal den Versuch unternommen haben, Ross und Reiter zu nennen. Falls sie nicht bereits von den Justitiaren daran gehindert wurden, werden sie sich vor Gericht wiedergefunden – und ihren Prozess verloren haben.

Wenn man bei Google den Suchbegriff „Falcone Deutschland“ eingibt, lautet das Ergebnis übrigens: „Moto Guzzi Falcone-Club Deutschland“. Seliges Deutschland, könnte man meinen.

Petra Reski hat mehrere Bücher und viele Zeitungsartikel über die Mafia geschrieben. Unlängst verlor sie vor einem deutschen Gericht, weil sich ein von ihr namhaft gemachter Erfurter Restaurant-Besitzer in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt sah.

Das Grab von Giovanni Falcone befindet sich übrigens in Palermo seit kurzem in der Kirche von San Domenico. Die Schwester von Giovanni Falcone hat darauf bestanden, ihren Bruder in das „Pantheon der berühmten Sizilianer“ umzubetten – wo er nun an der Seite von sizilianischen Heimatdichtern und sizilianischen Juristen des Risorgimento ruht – und so von seiner Frau Francesca Morvillo getrennt wurde, Staatsanwältin auch sie. Mit der Falcone nicht nur im Leben, sondern auch im Tod vereint war: Sie ist bei dem Attentat auf Falcone ebenfalls ums Leben gekommen.

Tja. Feinfühligkeit ist nicht jedem gegeben.