Hey, dachte ich heute morgen, als ich diesen Artikel in der ZEIT las, geht doch. Also die Ursachen des „Populismus“ zu benennen, so wie es Bernd Stegemann in seinem Essay getan hat. Mein Unbehagen an der Populismuskeule habe ich in meinem Blog bereits öfter zur Sprache gebracht, zuletzt hier. Und vielleicht liegt es auch daran, dass man in Italien, wo die Wirtschaftslage ja weit von der glänzenden deutschen entfernt ist, weniger gewillt ist, neoliberalen Altären zu huldigen – besonders, wenn sie seit mehr als zwei Jahrzehnten durch eine korrupte Politikerklasse vertreten wird – die enge Verbindungen zur Mafia pflegt.
Dies sollte man sich vielleicht vor Augen führen, wenn mal wieder (nahezu täglich) in der deutschen Berichterstattung der Stab über die Italiener und ihre Sympathien für die Fünfsterne-Bewegung gebrochen wird. Die, um das noch mal ganz klar zu sagen, nichts mit Marine Le Pen, nichts mit der AfD zu tun hat – sondern Italien im Grunde vor einem Rechtsruck bewahrt hat.
Was ist Populismus?
Ein barbarischer Elitenhass sei der Kern des aktuellen Populismus – das schrieb Jens Jessen in der vorigen Ausgabe der ZEIT (Nr. 8/17). Ihm antwortet nun Bernd Stegemann; er ist Publizist, Dramaturg und Professor an der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin. Soeben erschien von ihm »Das Gespenst des Populismus«.
Der gute Mensch und seine Lügen
Elitär ist jeder, der sich für etwas starkmacht, das ihn selbst nichts kostet. Ein Plädoyer für einen neuen Umgang mit dem Populismus
VON BERND STEGEMANN
Die zentrale Wirkung des Populismus liegt darin, die bestehenden Machtverhältnisse und ihre Legitimationsdiskurse anzugreifen. Seine drei Hauptmerkmale zielen alle in die gleiche Richtung: Statt relativierender Kommunikation sollen harte Zuspitzungen wieder Freund und Feind unterscheidbar machen, zum Beispiel wird das Volk gegen eine Elite verteidigt. Statt einer Gesellschaft von Einzelnen behauptet der Populismus eine Gemeinschaft, die von außen bedroht wird, und statt einer postmodern zersplitterten Realität gehen die Populisten davon aus, dass es eine Wahrheit gibt und sie diese erkannt haben. Aus der Perspektive der liberalen Mitte unserer Gesellschaft sind alle drei Angriffe gefährlich. Sie wecken schlimme Erinnerungen an die deutsche Geschichte, und sie verweigern die Zivilisationsgewinne der letzten Jahrzehnte. Aber am bedrohlichsten wirkt die Kraft, die von ihnen auszugehen scheint. Immer mehr Menschen sind von den harten und zuspitzenden Reden fasziniert, und es scheint, als würde sich dadurch eine lange angestaute Ohnmacht in einer wütenden Anklage entladen.
Der Populismus produziert offensichtlich einen Konflikt im Zentrum der liberalen Demokratien, den sie lange überwunden geglaubt hatten. Je nach politischer Haltung könnte man in diesem neuen Konflikt die alten Kämpfe zwischen faschistischen und liberalen Kräften erkennen, einen seltsam verschobenen Klassenkampf oder die harsche Abwehr gegen die Zumutungen einer komplexen Gesellschaft. Das Problem an der aktuellen Lage ist, dass darin alle drei Gegensätze zugleich wirken. Schaut man etwas systematischer auf diese Konflikte, so fällt auf, dass hier zwei unterschiedliche Strategien von politischer Kommunikation aufeinandertreffen. Es gibt den alten Populismus, der mit scharfen Konflikten und einer Front zwischen »Wir« und »Sie« arbeitet. Und es gibt inzwischen einen neuen, liberalen Populismus, dessen Erfolg darin besteht, die Menschen ohne Ansehen ihres Geschlechts, ihrer Herkunft oder sonstiger individueller Eigenschaften zu Mitgliedern einer Gesellschaft zu machen. Der Preis für diesen universalistischen Anspruch ist jedoch die Bürde, die nun jeder Einzelne auf sich nehmen muss, um auch ein Mitglied sein zu dürfen. Die neuen Grenzen verlaufen nicht mehr zwischen »Wir« und »Sie«, sondern zwischen allen Menschen und dem jeweiligen Markt, auf dem sie handeln müssen: ohne Geld kein Konsum, ohne Qualifikation keine Arbeit, ohne bestimmte Umgangsformen kein Zutritt zur öffentlichen Meinung und so weiter.
Am Beispiel der Elitenkritik und ihrer Abwehr kann gut beobachtet werden, welche Folgen eine solche paradoxe Grenze für die Gesellschaft haben kann. Wie Jens Jessen in der letzten ZEIT ausführlich dargestellt hat, gibt es die Elite als solche nicht, da zu ihr so unterschiedliche Bereiche gehören sollen wie die EU-Bürokratie, das politisch engagierte Hollywood oder die wohlmeinende Professorenschaft. Ebenso wenig vertreten die Kritiker der Elite eine einheitliche Position. So wendet sich beispielsweise Martin Schulz in seinem beginnenden Wahlkampf gegen die Elite und meint damit sicher gerade nicht die EU-Bürokratie, die hingegen von der AfD als Elite beschimpft wird. Jessens Folgerung lautet, dass die Elite keine identifizierbare Gruppe ist, sondern dass zur Elite alle diejenigen gehören, die eine andere Meinung haben als man selbst, und dass in der Elitenkritik vor allem ein antizivilisatorischer Impuls wirkt. Dieser Schlussfolgerung möchte ich widersprechen.
Es gibt ein gemeinsames Kennzeichen all der auf den ersten Blick unterschiedlichen Personen und Institutionen, die als Elite kritisiert werden. Dieser gemeinsame Punkt liegt in ihrer paradoxen Art, wie sie ihre Moral und ihre Interessen kommuniziert. In früheren Zeiten hätte man dieses Paradox Heuchelei genannt, und tatsächlich findet man viele Anklänge daran, wenn man das »Wir schaffen das« der Kanzlerin oder die moralischen Predigten von Topmanagern, die die Globalisierung zur humanitären Notwendigkeit erklären, betrachtet. Solchen Aussagen ist gemeinsam, dass sie eine doppelte Botschaft vermitteln. Es wird auf der einen Seite eine Moral behauptet, die als universeller Anspruch formuliert wird, und auf der anderen Seite werden hinter diesen moralischen Reden andere, meist ökonomische oder strategische Interessen versteckt.
Die bürgerlichen Helden bei Ibsen wussten, dass ihr Handeln schuldhaft ist
Die neue und verwirrende Lage besteht heute darin, dass die einst linken und emanzipatorischen Forderungen zu Waffen der neoliberalen Ausbeutung geworden sind. Wer offene Grenzen fordert, muss inzwischen erkennen, dass vor allem das Kapital von der Offenheit profitiert. Wenn Programmierer aus Indien ungehindert in den USA eine Arbeitserlaubnis bekommen, freuen sich die Aktionäre von Google und Co. über die niedrigen Lohnkosten. Zugleich freuen sich aber auch diejenigen, die in offenen Grenzen einen Fortschritt der Zivilisation erblicken und mit dieser moralischen Forderung willentlich oder unwillentlich die Renditeinteressen hervorragend kaschieren. Für ein solches Verhalten haben die arbeitslos gewordenen Programmierer dann wenig Verständnis, und sie beschimpfen es als elitär. Der Vorwurf gegen die Eliten richtet sich also gegen die Doppelmoral derjenigen, die eine Forderung erheben, für die sie selbst keine Opfer bringen müssen. Professoren, die Willkommenskultur predigen, dafür Anerkennung erhoffen und als Beamte in Eigentumswohnungen leben, sind für alle diejenigen, in deren sozial schwierigem Stadtteil ein Flüchtlingsheim gebaut wird und deren Job im Niedriglohnsektor von der neuen Konkurrenz bedroht ist, Vertreter einer hassenswerten Elite. Mit Eliten sind also nicht diejenigen gemeint, die etwas können, sondern alle diejenigen, die aus dem Widerspruch von Forderung und Konsequenz ein gewinnbringendes Paradox für sich gemacht haben. Die immer neuen Beispiele von Managern, die trotz gewaltigen Versagens ihre Boni einklagen, während ihre Angestellten arbeitslos werden, wirken hier wie Brandbeschleuniger.
Das Problem einer wohlmeinenden bürgerlichen Klasse, die mit Rührung auf das Elend der Welt blickt und dabei nichts von den Privilegien ihrer »machtgeschützten Innerlichkeit« preisgeben muss, ist so alt wie der Kapitalismus. Was im 19. Jahrhundert Doppelmoral genannt wurde und in den Dramen von Henrik Ibsen seinen treffenden Ausdruck fand, ist heute aber eine Drehung schlimmer geworden. Die bürgerlichen Helden bei Ibsen wussten, dass ihr Handeln schuldhaft ist, und hofften, dass dieses nicht ans Licht kommt. Demgegenüber gehen die bürgerlichen Subjekte der Postmoderne heute freimütig mit ihrer Schuld um. Natürlich weiß jeder, dass für sein Smartphone Sklaven schuften müssen und dass unser Wohlstand auf der Ausbeutung der ganzen Welt beruht. Das Paradox an diesem Wissen besteht heute darin, dass diejenigen, die am lautesten ihre Mitschuld eingestehen am meisten davon in der öffentlichen Anerkennung profitieren. Diese paradoxe Wirkung ist nur möglich, weil die Verbindung von schuldhaftem Tun und persönlicher Konsequenz aufgelöst scheint.
In einer letzten Wendung hat sich diese paradoxe Kommunikation des Liberalismus selbst zu einem Populismus entwickelt
Die einfache Frage »Was soll ich denn tun?« weiß niemand mehr zu beantworten. An diesem Punkt der Ungewissheit könnte nun ein Nachdenken einsetzen, das über die Auflösung der Verantwortung Rechenschaft ablegen will. Statt diesen Schritt zu einer Systemkritik des Kapitalismus zu gehen, greifen die Eliten zum Paradox einer postmodernen Moral. Man fordert allgemeine Werte, beklagt dann die Not, sie im eigenen Leben nicht befolgen zu können, und verlangt für diese Ehrlichkeit moralische Anerkennung. In einer letzten Wendung hat sich diese paradoxe Kommunikation des Liberalismus selbst zu einem Populismus entwickelt. Während der altmodische Populismus eine enge Verbindung zum Volk behauptet hat, bezieht sich der liberale Populismus auf eine Wahrheitsquelle ganz anderer Art. Die marktförmige Demokratie und die alternativlosen Entscheidungen von Angela Merkel sind der wirkungsvollste Ausdruck des neuen Populismus, der seinen letzten Wahrheitsgrund im kapitalistischen Markt hat. Die zentrale Absicht des liberalen Populismus ist die Förderung der subjektiven Optimierung und die Verschleierung aller systemischen Ungleichheiten. Denn vor nichts hat das Kapital mehr Angst, als davor, plötzlich sichtbar zu werden. Darum besteht eine der wichtigsten Aufgaben für die Politik im Neoliberalismus darin, statt die Interessen der Menschen gegen das Kapital zu verteidigen, dessen Gewalt bestmöglich zu verschleiern. Denn wo kein Kapital mehr zur Verantwortung gezogen werden kann, können auch die Interessen der Menschen nicht mehr durchgesetzt werden. Die systematische Verantwortungslosigkeit von Bankern und Politikern ist eine konkrete Folge dieser Politik. Und die Kompensation für ökonomische Ungleichheit erfolgt in der symbolischen Ordnung, indem die individuellen Freiheiten im Bereich der Identitätspolitik gefördert werden. Zugespitzt gesagt: An die Stelle des Klassenkampfes sind die biopolitische Perfektionierung des Alltags und die Sprachregelungen der Political Correctness getreten. Während die bürgerliche Mitte sich über die Hebung der allgemeinen Moral freut, wurde allen anderen die Sprache geraubt, um ihre Klasseninteressen formulieren zu können. Wagt es aber doch jemand, ist er ein Populist. Der liberale Populismus hat es geschafft, jede Kritik an sich und den Renditeinteressen hinter der Fassade des vernünftigen und moralischen Sprechens zu verstecken. Damit hat er sich in eine Position gebracht, von der aus er jede Kritik als unmoralisch diffamieren kann. Im politischen Alltag sieht das dann so aus, dass die CDU-Kanzlerin einem Gewerkschafter vorwerfen kann, er würde mit seiner Aussage, dass immer mehr Menschen von Altersarmut bedroht sind, die Wähler in die Arme der AfD treiben, der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann warnt seine Parteimitglieder vor einer Vermögenssteuer, da damit die AfD gestärkt würde, und schließlich vergleicht Wolfgang Schäuble die Rhetorik von Martin Schulz mit der von Donald Trump.
Man sagt »Modernisierung der Gesellschaft« und kann dann Streikrechte beschneiden
So taugt der Rechtspopulismus zum Schreckgespenst, um jede unliebsame Kritik an den bestehenden Verhältnissen abzuwehren. Doch die offene Gesellschaft macht es sich zu leicht, wenn sie die falschen Antworten des alten Populismus als Vorwand nimmt, um die richtigen Fragen nach den Fehlern der Globalisierung zu ignorieren. Solange die liberalen Kräfte weiterhin mit dem Kapital kollaborieren, so lange führen die Angriffe des alten Populismus zu der tragischen Situation unserer Zeit. Die liberale Mitte ruft immer lauter: »Wir sind doch die Guten!«, während sich die Wut gegen diese Doppelmoral immer mehr steigert. Und wie in jeder Tragödie haben beide Seiten recht und unrecht zugleich. Auf der Seite der Rechtspopulisten besteht das Paradox in der richtigen Behauptung, dass liberale Werte und soziale Ungleichheit zu zwei Seiten derselben Medaille geworden sind, und zugleich sind ihre Lösungen, die im Rassistischen oder Nationalistischen liegen, absolut falsch.Was es für unsere Zeit bedeutet, dass die größte rebellische Kraft von Rechtspopulisten ausgeht, müsste die Vordenker und Kritiker des Liberalismus beunruhigen. Doch seien es die Grünen oder auch große Teile der Linken, sie alle verpassen gerade die Chance, die darin liegt, die wachsenden Widersprüche des Kapitalismus für grundlegende Veränderungen zu nutzen. Stattdessen reagieren sie mit der immer gleichen Empörungskurve auf die moralischen Attacken von rechts, statt ihre eigene Kollaboration mit dem Kapital aufzulösen. Es scheint, als hätten die linken Parteien ihre entscheidende Kraft verloren: die Dialektik. Die undialektischen Linken haben die Systemkritik der dumpfen Gewalt von rechts überlassen, während sie selbst in der babylonischen Gefangenschaft des Neuen Liberalismus stecken. So können sie weder die Angriffe des Rechtspopulismus parieren, noch können sie zu einer eigenen Strategie kommen, um die Paradoxien des Liberalismus offenzulegen.Insofern machen sich die Verteidiger der offenen Gesellschaft noch immer falsche Hoffnungen, wenn sie nach Patentrezepten gegen den Populismus suchen. Ausgrenzen oder umarmen, integrieren oder diffamieren, alle Methoden verfehlen das Problem, und es hilft auch nichts, den Menschen die Politik besser erklären zu wollen oder sie weiterhin moralisch einzuschüchtern.
Die einzige Lösung liegt in der Selbstkritik des Liberalismus.Bis zur Wiederkehr einer linken Politik taugt das freundliche Gesicht von Angela Merkel zur perfekten Fassade für die harten ökonomischen Interessen ihrer Regierung. Man sagt »europäische Einheit« und betreibt eine Austeritätspolitik, die die meisten Mitgliedsländer in eine Schuldenkolonie der deutschen Wirtschaft verwandeln. Man sagt »Willkommenskultur« und verschiebt das Problem der Migration an die Grenzen von Europa, von wo die hässlichen Bilder die moralischen Deutschen weniger erreichen. Man sagt »Modernisierung der Gesellschaft« und kann dann Streikrechte beschneiden, Gemeinschaftseigentum privatisieren und die Erbschaftsteuer immer reichenfreundlicher gestalten. Man sagt »europäische Solidarität« und kann die letzten Schritte der neoliberalen Schockstrategie gegen die griechische Gesellschaft vollziehen. Man zeigt sich als guter Mensch und lässt andere dafür leiden oder die Drecksarbeit machen. Dass man dafür als Elite kritisiert wird, könnte ein erster Schritt zu einer Gesellschaft sein, in der auch die Anteilslosen ihre Stimme erheben.
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