Das Ding mit der vermeintlichen Distanz

Jetzt mal was anderes. Heute morgen beim Herumklicken stieß ich auf das Haftprotokoll, das der in der Türkei inhaftierte Korrespondent Deniz Yücel geschrieben hat, dessen Lektüre ich allen an das Herz legen möchte, weil es ein grandioser und bewegender Text ist.

Post

Noch wertvoller als die paar Minuten frische Luft auf dem Weg zum Arzt sind die Anwaltsbesuche. Anwalt bedeutet: frische Socken und vor allem Post von draußen! Der Anwalt bringt mir Nachrichten aus meiner Redaktion, Grüße von meiner geliebten Dilek und von meinen Freunden, und Zeitungsartikel. In die Zelle mitnehmen darf ich die Ausdrucke nicht, nur im Anwaltsraum lesen. Das meiste kann ich nur überfliegen, weil die Zeit knapp ist. Und weil mich das alles so sehr rührt, dass mir die Tränen hochsteigen. Das darf einem hier eigentlich nicht passieren. Aber das tut so gut. So unglaublich gut zu wissen, dass ich hier nicht allein bin und vergessen werde.

 

Zuvor hatte ich auf Zeit-online einen Text gelesen, in dem die Journalistin Mely Kiyak über ihre Hate-Poetry-Tour (Verlesen von Hassmails) zusammen mit Deniz  Yücel schrieb:

Wir lernten das Land kennen, das unterschiedliche Publikum, im Süden, im Norden. Wir lernten, dass unser türkischsprachiges Publikum nicht genug davon bekam, wenn wir Briefe von Nazis vorlasen. Lasen wir Texte, die Bezug nahmen auf unsere Türkeiberichterstattung oder den Islam, waren die Reaktionen schon seltsamer. Einmal stand ein türkischer alter Herr auf, als Doris ein wichtiges Element unserer Bühnendeko, einen Moscheewecker anschmiss, und den scheppernden Gebetsruf aus der Plastikverschalung mit ihrem Mikro verstärkte. Der türkische Herr rief laut und deutlich in die wie immer schon Wochen zuvor ausverkaufte und völlig überfüllte Veranstaltung hinein: „Ich distanziere mich von diesem Witz!“ Da wir extrem exzellent im Zurückrufen sind, rief Doris oder Yassin, ich weiß es nicht mehr genau, zurück: „Wir nehmen Ihre Protestnote an und halten fest, dass sie sich von einem Wecker distanzieren.“

 

Mely Kiyak schrieb voller Wut und Herzblut:

Ein Autor lebt weder am Schreibtisch noch auf einer Gefängnispritsche. Es sind die Texte, die leben und einen Autor zum Autor machen. Man kann einen Menschen einsperren, aber den Autor kriegt man nicht weggesperrt. Weshalb das Einsperren eines Journalisten die hilfloseste Maßnahme ist, die eine Regierung veranlassen kann. Die Ideen lassen sich nicht festhalten, die Gedanken nicht wegsperren. Schreiben ist schärfer als Waffen. Ach Türkei, Du lernst es nie!

Ich denke, dass man einen Geist wie Deniz‘ besser so schnell wie möglich frei lassen sollte, denn seine Kraft, seine Energie und sein Witz, seine klugen Bemerkungen, seine unbändige Menschenliebe und seine Abscheu gegenüber jeglichem Unrecht werden den Laden, egal ob Polizeirevier, Kerker oder das Scheißkulturzentrum in dieser hessischen Provinz, das ihm so auf die Nerven ging, innerhalb kürzester Zeit auf den Kopf stellen.
Man hat weniger Ärger mit ihm, wenn man ihm seine Freiheit gibt. Und man hat weniger Ärger mit mir, denn ich kann niemals Ruhe geben, solange mein Kollege, Hate-Poetry-Bruder und Freund Deniz Yücel nicht frei ist.

 

Natürlich ging dem Ganzen in Deutschland auch eine Polemik voraus – in der FAS war ein Kommentar des FAS-Korrespondenten für südosteuropäische Länder zu lesen, der sich die Frage stellte: Können wirklich nur Journalisten mit türkischen Wurzeln über die Türkei schreiben?

In der Türkei ist ein deutscher Journalist in Haft, weil er Mitglied einer Terrorbande sein soll. Die Vorwürfe gegen Deniz Yücel sind absurd. Man kann nur hoffen, dass es gelingt, ihn bald aus der Haft und der Türkei zu befreien. Aber vielleicht sollte man auch darauf hoffen, dass deutsche Verlage ihre Entsendungspolitik überdenken und neu überlegen, welche Korrespondenten sie in welches Land schicken. Denn gerade im Fall der Türkei beugen sich manche Häuser indirekt dem Nationalismus des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan: einmal Türke, immer Türke.

 

Interessant daran fand ich diesen Satz:

Topcu schreibt über ihren Freund Yücel, der sei „einer, der die Türkei liebt“. Natürlich darf man die Türkei, Deutschland, Nordkorea oder Hintertupfingen „lieben“ – aber ist es gut, ein Land zu lieben, über das man berichtet? Gilt da nicht weiterhin der schöne Satz Gustav Heinemanns, der sagte, er liebe keine Staaten, er liebe seine Frau? Schon Nietzsche hatte in diesem Sinne geraten, man solle Völker weder lieben noch hassen.

 

Der Autor selbst kommentierte seinen eigenen Artikel im Branchendienst Kress, der Spiegel nannte ihn „infam“, andere nannten ihn „irritierend“, die FAS kartete heute noch mal nach: Martens hat recht. Kurz: Alle echauffierten sich.

Mich hat an der Diskussion vor allem eines interessiert: das Ding mit der vermeintlichen Distanz des Journalisten zum berichtenden Objekt, in diesem Fall die Türkei – in meinem Fall Italien. Ich ziehe eine Berichterstattung vor, in der mir ein Autor seine persönliche Vorliebe erläutert und nicht vorgibt, objektiv zu sein. Leider gibt es keinen italienischen Deniz Yücel, und damit meine ich Korrespondenten,  die gar nicht erst versuchen, eine scheinbare Objektivität vorzutäuschen, kein Es-könnte-so-sein-aber-auch-so-sein-Journalismus. (Wobei: Ich bin ja schon bescheiden geworden, ich wäre dankbar, wenn ich in der deutschen Italien-Berichterstattung gelegentlich mal einen Es-könnte-so-sein-aber-auch-so-sein-Artikel lesen würde, stattdessen lese ich seit Jahren nichts anderes als copy&paste aus der italienischen Regierungspresse. Wobei immer so getan wird, als handele es sich um objektive Berichterstattung, Frucht aufwändiger Recherche, politischer Analyse, Abgleich widerstreitender Meinungen, Ergebnis zahlloser Interviews  – und nicht copy&paste aus dem Schwung Repubblica-Corriere-La-Stampa und vielleicht auch noch Messaggero, den man sich morgens beim Zeitungshändler geholt hat. Endloses Thema, über das ich mir in diesem Blog schon die Finger wundgeschrieben habe)

Vielleicht hilft ja Adorno:

„Was objektiv die Wahrheit sei, bleibt schwer genug auszumachen, aber im Umgang mit Menschen soll man davon nicht sich terrorisieren lassen. Es gibt da Kriterien, die fürs erste ausreichen. Eines der zuverlässigsten ist, dass einem entgegengehalten wird, eine Aussage sei „zu subjektiv“. Wird das geltend gemacht und gar mit jener Indignation, in der die wütende Harmonie aller vernünftigen Leute mitklingt, so hat man Grund, ein paar Sekunden lang mit sich zufrieden zu sein. Die Begriffe des Subjektiven und des Objektiven haben sich völlig verkehrt. Objektiv heißt die nicht kontroverse Seite der Erscheinung, ihr unbefragt hingenommener Abdruck, die aus klassifizierten Daten gefügte Fassade, also das Subjektive; und subjektiv nennen sie, was jene durchbricht, in die spezifische Erfahrung der Sache eintritt, der geurteilten Convenus darüber sich entschlägt und die Beziehung auf den Gegenstand anstelle des Majoritätsbeschlusses jener setzt, die ihn nicht einmal anschauen, geschweige denken – also das Objektive.“ (aus: „Bangemachen gilt nicht. Minima Moralia.)

 

Auf jeden Fall finde ich das Engagement, mit dem sich viele an #FreeDeniz beteiligen und mit der Situation in der Türkei beschäftigen, bemerkenswert, für Deutschland. Ein bißchen so, als hätte jemand die Journalisten aus ihrem Dornröschenschlaf wachgeküsst. Bislang hatte ich oft den Eindruck, dass die große Koalition wie eine große Dämmplatte auf Deutschland liegt: Man spottete zwar über Genossen wie Schröder, arbeitete sich gelegentlich an den Altherrenwitzen von Vorstandspolitikern ab, fand Leute mit Haltung irgendwie anachronistisch, die AfD letztlich nur peinlich und ansonsten alles eher so okay, abgesehen vom bösen, bösen Trump, natürlich.

P.S. Disclaimer: Mag natürlich sein, dass mich mein Migrationshintergrund (Vater Ostpreuße, Mutter Schlesierin – was für andere der Biodeutsche, war für uns DER WESTFALE) – und mehr als zwei Jahrzehnte in Italien für dieses Thema besonders sensibilisiert haben.

P.S.S.: Aber vor lauter Polemik und heiligem Ernst darf nicht auch nicht in Vergessenheit geraten, dass Deniz Yücel für seine Vuvuzela-Kolumne den Kurt-Tucholsky-Preis gekriegt hat.

P.S.S.: Hier auch die Freewordsturkeypetition zur Unterzeichnung: Damit Merkel und Junker den Mund aufmachen.