Ich habe mich bis jetzt, wie es überhaupt nicht meine Art ist, zurückgehalten, das Virginia-Raggi-Bashing seitens der deutschen Korrespondenten zu kommentieren. Auch weil es mich langweilt, mich zu wiederholen. Über das Copy&Paste-Prinzip der Italien-Berichterstattung habe ich schon so oft (zuletzt hier) geschrieben, dass ich es singen kann. Erst gestern wieder in der Süddeutschen, ein mit Fussball-Termini (der Korrespondent, so heißt es, war mal Sportreporter, wobei: Nichts gegen Sportreporter!) gespicktes Copy-Paste-Bravourstück:
Nun droht ein eklatantes Scheitern, eine Art Kanterniederlage. (…) Die Grillini regieren die Hauptstadt wie ein Provinznest (…) Da war plötzlich diese junge Frau, die niemand kannte und die keine Verpflichtungen zu haben schien. Feenhaft leicht wirkte sie, anders. (…) Nur stellte sich bald heraus, dass sie nicht feenhaft leicht und frei war, sondern eher federleicht. Raggi umgab sich mit Leuten aus der ehemaligen Entourage des Postfaschisten Alemanno. Sie bedachte sie mit fragwürdigen Beförderungen und Lohnerhöhungen, deretwegen nun ermittelt wird. Warum sie das tat, ist ein Rätsel. Das Ehrlichkeitsgelübde klang jedenfalls plötzlich hohl.
Mehr passierte bisher nicht.
Und genau das ist das Problem. Dass man Virginia Raggi bislang immer noch nichts anhängen kann. Außer, dass sie sich auf einen Schlag die gesamte italienische und römische Führungsklasse zum Feind gemacht hat, nachdem sie beschlossen hat, Rom nicht für die olympischen Spiele kandidieren zu lassen und dem Vatikan, dem größten Immobilienbesitzer in Rom, Grundsteuer zu berechnen. Das bedeutet: Sie hat sich zur politischen Führungsklasse, die die Fünfsterne-Bewegung hasst wie der Teufel das Weihwasser, auch die beiden Machtcliquen Roms zum Feind gemacht: die Baulöwen und den Vatikan. Was in der Süddeutschen natürlich ganz anders klingt:
Große Entscheidungen schiebt Raggi vor sich her, oder sie sagt einfach Nein, wie zu Olympischen Sommerspielen. Nun möchten private Investoren ein Fußballstadion bauen, dazu ein Geschäftsviertel, neue Infrastrukturen: ein Milliardenprojekt, alles selbstfinanziert. Natürlich gibt es immer gute Gründe, große Bauprojekte zu hinterfragen. Doch in diesem Fall geht es um Tausende Jobs, mehr Steuereinnahmen, eine neue Dynamik. Und da die Cinque Stelle an der Macht sind, könnten sie zeigen, dass so etwas legal und umweltfreundlich geht. Vor dem Gestalten aber scheint man sich zu fürchten.
Halbfinale also. Wenn es so weitergeht, droht der Spielabbruch.
Genau das lese ich täglich hier in der italienischen Presse, die mehrheitlich Industriellen, Baulöwen, Parteien oder vorbestraften Milliardären mit eigener Partei gehört. Heute kam es zu einem besonderen Höhepunkt: „Patata bollente“ titelte das Berlusconi-Hausblatt Libero über dem Bild von Virginia Raggi – was man mit „heiße Kartoffel“, aber auch mit „heiße Möse“ übersetzen kann.
Und von all denjenigen, die sonst bei jeder Gelegenheit Sexismus! Sexismus! schreien – etwa wenn die ehemalige „Reforministerin“ und jetzige Staatssekretärin Boschi beschuldigt wird, Insiderwissen an ihren Bankdirektoren-Vater weitergegeben zu haben (Näheres nachzulesen hier): Stille. Kein Pussy Hat-Marsch für Virginia Raggi. Nichts. Auch nicht die klitzekleinste Solidaritätserklärung, als der jetzt der im Abflug befindliche Stadtplaner Paolo Berdini sein Herz in einer Bar einem Journalisten von La Stampa ausschüttete. Für die italienischen Presse war das so wie Pfingsten und Ostern an einem Tag und wurde als audiogate gefeiert: „Aber du schreibst das nicht!“, sagte Berdini. Was ungefähr so ist, wenn ein Frosch vom Skorpion verlangt, ihn nicht zu stechen.
Incompetente, sei die Raggi, sagte der von der römischen Linken stets verehrte Berdini, der wohl auch seine Schwierigkeiten damit hatte, „unter“ einer jungen Frau zu arbeiten. Man könne der Raggi keine Straftat vorwerfen, sagte Berdini – und ja, auch er finde es absurd, dass Raggi acht Stunden lang von der Staatsanwaltschaft verhört wurde – aber es tat ihm wohl auch gut, endlich mal etwas rauszulassen über die Raggi, schließlich rannten ihm die Journalisten täglich hinterher.
Das Raggi-Bashing dauert nun seit neun Monaten hier an: RAGGI, RAGGI, RAGGI auf allen Fernsehkanälen. Du stellst das Radio an, da wird Raggi gesteinigt, du kaufst Corriere-Repubblica-La-Stampa, alle brüllen: RAGGI, RAGGI, RAGGI! Jetzt könnte man davon ausgehen, dass Virginia Raggi sich mindestens eine Wohnung mit Blick auf das Kolosseum von einem der römischen Baulöwen hat schenken lassen, so wie der ehemalige Innen- und Wirtschaftsminister Scajola (der von diesem Vorwurf natürlich schnellstens freigesprochen wurde). Oder bar auf die Kralle, wie unzählige andere bieder wirkende römische Stadträte auch (darunter auch Luca Odevaine, der ehemalige Chefberater des linken Bürgermeisters Veltroni und Gianni Alemanno, römischer Bürgermeister von 2008 bis 2013 und zeitweiliger Landwirtschaftsminister unter Berlusconi), ganz zu schweigen von zahllosen Regionalräten, Fraktionsführern, Unternehmern, die sich alle schmieren ließen. Von Salvatore Buzzi, einem ehemaligen Totschläger, der, nach seiner Haft geläutert, als Liebling der Linken in die römische Society aufgenommen wurde, zum Herrn über 40 linke Genossenschaften aufstieg und sich seitdem bester Kontakte zur sozialdemokratischen Renzi-Partei Partito Democratico erfreute – bis er 2014 verhaftet wurde. Alle anderen ließen sich von dem Clan der Casamonica, der aus den Abruzzen stammenden und in Rom sesshaft gewordenen Roma, schmieren – einem Clan, der zuletzt mit einer spektakulären Mafia-Beerdigung im Stil des Paten auf sich aufmerksam machte.
Nur so zu Erinnerung: In zwei Verhaftungswellen wurden zwischen Dezember 2014 und Juni 2015 in Rom über 100 Personen verhaftet. Die Anklage: Mafiazugehörigkeit, Korruption, illegale Absprachen, Erpressung, Geldwäsche, Wucher.
Das Erfolgsgeheimnis der Mafia Capitale? Nicht Gewalt, sondern Geld und Gefälligkeiten. Oder, wie es Salvatore Buzzi, Genossenschaftschef und Liebling der Linken so schön bildlich ausdrückte: „Um die Kuh zu melken, musst du sie füttern.“ Im Fall von Buzzi bedeutete das ganz konkret: 27 500 Euro an Schmiergeldern für befreundete Politiker, die er jeden Monat zahlte. Oder die öffentliche Müllabfuhr Ama: „Ama“, c’est moi, scherzte Buzzi zu jener Zeit, als er allein in einem Jahr 841 Personen einstellen ließ.
Die Protagonisten der „Mafia Capitale“, saßen oft bei Abendessen zusammen, nicht nur der damalige postfaschistische und späterer Forza-Italia-Bürgermeister Alemanno, sondern auch Stadträte und Politiker der PD, die Spitzen der Gesellschaft. Fotos von einem Mitglied des Casamonica-Clans neben dem heutigen PD-Minister für Arbeit und Soziales, Giuliano Poletti, der damals noch Chef einer linken Genossenschaft war, findet man leicht im Internet.
Ich wünschte mir ja, dass die deutschen Korrespondenten auch so viel Eifer an den Tag gelegt hätten, als es um den Pakt zwischen der Mafia und dem italienischen Staat ging, und der ehemalige italienische Staatspräsident Napolitano, der von der SZ stets als der „weise, alte Mann“ gehuldigt wurde, von einem angeklagten Minister angerufen und um Hilfe gegen die ermittelnden Staatsanwälte gebeten wurde. Die Bänder dieses Telefonats mussten auf Geheiß Napolitanos zerstört werden. Seitdem steht der Verdacht im Raum, dass es dem Präsidenten nicht darum ging, seine Privatsphäre zu schützen, sondern darum, den Pakt zwischen Staat und Mafia zu vertuschen. Aber darüber schrieb außer der taz niemand (lasse mich gerne vom Gegenteil überzeugen). Oder der Schmiergeldskandal um die venezianische Hochwasserschleuse: 100 Angeklagte, 35 Verhaftungen, eine Milliarde Euro Bestechungsgelder an rechte und linke Politiker. Reichte, wenn überhaupt, gerade mal für einen Zehnzeiler. Es gibt etliche Skandale in Italien, die berichtenswert gewesen wären. Stattdessen aber: Raggi, Raggi,Raggi.
Die Ungeheuerlichkeit, die Virginia Raggi verlangt, heißt: nicht klauen. Und das in einem Land, in dem zwanzig Jahre lang ein Ministerpräsident regierte, der sich damit rühmte, keine Steuern zu bezahlen und dessen rechte Hand ein rechtmäßiger und jetzt sich in Haft befindlicher Mafioso war. Das ist in der Tat skandalös.