Immer noch und mehr denn je: No!

Wir befinden uns im Jahre 2016 nach Christi. Alle deutschen Redaktionen sind von Renzi-Freunden besetzt? Nein! Unversehens tauchen aus dem Nichts hier und da Unbeugsame auf. Zum Beispiel in der TAZ, wo Marco D’Eramo versucht hat, den Deutschen das Referendum zu erklären, nachzulesen hier.

Von zehn jungen Italienern sind vier arbeitslos; das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) bewegt sich gerade so auf dem Niveau von vor 15 Jahren; die Neueinschreibungen an den Universitäten haben sich zwischen 2004 und 2015 um 20 Prozent verringert; gemessen am BIP, liegen die Ausgaben für Forschung und Innovation bei weniger als der Hälfte von denen in Deutschland und Österreich und bei einem Drittel der Ausgaben in Schweden; der Sekundäranalphabetismus nimmt zu; das Land deindustrialisiert sich; die Korruption frisst nach vorsichtigen Schätzungen 60 Milliarden Euro im Jahr, die Steuerhinterziehung nimmt sich noch mal 90 Milliarden. Und erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nimmt die Lebenserwartung der Italiener nicht zu, sondern ab. (…) Keines der eingangs aufgezeigten dramatischen Probleme wird von dieser Reform angegangen. (…)

Und doch wird dieses Referendum in den ausländischen Medien – mit der bemerkenswerten Ausnahme der britischen Wochenzeitung The Economist – als entscheidend angesehen, in seiner Bedeutung gleichauf mit der Abstimmung über den Brexit oder mit den französischen Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr.
Doch am Sonntag stehen sich nicht ein Votum „für das bestehende System“ und für ein „populistisches“ gegenüber. Wenn das Nein bei dem Referendum siegt – dann ändert sich erst mal gar nichts. Die Italiener stimmen nicht über den Italexit ab, auch wenn die Panikkampagne der Finanzindustrie via Wall Street Journal und Financial Times die Katastrophe ausruft: Austritt aus dem Euro, Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems et cetera. Dass man mit solchen Warnungen vor der Apokalypse einen Wahlausgang beeinflussen könnte, hat sich schon beim Brexit als Irrtum erwiesen. Wie der Economist sagte: „Die Italiener dürfen sich nicht erpressen lassen.“

Im Tagesspiegel schrieb Andrea Bernbach einen Kommentar, in dem sie für das No! zur Verfassungsreform plädierte:

Nach Berlusconi freuten sich die Nachbarn über jeden römischen Premier, der keine falschen Haare trug, keine 17-Jährigen belästigte und halbwegs glaubhaft schwor zu sparen, bis es quietsche.

Der letzte Zögling, den Napolitano im Jahr vor seinem Ruhestand noch einsetzte, Matteo Renzi, will die Zauberkraft des PR-Schlachtrufs „Ich oder das Chaos“, der im Kreis der EU-Kolleginnen und -kollegen und in der öffentlichen Meinung auch in Deutschland freudig geglaubt wird, nun auf neuem Niveau ausprobieren: An diesem Sonntag stimmt Italien über die bisher radikalste Veränderung seiner Verfassung ab. Der Premier bewirbt sie mit dem schönen Slogan „Ein Ja genügt“. Ja zu rascherer Gesetzgebung, weniger Volksvertretern, also kostensparender Politik, schlicht zu einem Italien, das durchregiert werden kann – und, so die Suggestion, richtig abheben wird.

Das Nein-Lager hält dagegen: Wenn der Senat, vergleichbar dem deutschen Bundesrat, aber gleichberechtigt mit der ersten Kammer, zurechtgestutzt wird wie geplant, dann wird nicht die verhasste Politiker-„Kaste“ kleiner und das Regieren besser, dann wird aus dem Senat ein Pfründenpool für die jeweils Mächtigen. (…) Der Berlusconismus, der leider nicht mit seinem Namengeber aus dem Amt schied, hat vor 20 Jahren einen Trend gesetzt, der spätestens seit Trump nicht mehr als banaler Betriebsunfall gesehen werden sollte. Hoffen wir, dass Italien an diesem Sonntag nicht erneut Trendsetterin wird. Sondern mit Nein stimmt.

 

Und auf Spiegel-online (!) schrieb der italienische Journalist Marco Politi einen offenen Brief an Minister Schäuble:

Sehr geehrter Herr Minister Schäuble, auch Sie sind wie vor Ihnen schon Präsident Obama wie einer der Heiligen Drei Könige zur Krippe unseres Verfassungsreferendums gepilgert, um dem italienischen Volke zu sagen, was es am Sonntag auf den Wahlzettel zu schreiben hat. Viele von uns Italienern und viele meiner Journalistenkollegen haben es als eigenartigen Akt der Einmischung empfunden, als Sie am vergangenen Dienstag auf einer Berliner Diskussionsrunde gesagt haben: „Wenn ich wählen könnte, ich würde für ihn stimmen“, für Matteo Renzi, für SI, ja zur Verfassungsreform. (…)

Was eigentlich meinen Sie genau, wenn Sie von „Stabilität“ sprechen, die eine Regierung Renzi so wünschenswert macht? Gewiss, auch mir kommt Renzi manchmal extrem stabil vor – etwa wenn er in eintausend Tagen an der Macht keinen einzigen Finger gerührt hat, um das komplizierte italienische Justizsystem zu vereinfachen, das beispielsweise gerade Wirtschaftskriminelle wie Geldwäscher oder Steuerhinterzieher belohnt, durch jahrelange Prozesse und Urteile, die erst dann gesprochen werden, wenn die Fälle längst verjährt sind.

(Vielleicht hat die Trump-Pleite die Kollegen doch etwas, ähem, aufgeschreckt?)