Das 11-Minuten-Ei (Filmfest 5)

Langsam nähern wir uns dem Endspurt. Zuvor aber noch eine Reihe von schauerlichen und, wie zu erwarten, hochgelobten Filmen, etwa das Werk des polnischen Regisseurs Jerzy Skolimowski: 11 minuit. Die Geschichte geht praktisch so: Sieben Geschichten à 11 Minuten, ineinander verknüpft, letztlich also eher eine Rechenaufgabe, als ein Film. Ein vorbestrafter Hot-Dog-Verkäufer, ein eifersüchtiger Ehemann, ein sexbesessener Filmproduzent, ein Fensterputzer, der ein Verhältnis mit einer Porno-Schauspielerin hat usw. Und am Ende fliegen alle in die Luft.

Oder: Remember von Atom Egoyan: Zev, ein an Demenz leidender Jude, will den in Amerika unter falschem Namen lebenden Auschwitz-Blockwart töten. In den ersten Minuten war ich schlichtes Gemüt wirklich positiv gestimmt, weil mal wieder eine echte Geschichte erzählt wurde. Da ahnte ich noch nicht, dass dieser Film gut zum ZDF Vorabendprogramm passen würde: Die überraschende Wende (Spoiler, insofern da noch was zu spoilen ist)  besteht darin, dass Zev gar kein Jude ist, sondern selbst Blockwart war. Ja, so kann es gehen. (Und das bei einem Regisseur, der von meinen klugen Kritikerfreundinnen als außergewöhnlich gerühmt wurde – und der zudem diesen unfassbaren Vornamen „Atom“ trägt: Seine Eltern haben ihn nach dem ersten armenischen Atommeiler benannt!)

Gefallen hat mir Heart of a Dog, der Film von Laurie Anderson. Und das, obwohl (!) hier eigentlich nur Fragmente aneinander geschnitten sind, und der Film stellenweise (Ok, sie ist nicht nur Musikerin, sondern auch Performancekünstlerin) an Biennale-Videos erinnert: Wasser, das an einer Scheibe herunterläuft, vermischt mit Super-8-Aufnahmen von herumstolpernden Kindern, ein Hund, der Klavier spielt. Einerseits.

Und andererseits auch wieder nicht. Denn da geht um den Tod, um die Liebe, um Abschied nehmen, um Verlust. Ja, vordergründig handelt der Film vom Tod ihres Hundes, Lolabelle – aber auch vom Tod ihres Mannes Lou Reed. Es gab viele Sätze, die mich berührt haben, etwa der von David Foster Wallace: Every love story is a ghost story. Besonders bewegend fand ich den Moment, als Laurie Anderson über den Tod ihrer Mutter spricht. Als sie im Sterben lag und sie zu ihr fahren wollte, sagte Laurie Anderson zu ihrem tibetanischen Meditationsmeister (oder Tai Chi -Meister oder sonst was, wir sind in Amerika): I have a problem: I do not like her. Er gibt ihr den Rat, an einen Moment zu denken, in dem sie sich als Kind von ihrer Mutter geliebt fühlte. Und Laurie Anderson erinnert sich daran, wie sie ihre Zwillingsgeschwister vor dem Ertrinken rettete und ihre Mutter daraufhin zu ihr sagte: „Oh, ich wusste gar nicht, dass du so eine gute Schwimmerin bist.“

Und weil ich den Film mochte, habe ich Laurie Andersons Chancen auf einen Preis natürlich völlig vermasselt. Nach wie vor sind die Favoriten, ja, ja, Francofonia (!) und seit heute auch das grauenvolle polnische 11-Minuten-Ei. Völlig durch den Rost gefallen ist mir übrigens Marguerite, (unbedingt den Trailer sehen!) ein Film über eine Frau, die nicht singen konnte, das aber mit Bravour – auch weil sie sehr reich war und sie deshalb von dementsprechend viele Menschen beklatscht wurde: Witzig und teilweise anrührend – vielleicht an manchen Stellen zu glatt, aber immer noch besser als das Meiste, was danach kam, damit also: keine Chance.

Meiner Meinung nach sollte Amos Gitai gewinnen. Aber auf mich hört ja keiner.

P.S.: Wer echte Kritiken will, sei auf Christiane Peitz‘ Kolumne Lichtspiele am Lido verwiesen – und natürlich auf Katja Nicodemus‘ Grelle Erkenntnisse in der ZEIT von heute.