Demnächst wird in Venedig ein neuer Bürgermeister gewählt, auch weil uns der letzte ja infolge des Mose-Skandals abhanden gekommen ist. Und das brachte die venezianische Bürgerinitiative venessia.com gestern Abend auf die Idee, die Bürgermeisterkandidaten zu befragen, wie sie in Zukunft mit den Touristenströmen umzugehen beabsichtigen – eine eigentlich naheliegende Frage in einer Stadt, die vom Tourismus lebt und deren Politiker in den letzten zwanzig Jahren ausschließlich darauf setzten, die touristische Monokultur voranzutreiben. Touristen sind für Venedig so elementar wie Öl für Saudi-Arabien, weshalb man annehmen könnte, dass der venezianische Stadtrat von hochspezialisierten Fachleute bevölkert ist, die von morgens bis abends nichts anderes machen, als Studien darüber anzustellen, wie man den Tourismus in dieser Stadt sinnvoll organisiert. Ist aber nicht der Fall. Der Tourismus überschwemmt die Stadt wie ein Ölteppich aus einem leck gelaufenen Tanker.
Das venezianische Tourismus-Konzept besteht im Wesentlichen aus: C’è gente? Oder: Non c’è gente. Sind Leute da? Oder: Sind keine Leute da. Meist sind sehr sehr viele Leute da.
Genauer gesagt, 30 Millionen Touristen jährlich, von denen 90 Prozent Tagestouristen sind, die in Venedig nichts anderes als ein Selfie am Markusplatz machen wollen. Oder an der Seufzerbrücke.
Und die kein Geld, sondern leere Plastikflaschen hinterlassen. Massentourismus, der kein Geld, sondern lediglich Exitus bringt, nennt man unter Tourismusexperten in der Welt inzwischen übrigens the Venice model.
Und dennoch ist der frei dahinwabernde Touristenstrom für Venedig ein Dogma wie die Jungfrauengeburt für die katholische Kirche. Gelegentlich gibt es Aufschreie, meist nach Ostern, Silvester, Karneval, dem ersten Mai, Himmelfahrt, Mariä Himmelfahrt, Allerheiligen, der Regatta Storica oder Redentore, wenn die Stadt niedergerannt wurde und ein paar Tage braucht, um ihre Glieder wieder zusammenzusammeln, aber schon eine Woche danach ist alles vergessen. Schließlich möchte man „le categorie“ nicht verprellen, also die Interessengruppen, die Wählerstimmen bringen, die Gondolieri, die Souvenirverkäufer am Marktplatz oder die Kreuzschiffahrtbetreiber und die chinesischen Geldwäscher nicht. (Die auch hier wählen dürfen, das kommunale Wahlrecht gilt auch für Ausländer).
Aber weil selbst für die, die bis vor kurzem noch am Tourismus verdient haben, die Situation unerträglich geworden ist – wie in einem Aquarium, wo, wenn zu viel Futter hereingeworfen wird, das Wasser trüb wird und die Fische sterben – die Hotelbesitzer nichts mehr verdienen, weil es zu viele illegal an Touristen vermietete Wohnungen gibt, die Restaurants leer sind, weil die Tagestouristen sich ihre Brote mitbringen und die Kreuzfahrtouristen an Bord essen, die Luxusboutiquen nichts verkaufen, weil die Luxusklientel nicht mehr nach Venedig kommt, weil sie keine Lust hat, sich in den Gassen platt treten zu lassen, gibt es manchmal zaghafte Forderungen wie die, dass man die Touristen etwas besser verteilen sollte: spalmare, verstreichen, heißt das auf Italienisch. Was ein schönes Bild ist, als ob die Touristen so etwas wären wie ein Brotaufstrich, den man nur richtig verteilen muss und schon ist alles wunderbar.
Die Touristen aber lassen sich nicht verstreichen, sondern liegen dicht geschichtet auf dem Markusplatz und quellen von der Brücke neben der Seufzerbrücke.
Demzufolge hat auch keiner der Bürgermeisterkandidaten das böse, böse Wort vom limite in den Mund genommen, sondern ein Venezianer: Marco Scurati, ein Tourismusexperte, der sich seit langem mit dem Problem der Touristenströme befasst und den ersten intelligenten Vorschlag gemacht hat, den ich je in Venedig zum Thema Tourismus gehört habe: Eine Zugangsbeschränkung für den Markusplatz.
Der Besuch des Markusplatzes soll gebucht werden, jedenfalls an manchen, besonders beliebten Tagen, am 1. Mai oder an Mariä Himmelfahrt – wie ein Flug oder ein Museumsbesuch. Jedenfalls für die Tagestouristen. Alle anderen, also Venezianer und die Touristen, die in Venedig offiziell (also nicht schwarz in den illegal vermieteten Wohnungen) übernachten und demzufolge ohnehin bereits eine Kurtaxe bezahlen, haben freien Zugang.Der Markusplatz bietet sich für diese Zugangsbeschränkung an, er ist leicht zu kontrollieren – und selbst die Buchung in Zeiten von Barcodes ein Kinderspiel.
Ausgehend von der Tatsache, dass die Tagestouristen nichts anderes als ein Foto vom Markusplatz machen wollen, sie sich also weder für Giorgiones Tempesta in der Accademia, noch für den Heiligen Sebastian von Mantegna in der Ca‘ D’Oro interessieren, ist es naheliegend, dass die meisten dann in diesen Tagen auf den Besuch von Venedig ganz verzichten würden. Was eine große Erleichterung wäre. Nicht nur für die Venezianer, sondern für alle, die Venedig lieben.
Alles in allem ein vernünftiger Vorschlag. Wahrscheinlich zu vernünftig, um umgesetzt zu werden.