In memoriam Rita Atria

Heute ist der Todestag von Rita Atria, einem mutigen sizilianischen Mädchen, das gegen die Mafia in ihrem Dorf aussagte, und dem ich mein erstes Buch gewidmet habe.

Rita nahm sich 26. Juli 1992 das Leben, eine Woche nach dem Attentat auf ihren väterlichen Freund, den Antimafia-Staatsanwalt Paolo Borsellino. In ihr Tagebuch hatte sie geschrieben:

  • „Bevor du anfängst, gegen die Mafia zu kämpfen, musst du dein eigenes Gewissen prüfen – erst wenn du die Mafia in dir besiegt hast, kannst du gegen die in deinem Freundeskreis kämpfen. Denn die Mafia, das sind wir selbst und unsere verkehrte Art, uns zu verhalten.“

Um Ritas Geschichte verstehen zu können, war ich allein nach Partanna gefahren, in jenes Dorf im Belice- Tal, südöstlich von Trapani. Ein Taxifahrer aus Palermo hatte mich nach Partanna gebracht und mir versprochen, mich wieder abzuholen, wenn ich ihn anrufen würde. Ich weiß noch, wie ich auf der Straße stand, seinem Auto nachblickte, das in der Ferne verschwand, und mich fühlte, als sei ich auf einem fremden Planeten ausgesetzt worden. Noch verlassener fühlte ich mich, als ich mein Zimmer in dem einzigen Gasthof des Ortes bezog, eine schmale Kammer, vor dessen Fenster ein Fliegenvorhang aus Metall hing, der leise klirrte, wenn die LKWs auf der Durchgangsstraße unter meinem Fenster vorbeifuhren.

Der Gasthof war eigentlich eine Pizzeria, die auch Zimmer vermietete, außer mir wohnte dort nur ein alter Mann, ein Sizilianer, der in den vierziger Jahren aus Partanna nach Amerika ausgewandert war und jeden Sommer in sein Heimatdorf zurückkehrte. Er verbrachte seine Ferien damit, in der Einfahrt zu sitzen und zu hoffen, mit jemandem ins Gespräch zu kommen. Meist wartete er vergebens. Denn er sprach nur Englisch – und Reste jenes Dialekts, den man in den vierziger Jahren in Partanna gesprochen hatte.

Alle in dem Dorf wussten, dass ich wegen Ritas Geschichte gekommen war, ich fühlte ihre Blicke auf mir kleben, wenn ich die Straße entlangging, um mir Ziga- retten in dem einzigen Tabakladen zu kaufen, oder wenn ich in der einzigen Telefonzelle des Ortes telefonierte, die Telefonkarten akzeptierte. Aber wenn ich jemanden fragte, dann taten alle so, als hätte das Mädchen Rita nie existiert. Jeden Tag versuchte ich, den Argwohn von Ritas Mutter zu zerstreuen, die mit nie- mandem über ihre Tochter reden wollte. Anfangs öffnete die Mutter die Tür nur einen Spaltbreit und schlug sie sofort wieder zu, wenn sie mich sah. Ich ließ mich jedoch nicht entmutigen und stand jeden Tag wieder vor ihrem Haus und hoffte, sie zu einem Gespräch zu überreden. Bis sie mich schließlich in das Wohnzimmer bat.