Als ich gestern vom Abendessen kam (ich hatte mich über dies und jenes beschwert, über das Leben im Allgemeinen und das Schreiben im Besonderen, und das Wetter war auch schlecht) sprach mich eine deutsche Touristin an. Ich erwartete, dass sie mich fragen würde, in welcher Richtung der Marktplatz oder die Rialtobrücke liegt. Sie aber entschuldigte sich, mich angesprochen zu haben und fragte mich, ob ich nicht die Autorin des Romans „Palazzo Dario“ sei, der ihr so gut gefallen habe.
Ich war wie vom Donner gerührt. Palazzo Dario ist mein erster Roman, er erschien im fernen Jahr 1999, einem Jahr, in dem die meisten Leser dieses Blogs vermutlich noch gar nicht geboren waren. Im Unterschied zu mir wusste die aus Hamburg stammende Dame noch ganze Passagen auswendig, sie habe sich von Seite zu Seite mehr nach Venedig versetzt gefühlt, besonders das Ende sei wunderbar gewesen, sagte sie und sprach mit einer Wärme von „Palazzo Dario“, als seien die Protagonisten nicht erfunden, sondern lebendig und mit mir verwandt, und ein bisschen stimmt das ja auch, jedenfalls in dem Sinne, dass ich mich ihnen gegenüber sofort etwas schuldig fühlte, weil ich so lange nicht mehr an sie gedacht hatte – ein Schuldgefühl wie das gegenüber von Verwandten, die man lange nicht mehr besucht hat.
Ich musste schlucken. Und erinnerte mich daran, wie ich damals (es war nicht nur der erste Roman, sondern auch die erste Lesereise meines Lebens) in einer Buchhandlung in Berlin-Wilmersdorf gelesen habe. Nach der Lesung meldete sich ein älterer Herr zu Wort, und ich war auf das Schlimmste gefasst. Jetzt kommt wieder die Frage nach der Taubenplage, dachte ich, oder nach dem Hochwasser und dem Geruch. Oder er will mir sagen, dass Venedig ganz anders ist. Ich atmete tief ein. Und dann passierte es. Der ältere Herr pries die Ironie meiner Venedigbeschreibungen, er rühmte den Witz meiner Romanfiguren, er salbte den Kosmos meines „Palazzo Dario“ so, dass es in der Buchhandlung ganz still und mein Herz ganz leicht wurde. Seine Brandrede endete mit den Worten: Kaufen Sie dieses Buch! Ich kämpfte mit den Tränen. Mein Traumleser! Hier saß er vor mir, gestützt auf seinen Stock! Allein für ihn, diesen älteren Herrn aus Berlin Wilmersdorf, hat es sich gelohnt, „Palazzo Dario“ geschrieben zu haben, habe ich mir damals gesagt.
Und seit gestern Abend schließe ich auch noch die Dame aus Hamburg in meine Gebete ein.