Weggehen oder bleiben?

Jemand hat ein selbstgebasteltes Video auf meine Facebook-Seite gestellt, eine kleine ironische Umfrage zum Thema: In Palermo bleiben oder weggehen? Palermo sei die schönste Stadt der Welt, sagt einer, ein anderer lobt das schöne Wetter, das einzigartige Meer, das unvergleichliche Essen – und wäre da nicht die italienische Wirtschaftskrise, die zu einer Jugendarbeitslosigkeitsquote von 30 Prozent und zum brain drain geführt hat, der in Italien „Flucht der Hirne“ genannt wird, gäbe es für viele junge Italiener sicher keinen Grund, ein solch irdisches Paradies zu verlassen.

Tatsächlich aber arbeiten Millionen junger Akademiker und Wissenschaftler im Ausland: Das italienische Universitätssystem ist verknöchert und undurchlässig, das Arbeitsrecht sorgt dafür, dass keine Stellen frei werden, weil Festangestellte unkündbar sind, und die Gewerkschaften verstehen sich ausschließlich als Besitzstandswahrer, so dass für junge Italiener in dieser Gesellschaft kein Platz vorgesehen ist. (Außer sie sind unter 30, weiblich, langhaarig, langbeinig und vollbusig und verfügen über einen robusten Magen. Dann haben sie Chancen bei B.)

So gesehen, würde sich die Frage „Weggehen oder bleiben?“ eigentlich von allein beantworten. Gäbe es da nicht „la mia terra“. Die Heimat. Der man sich in Italien zugehörig fühlt wie einem Blutsverwandten. Als ich zum ersten Mal gefragt wurde, ob mir nicht la mia terra fehlen würde, zuckte ich zusammen. In Italien aber gehört la mia terra zur Identität, ein Sizilianer bleibt Sizilianer, auch wenn er seit vierzig Jahren in Norditalien lebt, und vielleicht wurde er in Norditalien sogar noch sizilianischer, als er das in Sizilien jemals geworden wäre. Die Emigrazione –  jene Jahre, als viele Italiener ihre Heimat auf der Suche nach Arbeit verlassen mussten – ist bis heute ein nationales Trauma.

Aber vielleicht ist die gegenwärtige italienische Wirtschaftskrise für die jungen Italiener nicht nur Fluch, sondern auch Segen. Eine Chance, der terra, diesem egozentrischen Blutsverwandten, zu entkommen. Und sei es nur für ein paar Jahre. Um eine Fremdsprache zu lernen. Um den Horizont zu erweitern. Und um mit einem anderen Blick zurückzukehren.