Dass abtrünnige Mafiosi durch die Ermordung ihrer engsten Verwandten an ihren Aussagen gehindert werden sollen, hat in Italien eine lange Tradition. Während der sizilianische Mafioso Tommaso Buscetta, wichtigster Kronzeuge des Antimafia-Staatsanwaltes Giovanni Falcone, gegen die Mafia aussagte, ermordete die Mafia 14 seiner Verwandten, darunter zwei Söhne und zwei Neffen. Und der elfjährige Sohn des abtrünnigen Mafiosos Santino Di Matteo wurde zwei Jahre in einem unterirdischen Verließ gefangen gehalten, bis man ihn schließlich erwürgte und seine Leiche in Salzsäure auflöste. Santino Di Matteo war einer der Kronzeugen des Capaci-Prozesses, der Ermordung des Staatsanwalts Falcone. Einem anderen abtrünnigen Mafioso, Giovanni La Barbera, der ebenfalls im Capaci-Prozess aussagte, wurde der Bruder umgebracht. Im Italienischen nennt man diese Morde „vendetta trasversale“, was soviel wie „querverbindende Rache“ heißt.
Dabei macht die Mafia nicht mal vor denjenigen Halt macht, die sich des Schutzes des Staates verweigern (der allen Familienangehörigen von Kronzeugen angeboten wird) oder die sich gar öffentlich von ihren abtrünnigen Verwandten distanzieren: Sie werden dennoch umgebracht.
Die meisten Toten der „querverbindenden Rache“ werden zur Zeit in Kampanien gezählt: Anders als in Sizilien und Kalabrien, wo es so gut wie keine abtrünnigen Mafiosi mehr gibt, entschließen sich viele Camorristi, mit der Justiz zusammenzuarbeiten – nicht zuletzt, um ihr eigenes Leben zu retten. Nicht aber das ihrer Verwandten: Väter, Neffen, Lebensgefährtinnen, Brüder und Schwestern von abtrünnigen Camorristi wurden ermordet. Zuletzt der Onkel eines abtrünnigen Mafiosos, der mitten in Casal di Principe erschossen wurde, jenem Dorf, das zum Machtzentrum der Camorra wurde – und in dem seit einigen Tagen 500 italienische Soldaten patrouillieren.