Ich habe eine schleichende Italienisierung Deutschlands festgestellt. Damit meine ich nicht den grassierenden Latte-macchiato-Wahn, auch nicht die chronische Verspätung der Züge. Sondern die Tatsache, dass die wenigsten Züge auf dem Gleis abfahren, auf dem sie im Fahrplan angekündigt sind. Und obwohl mich meine italienische Lebenserfahrung lehrt, dem Augenschein zu misstrauen und nichts als gegeben hinzunehmen – der Zug wird von Gleis neunzehn, möglicherweise auch von Gleis vierunddreißig oder vielleicht gar nicht abfahren, die einzige Gewissheit ist, dass der Zug nicht von Gleis siebzehn abfahren wird – begann ich an Gleis siebzehn zu warten.
Ich bin eben Optimistin. Der Italiener an meiner Seite sagt: unbelehrbar. Als ich bemerkte, dass der Zug auf dem Anzeiger für die Abfahrtzeit nicht ankündigt war, fühlte ich mich obrigkeitshörig. Fahrplangläubig. In Italien glaubt man an Wunder, in Deutschland dem Fahrplan.
Aus dem Lautsprecher drang schließlich eine Stimme, die klang, als versuchte jemand zu sprechen, dessen Mund mit Paketband zugeklebt wurde. Verwirrung machte sich breit: Gleis sechzehn oder dreizehn? Ich stürzte in einer Wolke von Mitreisenden von Gleis zu Gleis. Wie in Italien.