Essen in Venedig (mangiare a Venezia)

Ich kenne niemanden, der mich nicht nach Geheimtipps gefragt hätte, als er erfuhr, dass ich in Venedig lebe. Accademia hin, Biennale her: Es gibt nichts, was Venedigbesucher mehr interessiert. Der bedeutende! Kunstkritiker! mag so tun, als bewege ihn nichts als das Venedigbild in Vanvitellis Veduten, gleich wird er sich zu mir hin beugen und flüstern, dass er demnächst mit seiner Frau nach Venedig … und ob ich nicht … Und was mache ich? Ich presse die Lippen zusammen. Nicht weil ich befürchte, in meinen Lieblingsrestaurants dann keinen Platz mehr zu bekommen, sondern weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass Restaurants weniger nach kulinarischen als nach ideologischen Gesichtspunkten ausgewählt werden: Man isst nicht, sondern man glaubt. Und man glaubt venezianischen Lokalen nur, wenn sie

1. Papiertischdecken haben
2. erst nach drei Stunden Herumirrens zu finden sind
3. mit unter der Decke hängenden Kupferpfannen dekoriert sind
4. sich Osteria nennen
5. jede Menge Knoblauch und Zwiebeln servieren, vulgo „Arme-Leute-Küche“
6. nur von echten Venezianern besucht werden

Empfehle ich ein Restaurant, das nicht mindestens über zwei dieser Qualitäten verfügt, also über Zwiebelringe oder Kupferpfannen oder echte Venezianer, gilt es als Touristenfalle, die man fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Nun ist es so, dass in Venedig 40 000 Venezianer leben (großzügig geschätzt) und jährlich 20 Millionen Touristen. Die Wahrscheinlichkeit, in venezianischen Restaurants auf den (stets von Touristen geschmähten) Touristen zu treffen, ist also sehr hoch. Was ich aber verschweige. Weil ich gerade höre, wie Venedigbesucher mir begeistert davon erzählen, dass sie nach langem Suchen ein Restaurant in einer allerliebst schmalen Gasse gefunden haben, ein bescheidenes Restaurant, wo an blanken Holztischen einfache Küche serviert wird. Ich presse die Lippen weiter zusammen, weil ich weiß, dass sie damit eine der unzähligen Folklorefallen meinen, die auf den politisch korrekt Reisenden warten, der den Kontakt mit der einfachen venezianischen Bevölkerung sucht. Und wo verkochte Spaghetti, industriell gefertigte Lasagne und tiefgefrorene Fertigkuchen serviert werden: Wer drei Stunden braucht, um das Restaurant zu finden (im Dunkeln und ohne Lesebrille), neigt dazu, alles zu essen, was ihm serviert wird – Fertignocchi, die in der Mikrowelle aufgewärmt wurden, weil viele der einfachen Restaurants nicht mal eine Küche haben, venezianische Meeresfrüchte-Vorspeisen aus der Tiefkühltruhe und industriell gefertigtes Stockfischmus, baccalà, das mit Mehl gestreckt und mit Knoblauch (!) abgeschmeckt wurde. Nur wenigen Menschen gelingt es, zwischen frischem und tiefgefrorenem Fisch zu unterscheiden, selbst den typischen Ammoniakgeruch, den scampi verströmen, wenn sie nicht mehr frisch sind, nimmt man nicht wahr, wenn Zitrone darauf geträufelt wurde.

Aber da immer weniger Menschen mit der venezianischen Küche vertraut sind, fällt das kaum jemandem auf. Venezianer sahen im Meer nie ein Hindernis, sondern immer einen Verbündeten. Anders als Inselvölker wie Sarden oder Sizilianer, die sich dem Meer und seinen Bewohnern mit Argwohn näherten und als Spezialitäten keineswegs Fisch, sondern Kaninchenbraten und Wildschweinschinken betrachten, verspeisen Venezianer lustvoll alles, was sich im Wasser bewegt.

Tatsache ist, dass gutes venezianisches Essen nicht billig sein kann. Denn bereits die Zutaten sind teuer, frischer Qualitätsfisch hat seinen Preis, die Verarbeitung ist mühselig, stundenlang steht die Köchin am Morgen in der Küche, löst die scampi für den fritto misto aus der Schale, anstatt sie geschält und tiefgefroren in der Tüte zu kaufen. Sie wird die alici, die Sardellen, selbst ausnehmen und mit Zitrone und Thymian marinieren und sie nicht in der großen Plastikwanne von der Lebensmittelindustrie anliefern lassen, sie wird für die panna cotta kein Fertigpulver verwenden, sondern sie selbst anrühren und über Stunden im Ofen stocken lassen. Kellner sind ebenfalls nicht billig, jedenfalls dann, wenn sie mit Eleganz und Leidenschaft ihr Metier ausüben. Erst recht nicht in einer Stadt, in der vom Kellner über das Tischtuch bis hin zur Thunfischdose alles per Boot transportiert werden muss. Und wo die Mieten höher sind als in New York.

Ich habe noch nie gehört, wie sich jemand über die hohen Preise eines Restaurants im Empire State Building beschwert hat. Dem Venezianer aber begegnet man mit Argwohn, das hat eine lange Tradition. Schon Goethe hätte in Venedig gerne aufgeräumt. Am 1. Oktober 1786 schrieb er:

„Ich ging und besah mir die Stadt in mancherlei Rücksichten, und da es eben Sonntag war, fiel mir die große Unreinlichkeit der Straßen auf. Die Leute schieben den Kehrig in die Ecken, auch sehe ich große Schiffe hin und wider fahren, die an manchen Orten stille liegen und das Kehrig mitnehmen, Leute von den Inseln umher, welche des Düngers bedürfen. Ich konnte nicht unterlassen, gleich im Spazierengehen eine Anordnung zu entwerfen und einem Polizeivorsteher, dem es Ernst wäre, in Gedanken vorzuarbeiten. So hat man immer Trieb und Lust, vor fremden Türen zu kehren“