Renzi will der Bestimmer sein

Und dann habe ich noch etwas für die Zeit online über das Verfassungsreferendum in Italien geschrieben.

Nando Dalla Chiesa weiß, warum so viele junge Italiener ihr Heimatland verlassen. Er ist sicher: Die von Ministerpräsident Matteo Renzi angestrebte Verfassungsreform, über die Italien am Sonntag abstimmt, wird an den Missständen nichts ändern – obgleich der Kampf um sie derzeit so entschlossen geführt wird wie eine endzeitliche Entscheidungsschlacht.

Dalla Chiesa ist Professor für die Soziologie der organisierten Kriminalität und Sohn eines von der Mafia ermordeten Generals. Durch seine Arbeit hat er viele junge Auswanderer getroffen, die jede Hoffnung aufgegeben haben, jemals wieder nach Italien zurückzukehren. Er sagt: Die jungen Leute gehen wegen der Bürokratie, die es aus ihrer Sicht unmöglich macht, ein eigenes Geschäft zu eröffnen. Sie klagen über die Klientelwirtschaft, die politische Korruption, den Mangel an Bürgersinn. Sie nennen die Mafia, die Camorra und die ‚Ndrangheta, die jede Menschenwürde mit Füßen trete, als Grund für ihren Weggang. Doch sie reden nicht über die Verfassung.
Die Regierung Renzi präsentiert ihr Vorhaben dennoch als das Allheilmittel schlechthin. Sie nennt als wesentlichen Grund der Reform, dass die Abschaffung des Senats Ersparnisse bringen und zu einer Beschleunigung der Regierungsgeschäfte führen würde. Tatsache aber ist, dass der Senat gar nicht abgeschafft wird, sondern lediglich die Möglichkeit, die Senatoren direkt zu wählen. Gerade diese Direktwahl aber war für die Italiener die letzte Möglichkeit, ihren politischen Willen noch zum Ausdruck zu bringen.

Im Parlament sitzen lediglich Kandidaten, die nicht direkt gewählt, sondern von den Parteien bestimmt werden. So sieht es sowohl das alte, Porcellum, „Schweinerei“, genannte Wahlrecht vor, als auch das neue. Im Italicum bleiben alle Ferkeleien des alten Wahlgesetzes bestehen. Auch weiterhin können die Italiener ihre Stimme nur den Parteien geben – und diese ernennen nach der Wahl jeden zum Abgeordneten, der ihnen genehm ist, ob Aktmodell oder Mafioso.

Weniger Demokratie

Im neuen Senat werden nach der Reform sitzen: 21 Bürgermeister, 74 regionale Abgeordnete und 5 Vertreter des Präsidenten. Sie alle werden parlamentarische Immunität genießen. Ohne die Verfassungsreform würde sie ihnen nicht gewährt. Giorgio Orsoni zum Beispiel, der ehemalige Bürgermeister Venedigs, der im Juni 2014 wegen eines Korruptionsskandals zurücktrat und derzeit vor Gericht steht, hätte gar nicht angeklagt werden können.
Nach der Verfassungsreform wären die Senatoren nur noch Teilzeitsenatoren. Zusätzlich müssten sie weiter als Bürgermeister oder Regionalabgeordnete arbeiten – was nicht nur eine Mehrbelastung an Arbeit und Kosten (etwa für Transport und Hotels) darstellt, sondern auch eine Schwächung ihres Engagements für ihre Städte und Regionen.

Nach der Verfassungsreform wäre der neue Senat kein Gegengewicht mehr zum Parlament. Dadurch wird den Wählern die Möglichkeit genommen, bei politischen Entscheidungen mitzubestimmen, und die Gewaltenteilung wird beschränkt. 56 ranghohe italienische Verfassungsrechtler kritisieren, dass durch die faktische Gleichschaltung von Senat und Parlament die Unterscheidung zwischen Exekutive und Legislative entfalle.
Nun argumentiert die Regierung gar nicht mit der Demokratie, sondern lobt die angeblichen Effizienzvorteile ihres Reformvorhabens. Doch selbst die sind fraglich. Auch nach der Reform werden die Bürgermeister und regionalen Abgeordneten im Senat ihre Zustimmung zu Gesetzen geben müssen. Das ist dann zwar nur noch eine Formsache, aber auch Formalitäten dauern. Die vermeintliche Beschleunigung sieht so aus, dass jedes Gesetz auch künftig durch zehn neue Genehmigungsverfahren muss. 22 Gesetzesnormen benötigen nach wie vor die Zustimmung von Parlament und Senat. Das braucht Zeit, selbst bei kompletter Gleichschaltung beider Gremien.

Sinnvoller: den Senatoren die Bezüge kürzen

Wie der italienische Rechnungshof ausgerechnet hat, wird es auch nicht billiger. Die Ersparnis durch die Veränderungen im Senat sind lächerlich gering: Derzeit kostet er 540 Millionen Euro pro Jahr. Durch die Reform würden weniger als 40 Millionen Euro gespart – das Gleiche wäre erreicht worden, wenn man den Senatoren zehn Prozent der Bezüge gekürzt hätte, ohne dafür die Verfassung anzurühren.

Im Wesentlichen geht es Renzi um die Macht. Ein Kind würde das Ziel der italienischen Verfassungsreform schlicht so erklären: Einer will der Bestimmer sein.
Dank der Verbindung von Verfassungsreform und neuem Wahlrecht Italicum kann der Ministerpräsident die Person zum Staatspräsidenten ernennen, die ihm genehm ist. Er kann die Mitglieder des obersten Richterrats und des Verfassungsgerichtshofs bestimmen – und nicht zuletzt auch den Verwaltungsrat des öffentlich-rechtlichen Rundfunks RAI. Er kann die Verfassung ändern, wann und wie es ihm in den Sinn kommt.

Berlusconi hätte davon geträumt

Gewinnt Renzi die Abstimmung am Sonntag, hat sein Amt eine Machtfülle, die mit einer parlamentarischen Republik nicht vereinbar ist, so wie die italienische Verfassung sie in ihrem ersten Teil definiert. Silvio Berlusconi hat davon vergeblich geträumt. Vor zehn Jahren schlug seine Regierung ähnliche Reformen vor. Wäre sie durchgekommen, hätte Berlusconi alle seine Kritiker und die ermittelnden Staatsanwälte ausschalten können. Die Italiener lehnten sein Ansinnen in einer Volksabstimmung ab. Damals war die Partito Democratico in der Opposition und geißelte Berlusconis Verfassungsreform als gefährlich – heute drückt sie selbst etwas Ähnliches durch.
Umso unverständlicher ist der vorauseilende Jubel im Ausland. Barack Obama, Jean-Claude Juncker, Angela Merkel, Thomas De Maizière und Wolfgang Schäuble sind Renzi beigesprungen. Auch zahlreiche deutsche Medien kommentieren die Verfassungsreform, als säßen sie in Renzis Fankurve. Sie jubeln über die vermeintliche Stabilität, die sie sich erhoffen – und übersehen, dass die häufigen Regierungswechsel in Italien keineswegs ein Zeichen für Unbeständigkeit sind, denn die Personen an der Macht sind seit Jahrzehnten die gleichen.
Italien wurde fast fünfzig Jahre lang ununterbrochen von der Democrazia Cristiana regiert. Der verstorbene Senator auf Lebenszeit Giulio Andreotti war an 33 Regierungen beteiligt, sieben Mal davon als Ministerpräsident. Der ehemalige italienische Staatspräsident und jetzige Senator Giorgio Napolitano gehört seit 1953 dem italienischen Parlament an, unter anderem als Parlamentspräsident und Innenminister.
Selbst Matteo Renzi ist keineswegs ein Newcomer, sondern schwimmt seit 1999 in den Gewässern der italienischen Politik, als er Provinzsekretär der Partito Popolare wurde. Die Regierung Letta stürzte, weil Renzi hinter den Kulissen gegen ihn so glanzvoll intrigierte. Die letzte Regierung Berlusconi stürzte, weil die Europäische Zentralbank, die EU und die anderen europäischen Staaten Berlusconi nicht mehr trauten, weshalb Staatspräsident Napolitano, stets ein großer Freund der Amerikaner, Berlusconi aus dem Amt beförderte.

Die neoliberale Troika entscheidet

Die Kritiker der Verfassungsreform – zu denen nicht nur der ehemalige Präsident des italienischen Verfassungsgerichts zusammen mit weiteren 56 Verfassungsrechtlern gehört, sondern auch zahllose andere namhafte Juristen, Intellektuelle, Journalisten, Schriftsteller und Künstler – sehen in ihr nichts anderes als ein gigantisches Hütchenspiel.
Zum Beispiel Roberto Scarpinato, Generalstaatsanwalt von Palermo: Er zeigte, dass Gesetze, die im Interesse der Regierung sind, schon jetzt in Rekordzeit durchgepeitscht werden. Gesetzesdekrete brauchen 46 Tage, Finanzgesetze 88. Alle Gesetze der europäischen Zentralbank wurden in kürzester Zeit durchgesetzt; für die italienische Arbeitsrechtsreform brauchte die Regierung eine Rekordzeit von nur 16 Tagen.
Die Reform ersetze die Macht der Bürger durch die Macht der Oligarchien, bemerkte Scarpinato – und wenn es wirklich ums Sparen ginge, würde durch die Bekämpfung der Korruption in Italien sicher mehr Geld gespart als durch die Reform des Senats. Auch sieht Scarpinato in der Verfassungsreform keine Antworten auf die Fragen der Globalisierung, unter der Italiens Wirtschaft leidet wie keine Zweite.

Wer jung und klug ist, geht

Ob nicht viel mehr die Abwesenheit jeglicher Wirtschaftspolitik für den Niedergang verantwortlich sei? Die großen italienischen Unternehmen Pirelli, Pininfarina, Indesit, Ansaldo Breda, Italcementi, Edison, Buitoni, Parmalat, Fendi, Bulgari, Gucci, Valentino: Alle sind ins Ausland verkauft worden. Es herrscht eine Jugendarbeitslosigkeit von fast 40 Prozent – wer jung und qualifiziert ist, verlässt Italien; „Hirne auf der Flucht“ wird der Exodus genannt.

Scarpinato stellt fest, dass ein Land nur dann seine die Wirtschaftspolitik bestimmen könne, wenn es über die entsprechenden Werkzeuge verfüge, zu denen eine souveräne Geldpolitik, Währungs- und Bilanzpolitik gehören. Doch die werden nicht mehr von der italienischen Regierung entschieden, sondern von der europäischen Kommission, der europäischen Zentralbank und dem internationalen Währungsfonds. Kurz: von der Troika, der Wallfahrtsstätte des neoliberalen Gedankenguts.

J.P. Morgan gegen „sozialistisches Gedankengut“

Folgerichtig überrascht es nicht, dass die italienische Verfassung der größten Bank der Welt schon lange ein Dorn im Auge war, der amerikanischen Bank J.P. Morgan. In ihrem 2013 erschienen Bericht über die europäische Wirtschaftskrise rät J.P. Morgan, den Süden Europas politisch zu reformieren und nicht wirtschaftlich – zum Beispiel durch eine Reform der Verfassungen. Denn die Verfassungen von Spanien, Italien und Portugal, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Fall der Diktaturen geschrieben, wiesen einen starken Einfluss „sozialistischen Gedankenguts“ auf. Den die Bank offenbar dringend beseitigen möchte.
Eines der wenigen ausländischen Blätter, die sich der Jubelarie um die italienische Verfassungsreform verweigern, ist der wirtschaftsliberale britische Economist. Er rät den Italienern, mit Nein zu stimmen, weil die geplanten Reformen die Schaffung eines „starken Mannes am Ruder“ zur Folge hätten – was in einem Land, das bereits Mussolini und Berlusconi hervorgebracht hat, nichts Gutes verheiße. Gewinnt Renzi die Volksabstimmung am Sonntag, wäre er der nächste starke Mann.