Ein Freund, ein guter Freund … daran mangelt es Matteo Renzi in der italienischen und, via copy&paste, deutschen Presse wahrlich nicht. Nahezu täglich lese ich Weltuntergangsszenarien, die eintreten würden, falls Matteo Renzi seine Volksabstimmung am 4. Dezember nicht gewinnen sollte: Eine Eiszeit wird ausbrechen, die Vögel werden tot vom Himmel fallen, Überschwemmungen, Hungersnöte, falls die notorisch unbelehrbaren Italiener nicht so wählen, wie es Matteo Renzi und seine Freunde bestimmt haben.
Das Problem ist nur, dass keinem deutschen Leser erklärt wird, was sich hinter dieser Verfassungsreform verbirgt – und wie die Argumente die Gegner der Verfassungsreform lauten. Deshalb dachte ich, dass es vielleicht ganz interessant sein könnte, dies mal zu erklären.
Hier die Kurzfassung:
Als Gründe, FÜR die Verfassungsreform zu stimmen, wird darauf hingewiesen, dass die Abschaffung des Senats Ersparnisse bringen und zu einer Beschleunigung der Regierungsgeschäfte führen würde.
Leider trifft das nicht zu: Nicht der Senat wird abgeschafft, sondern die Möglichkeit, die Senatoren direkt zu wählen.
Die Verfassungsreform beschleunigt auch nicht die Regierungsgeschäfte: Der Senat existiert weiterhin, nur nicht in der ursprünglichen Form: Im „neuen“ Senat sitzen Bürgermeister und regionale Abgeordnete, die nicht gewählt, sondern von den Parteien bestimmt werden und die nach wie vor ihre Zustimmung zu den Gesetzen geben müssen – was zwar nur noch eine Formalität ist, weil die Zustimmung sicher ist, aber dennoch Zeit kostet.
Wie der italienische Rechnungshof ausgerechnet hat, wird es auch nicht billiger: Durch die Reform würden weniger als 40 Millionen Euro gespart – das Gleiche wäre erreicht worden, wenn man den Senatoren 10 Prozent der Bezüge gekürzt hätte, ohne dafür die Verfassung anrühren zu müssen.
Und hier die Langfassung:
- Der „neue“ Senat wird aus Senatoren bestehen, die nicht von den Wählern gewählt, sondern von den Parteien bestimmt werden. Ist also kein Gegengewicht mehr zum Parlament. Dadurch wird die Mitbestimmungsmöglichkeit der Wähler an politischen Entscheidungen eingeschränkt.
- Die Verfassungsreform wurde von einer parlamentarischen Mehrheit bestimmt, die eigentlich eine Minderheit ist (Die Abgeordneten wurden durch ein Wahlrecht gewählt, das vom obersten Verfassungsgericht als nicht verfassungskonform erklärt wurde: dieses Wahlrecht, auch porcellum, Schweinerei genannt, sieht vor, dass Parteien oder Koalitionen mit einem „Mehrheitsbonus“ belohnt werden, sobald sie 30 Prozent erreichen, in diesem Fall war das die Koalition aus PD, Forza Italia et alii)
- Die Verfassungsreform wurde dank gewiefter Erpressungsmanöver und parlamentarischen Wendehälsen zur Zustimmung gebracht: In den letzten zwei Jahren kam es im italienischen Parlament zu 325 Parteiwechseln von 246 Politikern.
- Die Ersparnis durch den „neuen“ Senat ist lächerlich gering: Der ganze Senat kostet 540 Millionen Euro pro Jahr. Durch die Reform würden weniger als 40 Millionen Euro gespart – das Gleiche wäre erreicht worden, wenn man den Senatoren 10 Prozent der Bezüge gekürzt hätte, ohne dafür die Verfassung anrühren zu müssen
- Die Verfassungsreform beglückt eine Kategorie mit parlamentarischer Immunität, die ohne diese Reform nicht in diesen Genuss gekommen wären: Der neue Senat wird aus 21 Bürgermeistern, 74 regionalen Abgeordneten und 5 Vertretern des Quirinalspalastes bestehen. Der venezianische Bürgermeister Orsoni beispielsweise, der gegenwärtig wegen des Schmiergeldskandals der venezianischen Hochwasserschleuse vor Gericht steht, hätte gar nicht verklagt werden können.
- Die vermeintliche „Beschleunigung“ sieht so aus, dass jedes Gesetz noch durch 10 (zehn) neue Genehmigungsverfahren muss, 22 (zweiundzwanzig) Gesetzesnormen benötigen nach wie vor die Zustimmung von Parlament und Senat, was selbst bei kompletter Gleichschaltung von Parlament und Senat seine Zeit braucht.
- Die „neuen“ Senatoren sind part-time-Senatoren, die sich zu ihrer Arbeit als Bürgermeister, Regionalabgeordnete auch noch die Arbeit als Senatoren ausführen müssen – was nicht nur eine Mehrbelastung an Arbeit und Kosten (für Transport&Hotels) darstellt, sondern auch eine Schwächung ihres Engagements für ihre Städte und Regionen.
- Dank der Verfassungsreform und des neuen Wahlrechts Italicum (das Italicum enthält alle Ferkeleien des alten Wahlgesetzes Porcellum: Auch weiterhin können die Italiener keine Kandidaten, sondern nur Parteien wählen – die Katze im Sack, weil es die Parteien sind, die nach den Wahlen jeden, der ihnen genehm ist, zu Abgeordneten ernennen. Und, weil es egal ist, wie viele Stimmen eine Partei im ersten Wahlgang erreicht, könnte sie, falls sie im zweiten Wahlgang siegt, „durchregieren“, obwohl hinter ihr nur 20 Prozent der Wähler stehen), werden im neuen Parlament mehrheitlich Abgeordnete sitzen, die nicht von den Bürgern gewählt, sondern von der herrschenden politischen Kaste bestimmt werden: Zwei Drittel der Abgeordneten im Parlament sind Spitzenkandidaten ohne Direktmandat (Listenkandidaten), die Senatoren werden von den Regionalräten und vom italienischen Präsidenten ausgewählt.
- Dank der Verbindung von Verfassungsreform und neuem Wahlrecht Italicum kann der Ministerpräsident als Staatspräsidenten denjenigen ernennen, der ihm genehm ist, er kann die Mitglieder des obersten Richterrats und des Verfassungsgerichtshofs bestimmen – und, nicht zuletzt auch den Verwaltungsrat der RAI.
- Dank der Verbindung von Verfassungsreform und neuem Wahlrecht Italicum kann der Ministerpräsident die Verfassung jedes Mal ändern, wenn es ihm in den Sinn kommt. Sein Amt hätte eine Macht, die mit einer parlamentarischen Republik, so wie sie im ersten Teil der italienischen Verfassung definiert wird, nicht vereinbar ist.
Kurz: Von dieser Machtfülle hätte Berlusconi geträumt. Vor zehn Jahren wurde von der Berlusconi-Regierung ein ähnlicher Reformvorschlag gemacht – und von den italienischen Bürgern in einer Volksabstimmung abgelehnt. Die damals in der (Schein-) Opposition befindliche PD geißelte Berlusconis Verfassungsreform als gefährlich – um heute eine ähnliche Reform durchzudrücken. Nach dem Motto: Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?
Ein Kind würde das Ziel von Renzis Verfassungsreform in einem Satz so erklären: Einer will der Bestimmer sein.
Wer das Ganze auf Italienisch nachlesen will, kann das auf der Seite ragioni per il No tun. Hier auch eine Initiative der Tageszeitung Il Fatto Quotidiano zum #IovotoNo