Palermo Connection und kein Ende.

Ich erinnere mich an diese Zeit wie gestern. In den Monaten kurz nach den Attentaten 1992 auf Falcone und Borsellino war ich immer wieder auf Sizilien, um Geschichten zu recherchieren. Im Mai 1993 führte ich  in Palermo ein Interview mit Carla Cottone, der Schwiegertochter eines der mächtigsten Paten von Palermo, Francesco Madonia, der mit seinen vier Söhnen den Clan von Resuttana beherrschte. Sie war kurz zuvor auf einer sogenannten Goodwilltour unter anderem in der Talkshow von Maurizio Costanzo aufgetreten. Es war das erste Mal, dass sich eine Frau einer der mächtigsten Mafiafamilien Siziliens öffentlich zu Wort meldete. Allerdings nicht, um die Mafia zu verdammen, wie es der Gastgeber der Talkshow gehofft hatte. Sondern um die Öffentlichkeit von dem Justizirrtum zu überzeugen, dem ihr Mann Aldo zum Opfer gefallen sei. Am Tag meiner Begegnung mit Carla Cottone wurde auf Maurizio Costanzo ein Bombenattentat verübt. Costanzo und seine Frau überlebten knapp. Die Bombe war explodiert, kurz bevor der Wagen die Stelle passierte.

Kurz darauf war ich wieder in Sizilien, um die Recherchen für mein Buch über Rita Atria zu beenden. Am 27. Juli kam ich zurück nach Venedig. Als ich abends zum Essen ging, traf ich auf der Rialtobrücke einen Freund, der mir verstört davon erzählte, dass in Mailand und in Rom Bomben hochgegangen waren. Und dass im Palazzo Chigi, dem Sitz des italienischen Ministerpräsidenten, die Telefonlinien ausgefallen waren.

Es war das, was man später die „Strategie der Spannung“ nennen sollte.

Was so fern erscheint, bestimmt noch heute die italienische Politik. Salvatore Borsellino nannte es die „Erbsünde der italienischen Republik“: die „Trattativa“ genannten Verhandlungen zwischen der Mafia und Teilen des italienischen Staates, die seinen Bruder, den Antimafia-Staatsanwalt Paolo Borsellino, und seinem Kollegen Giovanni Falcone 1992 das Leben gekostet haben. Der Prozess um die Hintergründe dieses Deals läuft in Palermo seit 2013. Mehr dazu auch hier und hier und überhaupt in meinem Blog.

Um diese Erbsünde und die damit verbundenen Fragen kreist in Italien alles: Wer stahl die rote Agenda Borsellinos aus den noch rauchenden Trümmern? Warum wurde das Versteck des Bosses Totò Riina nach seiner Verhaftung nicht von den Carabinieri durchsucht, sondern den Mafiosi Zeit gegeben, es besenrein hinterlassen? Warum wurden die Verhaftungen des Bosses Bernardo Provenzano und der mit ihm verbündeten Mafiosi jahrzehntelang vereitelt? Warum wurden die 1993 gestellten Forderungen der Mafiosi (Ende der Hochsicherheitshaft, Schließung der Hochsicherheitsgefängnisse, Ende der Kronzeugenregelung) Punkt für Punkt erfüllt? Wie ist Berlusconis wundersamer, schneller Wahlsieg zu erklären, seine jahrzehntelange Herrschaft an der Seite einer Opposition, die keine war?

Weil man sich wieder arrangiert hatte, zwischen der Mafia und dem Staat. Ein Arrangement, das bis heute andauert und sich bewährt.

In der letzten Woche wurde der italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano zu den Hintergründen der „Trattativa“ als Zeuge vernommen. Napolitano hatte sich ausbedungen, in seiner Residenz, dem römischen Quirinalspalast, auszusagen. Zu diesem Zweck musste der Palermitanische Gerichtshof, die Staatsanwälte und die Anwälte der Angeklagten (Mafiabosse, hochrangige Staatsbeamte und ehemalige Minister) nach Rom anreisen, wo Napolitano dafür gesorgt hatte, dass seine Vernehmung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. In einem Saal ohne Fenster, der „Sala Oscura„. Die Journalisten standen draußen vor dem Palast Spalier und machten das, was Journalisten immer tun, wenn sie die Zeit totschlagen müssen: Sie interviewten sich gegenseitig.Und drinnen bestätigte Napolitano, der damals Parlamentspräsident war, dass sich Protagonisten die italienischen Politik damals sehr wohl darüber bewusst waren, dass die Mafia, genauer die Corleonesen unter Toto Riina, versuchte, den italienischen Staat zu erpressen.

Diese schöne Fabel vom Staat-und-Anti-Staat – auf der einen Seite die Guten und auf der anderen die Bösen – entspricht aber nicht ganz der Wirklichkeit. Die Mafiosi hatten nichts anderes getan als normale Geschäftsleute auch: Sie klagten ihren Deal ein. Der Deal war: Wir geben Euch Wählerstimmen. Und ihr gebt uns dafür Straffreiheit. Ein Deal, der sich seit Jahrzehnten bewährt hatte. Und der die Democrazia Cristiana mit Andreotti über Jahrzehnte an der Macht gehalten hatte.

Aber dann war das Unvorhersehbare passiert. Das Urteil des Maxiprozesses (geführt von Falcone und Borsellino) gegen 474 Bosse war nicht wie erwartet aufgehoben, sondern bestätigt worden. Über alle Instanzen hinweg. Der Korruptionsskandal hatte das alte Parteiensystem hinweggefegt. Und die Mauer war gefallen. Die Kommunistische Partei war kein Feindbild mehr. Die Politiker hatten nicht geliefert. Also wurde Salvatore Lima, Andreottis Statthalter ermordet. Und die anderen Politiker, etwa der damalige Innenminister Nicola Mancino, wussten, dass die Uhr tickte. Deshalb taten sie alles dafür, die Mafiosi so schnell wie möglich wieder zufrieden zu stellen. Man begann zu verhandeln. Und Giovanni Falcone und Paolo Borsellino wurden geopfert.

*

Aufgrund der Aussage des Präsidenten kamen selbst die liebedienerischsten italienischen Medien nicht mehr darum herum, den Prozess um die Trattativa zur Kenntnis zu nehmen – den sie seit seinem Beginn mit Kräften zu ignorieren, diffamieren und diskreditieren versuchen. Ach Gott, hatte es geheißen, was soll schon dabei herauskommen, der Präsident hat doch bereits gesagt, dass er nichts weiß – zu den Hintergründen des, wie so schön betont wird, „angeblichen“ Deals zwischen dem italienischen Staat und der Mafia. Noch am Tag der Vernehmung von Napolitano überboten sich die medialen Hofschranzen der italienischen Politik darin, die Aussage als „überflüssig“ und „nichtig“ zu bezeichnen, Palermos Staatsanwälte würden das Amt des höchsten Repräsentanten des italienischen Staates in den Dreck ziehen – und als selbst das nichts mehr half, wurde ein U-Turn eingelegt: Kommando zurück! Wir sind jetzt alle dafür. Ja, wir fanden es auch und schon immer super, dass der Staatspräsident aussagt, ja, weil … ja, die Pressefreiheit … und die Demokratie … und der Rechtsstaat … und überhaupt war es ja notwendig und im Grunde auch staatstragend und staatserhaltend, mit der Mafia zu verhandeln, uns blieb doch gar nichts anderes übrig!

Für den Prozess war diese Aussage sehr wichtig. Und keineswegs so selbstverständlich, wie es die Einheitspresse jetzt darzustellen versucht. Denn damals hatte niemand zugegeben, dass man ganz genau wusste, wer Urheber dieser Bombenattentate war: „Terroristen“ hatte es geheißen, verrückte Einzeltäter, „Falange armata“, vielleicht wildgewordene Araber, wir wissen nix. Und dann hatten die politischen Protagonisten jener Zeit entweder jahrzehntelang geschwiegen oder sich praktischerweise ins Jenseits verabschiedet. Oder beides.

Notwendig war Napolitanos Aussage auch deshalb, weil sich der ehemalige Innenminister Mancino und Angeklagter des Prozesses über die Trattativa an keinen Geringeren als an Napolitano gewendet hatte, um seine Aussage zu verhindern. Als das  bekannt wurde, machte der Präsident nicht unbedingt eine gute Figur. Der Rechtsberater des Präsidenten, Loris D’Ambrosio, reichte gar seinen Rücktritt ein. Und schrieb in seinem Brief, dass er befürchte, in der Zeit der Bombenattentate ein „nutzloser Schreiber unaussprechlicher Pakte“ gewesen zu sein. Kurz darauf war er tot. Herzinfarkt. Eine Autopsie wurde nicht verlangt. Das nur nebenbei. Und der Präsident sorgte mit einem gewaltigen juristischen Aufwand dafür, dass seine – zufällig abgehörten  – Telefonate mit Mancino vernichtet wurden. Und nicht, wie in Italien üblich, zu den Gerichtsakten gehören.

Natürlich wollten die Staatsanwälte von Napolitano auch wissen, was denn Loris D’Ambrosio mit den „unaussprechlichen Pakten“ gemeint haben könnte. Napolitano sagte, er wisse es nicht. Er habe nicht nachgefragt.

Die Palermo Connection schreibt sich sozusagen stündlich weiter. Was schön ist. Und schrecklich zugleich.