Die Lagune ist graugrün, und eine fahle Sonne steht über uns, wie durch dünne Milchglasscheiben gefiltert. Sardinenschwärme springen silbrig glitzernd aus dem Wasser, und Alberto sagt: Das hier ist der Bauch von Venedig.
Alberto ist Fischer und hat sein Leben in der Lagune von Venedig verbracht, er sitzt am Heck seines Bootes, gewaltig und tätowiert und steuert auf Poveglia zu, jene Insel, um die viele Venezianer derzeit so erbittert kämpfen wie um ein Familienerbstück.
Erst am Abend zuvor haben sich Mitglieder der Bürgerinitiative „Poveglia per tutti“ (Poveglia für alle) in der Kirche von San Leonardo getroffen, um zu diskutieren, wie es weitergehen soll, nachdem Poveglia vom italienischen Staat wie eine antike Kommode an den Meistbietenden versteigert wurde: an den Unternehmer Luigi Brugnaro, der für 513 000 Euro, dem Preis einer bescheidenen Zweizimmerwohnung in Venedig, den Zuschlag erhielt: Kein schlechter Deal für eine sieben Hektar große Insel, deren Fundamente erst vor kurzem vom italienischen Staat für 20 Millionen Euro neu befestigt wurden.
Einziger Konkurrent war die Bürgerinitiative „Poveglia per tutti“, die nur knapp unterlag – obwohl sie es dank einer aufsehenerregenden Crowdfunding-Aktion schaffte, innerhalb von nur drei Wochen fast eine halbe Million Euro aufzutreiben. In wirtschaftlichenZeiten wie diesen ein kleines Wunder. Entstanden ist die Widerstandszelle auf der Insel Giudecca, anfangs bestand sie aus zwanzig Architekten, Rechtsanwälten, Informatikern, Städteplanern und Steuerberatern – heute zählt sie 4328 Mitglieder: Venezianer und Venedig-Liebhaber aus der ganzen Welt, die sich noch nicht geschlagen geben wollen.
Der „Demanio“, die staatliche Immobilienagentur, die Poveglia zum Verkauf anbietet, wird erst am 13. Juni bekannt geben, ob sie die 513 000 Euro als Verkaufspreis für angemessen hält oder nicht. Danach wird sich Poveglias Schicksal entscheiden: Luxushotel? Spekulationsobjekt? Oder Zukunftsprojekt venezianicher Bürger, Modell für ökologisch wertvollen Tourismus in der Lagune? Sollte der Unternehmer Brugnaro den Zuschlag bekommen, kann die Stadt Venedig noch ihr Vorkaufsrecht ausüben – wobei sich nicht wenige fragen, warum sie das nicht bereits vor der Auktion tat.
Kleine weiße Reihervögel, Garzette genannt, fliegen hoch, als wir an Poveglia anlegen, die zur Geisterinsel wurde, seit dem die Menschen sie Ende der 1970er Jahre verließen. Jahrhundertelang wurde Poveglia als Quarantänestation genutzt, ein marmorner Gedenkstein aus dem Jahr 1793 erinnert noch an die Toten aus Pestzeiten. Zuletzt wurden hier Alte und Sieche beherbergt, im ehemaligen Krankenhaus wuchern Brombeerbüsche zwischen verrosteten Doppelstockbetten. Poveglia ist ein verwunschener Ort, bewacht von keifenden Möwen, verschlungen von undurchdringlichem Grün, in dem Eidechsen rascheln. Auf den Ufermauern haben Lagunenfischer ihre mit Algen verklebten Reusen und Netze zum Trocknen ausgelegt.
Als ein Motorboot in James-Bond-Manier an uns vorbeirast, bringt seine gewaltige Bugwelle Albertos Boot fast zum Kentern. Geld, Geld, Geld, ruft Alberto ihnen nach, denn die Motorboote haben den Lagunengrund zerstört. Um Geld geht es auch dem italienischen Staat, der in Alles-muss-raus-Furor seine Kulturgüter verschleudert. Als Berlusconis Wirtschaftsminister Tremonti 2002 ein Gesetz einbrachte, das vorsah, den staatlichen italienischen Kulturbesitz in einen gewaltigen Immobilienfonds zu verwandeln, titelte die Repubblica noch empört: „Bella Italia stellt sich zum Verkauf!“ und beklagte, dass die Regierung Berlusconi in den italienischen Kulturgütern das „italienische Erdöl“ wittere. Heute wird der Verkauf von Kulturgütern in parteiübergreifender Harmonie von rechts bis links abgewickelt.
Lorenzo Pesana, einer der Gründer von „Poveglia per tutti“ sieht in dem Kampf um die Insel ein Zeichen der Veränderung des italienischen Zeitgeistes, der den Herrschenden in Italien derzeit wie ein eisiger Nordwind ins Gesicht bläst: „Eine staatliche Immobilienagentur, die staatliche Güter verkauft, ist verfassungsfeindlich. Ein Gutsverwalter kann schließlich auch nicht den Bauernhof verkaufen, auf dem er arbeitet.“ Dank der renitenten Venezianer erfuhr die Welt, dass die Inseln der venezianische Lagune zu Spekulationsobjekten wurden: San Clemente wurde an Benetton verhökert, die dort glücklos das Luxushotel „San Clemente Palace“ einrichteten und es schließlich an einen türkischen Investor verkauften – noch stehen die Gebäude leer. San Biagio, die ehemalige Müllinsel, soll zum Vergnügungspark werden, für San Sessola wurde bereits zum dritten Mal die Eröffnung eines Marriott-Hotels angekündigt, die kleine Insel Crevan wurde für 2 Millionen Euro abgestoßen und steht nun für 12 Millionen zum Verkauf, Santa Maria della Grazia sollte für mehr als 10 Millionen Euro an die Unternehmensgruppe Stefanel verkauft werden, das Ende steht noch aus.
Der Ausverkauf Venedigs begann schon Mitte der 1990er Jahre, als der „Philosophenbürgermeister“ und ehemalige Kommunist Cacciari die Segnungen des freien Marktes entdeckte, nachzulesen in dem Werk „Privatizzare Venezia“, in dem Cacciari bereits 1995 garantierte, Investoren für ihre Projekte sämtliche Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Sein Nachfolger Orsoni praktizierte dies zuletzt sehr erfolgreich bei dem Fondaco dei tedeschi: Die einstige venezianische Hauptpost wurde für 53 Millionen Euro an die Benettons verkauft, die das Renaissancegebäude nun in ein Einkaufszentrum umwandeln. Der Investor Brugnaro kündigte bereits an, die öffentliche Nutzung von Poveglia auch weiterhin zu garantieren – was in Venedig nur Hohn erntet. Auch für den Fondaco dei Tedeschi wurde Raum für die öffentliche Nutzung garantiert: Es sind zwei öffentliche Toiletten.
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