Die Zukunft Venedigs

 

 

Venedig sei eine Jungfrau, die Vergewaltigungsfantasien bei einem Don Giovanni auslöse, sagte der Kunsthistoriker Salvatore Settis. Als Einstimmung für seinen Vortrag über die Zukunft Venedigs waren die Hochwassersirenen zu hören – wer gekommen war, hatte in einer Plastiktüte auch seine Gummistiefel mitgebracht. Wie Settis ausführte, ist das Hochwasser jedoch nur eine der Bedrohungen, der Venedig ausgesetzt ist, viel mehr gehe es den Barbaren des Neo-Liberalismus darum, Venedigs Einzigartigkeit zu beseitigen.

Der Vortrag fand in dem Ateneo Veneto statt, dessen Aula Magna mitsamt seiner Pilaster, Marmorkapitelle und Deckengemälden von Palma dem Jüngeren, den Gemälden von Veronese, Tintoretto und Pietro Longhi immer noch so aussieht, als würden sich gleich die vermummten Brüder der Bruderschaft von San Fantin hier treffen: Im Ateneo Veneto hatte einst die Bruderschaft der „Gehenkten“ ihren Sitz, die „Scuola dei Picai“, wie sie auf Venezianisch genannt wurde, die in Venedig dafür berühmt war, Todgeweihte auf ihrem letzten Weg zu begleiten, ihnen Trost zuzusprechen, bevor sie zwischen den Blutsäulen auf dem Markusplatz geköpft und ihr Körper danach viergeteilt wurde. So viel zu Venedig, der „Stadt der Liebenden“.

Als Settis sprach, saßen im Publikum nicht die üblichen fünf venezianischen Damen im Nerz, die sich einen Vortrag über den Einfluss von Venedig auf das Werk des Malers Antonello di Messina anhören, sondern all diejenigen, die für Venedigs Erhalt kämpfen: Rentner, die gegen den Ausverkauf des Lido protestieren, junge Mädchen, die zum NO GRANDI NAVI-Komittee gehören, das im September eine kleine, feine Seeschlacht  gegen die Kreuzfahrtschiffe in Venedig geführt hat, die Anhänger von Italia Nostra, der italienischen Organisation zum Schutz der Kulturgüter – kurz: all diejenigen in Venedig, die sich der Barbarei widersetzen.

Salvatore Settis (nur der Vollständigkeit halber: Settis ist Archäologe, Kunsthistoriker und Jurist – und nicht, wie auf der deutschen Wikipedia-Seite steht, Geschichtswissenschaftler) ist einer der wenigen Intellektuellen, der seine Stimme gegen den Ausverkauf der italienischen Kulturgüter erhoben hat – er hat gegen die Zementierung der Landschaft protestiert und kämpft  voller Leidenschaft gegen den Niedergang der historischen Altstädte.

Als jüngstes Beispiel für die Verschandelung Venedigs nannte Settis das Projekt des sogenannten „Torre Cardin“, einem 250 Meter hohen Turm, der nun auf dem Gelände der Petrochemieanlage in Marghera entstehen soll, voller Appartements, Hängegärten, 5-Sterne-Hotels, Theatern, Kinos, Kongress- und Wellnesscentern und Panoramarestaurants: Der 90jährige Modeschöpfer Pierre Cardin, geboren als Pietro Cardin unweit von Treviso, möchte am Ende seines langen Lebens endlich auf Venedig herabblicken – von einer überdimensionalen Blumenvase (der Entwurf des Wunderwerks beruht auf der Diplomarbeit des Neffen von Cardin), dem  „Palais de Lumière“, einem 1,5 Milliarden Euro teuren Turm von Babel. Ein Plan, der die Stadt und die Provinz Venedig keineswegs erschaudern ließ, sondern sie angesichts der 45 Millionen Euro (plus 80 Millionen Steuereinnahmen), die der Turm in die Kassen der notorisch klammen Stadt spülen würde, in einen Extasy-Taumel versetzte (O-Ton Ex-Bürgermeister Cacciari: „Einem geschenktem Gaul schaut man nicht ins Maul“). Selbst die italienische Flugaufsicht mag plötzlich kein Hindernis mehr in dem Turm sehen.

Wie Settis betonte, geht es nicht nur um Venedigs Einzigartigkeit. Es geht vielmehr darum, die Disneyfizierung der Städte aufzuhalten – denn angesichts der leeren Haushaltskassen gibt es keine Schamschwellen mehr.

 

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