Soeben ist in Italien „Rita Atria“ erschienen. Mein erstes Buch. Es war eine eigenartige Erfahrung, dieses Buch nach so langer Zeit noch mal zu lesen. Hier ist das Vorwort für die italienische Ausgabe:
„Rita Atria“ ist mein erstes Buch. Ich hatte Angst, es wieder zu lesen. Ich hatte Angst, zu entdecken, dass es mit der Wirklichkeit von heute nicht standhält. Ich hatte Angst, eine Welt zu entdecken, die nichts mehr mit dem Italien von heute zu tun hat. Als ich Ritas Geschichte dann mit dem Abstand von fast zwanzig Jahren wieder las, hat mich erschreckt, wie gegenwärtig sie auch heute noch ist. So weit, dass ich mir fast gewünscht hätte, am Ende von Ritas Geschichte sagen zu können: Gott sei Dank hat sich heute alles verändert! Unfassbar, wie sehr sich Italien seither gewandelt hat! Ich wünschte mir, in einem Italien zu leben, das mit jenem Land des Jahres 1992 nichts mehr zu tun hat, in dem die beiden Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino von der Mafia in die Luft gesprengt wurden. Ich wünschte mir, dass die Geschichte von Rita Atria zur Historie geronnen wäre: Die Geschichte eines mutigen, jungen Mädchens, das zum Vorbild für viele geworden wäre. Mafiaaussteiger, die immer mehr geworden wären – bis sie das Netz des organisierten Verbrechens, das dieses Land stranguliert, zerrissen hätten.
Leider ist das Gegenteil der Fall. Es lohnt sich immer weniger, der Mafia den Rücken zu kehren, denn das Kronzeugengesetz, die schärfste Waffe im Kampf gegen den Krebs, der Italien fast vollständig aufgefressen hat, wurde unschädlich gemacht. Es ist eines von vielen Antimafiagesetzen, die nach und nach ihrer Wirksamkeit beraubt wurden. Heute gibt es kaum noch Mafiaaussteiger, und die wenigen, die es gibt, fühlen sich immer isolierter.
Und den wenigen „Augenzeugen der Justiz“ – Menschen wie Piera Aiello und Rita Atria, die den Mut haben, über die Mafia in ihrem nächsten Umfeld auszusagen, wird dieser Mut nicht belohnt. Als ich mein Buch im Jahr 1993 schrieb, galten alle Menschen, die Aussagen über die Mafia gemacht haben, noch unterschiedslos als „Mitarbeiter der Justiz“ (collaboratori). Erst im Jahr 2001 wurde zwischen abtrünnigen Mafiosi und Menschen wie Rita und Piera Aiello unterschieden, die fortan „Augenzeugen der Justiz“ (testimoni di giustizia) genannt wurden. Menschen, die sich nichts zuschulde haben kommen lassen – außer einem ausgeprägten Glauben an Wahrheit und Gerechtigkeit.
Fast mutet dieser Glauben wie eine Schuld an: Denn während die abtrünnigen Mafiosi immerhin mit einem Straferlass belohnt werden – so gering der inzwischen auch geworden ist – gibt es wenig Anerkennung für die Leistung der „Augenzeugen der Justiz“. Vielmehr werden sie für ihren Glauben an Wahrheit und Aufrichtigkeit bestraft: Wie Piera Aiello und Rita Atria müssen sie ihre Heimat und ihre Familien verlassen, sie müssen unter falschem Namen leben und werden oft schlecht beschützt. Der italienische Staat, genauer gesagt: das für „Augenzeugen der Justiz“ zuständige Innenministerium, nutzt ihre Aussagen. Und lässt sie, nachdem sie ihre Aussagen gemacht haben, oft fallen.
Piera Aiello hat für ihre Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe einen hohen Preis zahlen müssen. Sie muss heute noch versteckt leben, während die Täter von damals ihre Freiheit seit langem wieder genießen.
Ich danke Piera Aiello dafür, dass sie mir damals ihr Vertrauen geschenkt hat. Und das Vertrauen schenken ist hier ganz wörtlich gemeint: Piera Aiello wurde weder damals noch heute dafür entlohnt, mir ihre Erlebnisse zu erzählen. Sie hat ihre Geschichte uns allen geschenkt. Weil sie an Wahrheit und an Gerechtigkeit glaubt.
Immer noch.